Das Thema des Buches ist hochaktuell und brisant zugleich. Die Tatsache, dass zwei Abgeordnete des Landtages von Nordrhein-Westfalen und ein bekannter deutscher Schriftsteller grob fahrlässig - wenn nicht vorsätzlich - antisemitische Ressentiments bedienten, ließ und lässt aufmerken. So unterschiedlich das Genre auch sein mag, hier die Politik und dort die Kunst, so ist den Akteuren Jamal Karsli, Jürgen W. Möllemann und Martin Walser doch eines gemeinsam: Sie arbeiten mit den schablonenhaften „Bildern vom Juden“. Wer diese Botschaften in ihrer ganzen Tragweite entschlüsseln und dabei keine große Monographie bemühen möchte, sollte zu Wolfgang Benz` Studie greifen. Die thematische Bandbreite des kleinen Buches ist weit gespannt. Sie reicht vom Stereotyp des jüdischen Wucherers, über die jüdische Weltverschwörung bis zum Mythos des jüdischen Mädchens Anne Frank. Eine derartige Zusammenstellung – noch dazu in zehn Beiträgen – birgt zwangsläufig die Gefahr, dass bestimmte Punkte nur angerissen und nicht vertieft werden können. Dennoch überzeugt die komprimierte und prägnante Darstellung der Materie. Wie sehr, soll im folgenden an ausgewählten Kapiteln gezeigt werden.
Wolfgang Benz hat an den Anfang seines Werkes – statt einer Einleitung – eine kurze Abhandlung über antisemitische Bilder gestellt. Diese sind vielfältiger Gestalt und waren im Laufe der Jahrhunderte diversen Veränderungen unterworfen. Gespeist wurden sie zunächst durch den christlichen Antijudaismus. Die signifikanteste Darstellung dieser Epoche ist die Judensau. Seit dem 13. Jahrhundert diente sie als Figurenschmuck der Dome und Pfarrkirchen in Magdeburg, Wittenberg, Regensburg, Freising und der Rathäuser in Salzburg und Kelheim sowie an vielen anderen Orten. (S. 7) Mit dem Wandel zum rassistisch-völkischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert ging eine andere Metapher einher. Sie findet sich beispielsweise in Wilhelm Buschs humoristischer Bildergeschichte von „Plisch und Plum“. (S. 8) Die physische und damit verbunden charakterliche Beschreibung von Schmulchen Schievelbeiner setzte im wahrsten Sinne des Wortes Maßstäbe für Generationen. (S. 8) Dabei war Wilhelm Busch kein Einzelfall. Giftige und bösartige Bemerkungen finden sich auch bei Theodor Fontane, der nach einem Badeaufenthalt auf Norderney schrieb: „Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen oder wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren“ 1. Theodor Fontane bediente sich hier eines gängigen antisemitischen Klischees, dass von Wolfgang Benz in dem Anschlusskapitel über „Das Bild vom mächtigen und reichen Juden“ näher untersucht wird. (S. 13)
In groben Linien zeichnet der Verfasser zunächst die Entwicklungslinien dieses Stereotyps nach, das seine Ursache im mittelalterlichen Zinsverbot hatte. Diese Regelung verwehrte den Christen das Kreditgeschäft. Demgegenüber schienen die Juden als „Gottesmörder“ und gesellschaftliche Außenseiter für diese Tätigkeit geradezu prädestiniert zu sein (S. 14 f). Als sich jedoch im 13. Jahrhundert die christlichen Zinsrestriktionen lockerten, avancierten sie schnell zu unliebsamen Konkurrenten. Im Zuge dieses Verdrängungsmechanismus manifestierte sich das ambivalente Bild vom jüdischen Wucherer (S. 14). Zum einen wird damit die Bereitschaft verbunden, selbst dann noch gegen einen extrem hohen Zinssatz Geld zu verleihen, wenn christliche Kreditgeber das Geschäft abgelehnt hatten, getreu der Devise: „Wo niemand mehr borgen will, borgt noch der Jude“ 2. Zum anderen offenbart sich das Bild vom vermeintlich reichen Juden, denn nur wer bereits liquide ist, scheint es sich erlauben zu können ein derartig hohes Risiko einzugehen, ohne sich selber zu ruinieren. Die ganze definitorische Tragweite des Wuchers eröffnet sich freilich nach einem Blick in das heutige Strafgesetzbuch 3. Wucher ist ein Straftatbestand und der Wucherer ist ein Krimineller. Er nützt die Zwangslage, die Unerfahrenheit oder das mangelnde Urteilsvermögen seines unterlegenen Geschäftspartners aus, um sich rücksichtslos an ihm zu bereichern. Hinzu kommt, dass der Wucherer zumeist kein Affekttäter ist. Er wägt ab, bedenkt die Vor- und Nachteile und handelt planvoll überlegt, oder anders ausgedrückt: Die Tat setzt eine gewisse Intelligenz voraus, die bei Juden allerdings sofort in Verschlagenheit, Hochmütigkeit usw. umgedeutet wird. Reiht man diese Stereotypen aneinander und erweitert sie um die literarische Figur des hartherzigen Shylock (S. 16), so bietet sich einem das vermeintliche Bild eines Menschen, der über eine große Affinität zum Geld verfügt, sein Vermögen höchstwahrscheinlich nicht redlich erwarb und vor dessen heimtückischer Finesse man sich generell vorsehen muss. Aus dieser mehrfachen Stigmatisierung scheint es kein Entrinnen zu geben. Mehr noch: Wie Wolfgang Benz festhält, hat das Stereotyp vom reichen Juden die Katastrophe des europäischen Judentums überdauert (S. 25). Nach wie vor ist die Vorstellung, dass die Juden eher reich sind und nach Macht, Reichtum und Einfluss streben (wenn nicht gieren) weit verbreitet (S. 25). Angesichts dessen erscheint es nicht verwunderlich, dass der Bürgermeister von Korschenbroich am Niederrhein angesichts leerer Kassen im Jahre 1986 vorschlug, zur Sanierung des Haushalts „müsse man ein paar reiche Juden erschlagen“ (S. 26). Diese Äußerung löste jener Zeit eine große Empörung aus, woraufhin der Gemeindevorsteher sich damit entschuldigte, dass es sich um eine regional sprichwörtliche Redewendung handele (S. 26). Ganz davon einmal abgesehen, dass hier zu einem Gewaltverbrechen angestiftet wird, beinhaltet die Redensart darüber hinaus bereits einen Rechtfertigungsgrund, denn der Reichtum ist schließlich vom jüdischen Frevler durch Lug und Trug und somit letztlich auf Kosten der Christen unehrlich erworben worden.
Theodor Fontanes Bemerkungen lassen sich mühelos in den Kanon der antisemitischen Ressentiments des 19. Jahrhunderts einordnen. In jene Zeit fiel ferner das Konstrukt der jüdischen Weltverschwörung, das in den „Protokollen der Weisen von Zion“ (S. 27 f) seinen Niederschlag fand und sich - wie zu zeigen sein wird - bis zum heutigen Tage aus dem Denken mancher Zeitgenossen nicht verbannen lässt. Bereits die Vorstellung, dass sich im geheimnisvollen Dunkel einer Geheimgesellschaft alle hundert Jahre Vertreter der zwölf jüdischen Stämme zur nächtlichen Stunde auf dem Prager Judenfriedhof treffen, um Rat zu halten und die jüdische Welteroberung zu erörtern (S. 27), ist in ihrer Absurdität kaum zu übertreffen. Dass das Werk eine Fälschung ist, tat und tut seinem Erfolg seit über einem Jahrhundert keinen Abbruch (S. 41). Es basiert auf dem Gedanken einer weltumspannenden jüdischen Konspiration, einer Art Untergrundregierung, die mit Hilfe des Liberalismus und der Demokratie die Weltherrschaft an sich ziehen will (S. 30). Die hochgradige Wirkung dieser Schmähschrift basiert nicht zuletzt auf der Vermutung, dass die jüdische Geheimgesellschaft als Exponent der Gesamtheit aller Juden handelt. Damit war jeder Jude ein Teil des gefährlichen Komplotts und höchstwahrscheinlich im Dienste desselben tätig. Ohne Übertreibung kann man mit dem Verfasser festhalten, dass dieses Pamphlet zur schlimmsten Waffe des Antisemitismus aufstieg (S. 30). Daher war es ein Tabubruch ersten Ranges, als der Landtagsabgeordnete Jamal Karsli in einem Zeitungsinterview äußerte, dass die Menschen in Deutschland Angst hätten sich über Israel zu äußern, weil die zionistische Lobby weltweit agiere, den größten Teil der Medienmacht inne habe und letztlich bereits den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton durch die (jüdische) Agentin Monika Lewinsky in arge Bedrängnis gebracht hätte 4.
Ihren beschämenden Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung um Karslis Bemerkungen, als Jürgen W. Möllemann - immerhin ein gewählter Volksvertreter und der Stellvertretende Parteivorsitzende der FDP - dem Vize-Präsidenten des Zentralrats der Juden vorwarf, er sei durch seine intolerante und gehässige Art für die Förderung des Antisemitismus selber verantwortlich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt drängten sich Parallelen zum Berliner Antisemitismusstreit von 1879 geradezu auf, den der Autor in dem Kapitel „Judenfeindschaft als Zeitgeist. Theodor Fontane und die wilhelminische Gesellschaft“ darstellt (S. 57 f). Ausgelöst wurde dieser Disput durch den Historiker Heinrich von Treitschke. Er hatte sich gegen die von ihm befürchtete Masseneinwanderung von osteuropäischen Juden ausgesprochen und warf den deutschen Juden mangelnden Assimilationswillen vor (S. 63). Der Zenit der Konfrontation war erreicht, als Theodor Mommsen in den Streit eingriff. Er verwahrte sich dagegen, dass die Juden als Mitbürger zweiter Klasse betrachtet werden. Gleichwohl machte auch Theodor Mommsen eine Einschränkung, wie die liberale Vossische Zeitung betonte: “Mommsen führt dem Juden vor Augen, dass in mancher Beziehung auch er selbst eine Schuld trifft, wenn der christliche Deutsche ihm vielfach noch mit einem Gefühl der Fremdheit und Ungleichheit gegenübersteht. Die Gründe, aus welchen diese Stellung entstanden ist, sind genugsam betont: wenn sie sich nicht ändert, so haben es sich unsere jüdischen Mitbürger selbst durch ihre freiwillige Abgeschlossenheit, wenigstens zum großen Theile, zuzuschreiben“ 5. Vergleicht man die Vorwürfe, so wird man eine frappante Übereinstimmung feststellen können. In beiden Fällen sind es nämlich die Juden, die einen gütlichen Ausgleich verhindern und damit den Antisemitismus fördern, weil sie sich partout nicht ändern wollen.
Ungläubigkeit beschleicht den Leser nach dem Kapitel „Judenfeindschaft aus Abwehr. Aktualität und Tradition des Antisemitismus in der Schweiz“ (S. 96). Offenbar feierten dort speziell 1998 die Jahrhunderte lang tradierten „Bilder vom Juden“ fröhlich Urständ. So kostümierten sich bei einem Fastnachtumzug im Kanton Wallis Personen auf einem Wagen als orthodoxe Juden und tanzten auf einem Goldhaufen (S. 99). Im gleichen Jahr gab auf der Baseler Fastnacht eine Gruppe eine Vorstellung als „Vertreter des Jüdischen Weltkongresses“. Dabei brachten sie einen „Zeedel“ unter das Volk, der in haarsträubendem Baseldeutsch Verse enthielt, in dem die wesentlichen Merkmale des „auserwählten Volkes“ mit „Erpressen, Lügen, Drohen, Bescheißen“ angegeben wurden (S. 99). Das Gerichtsverfahren endete im Mai 1999 mit einem Freispruch für die 16 Angeklagten, weil sie sich an nichts erinnern konnten und daher kein Schuldiger im Sinne der Antisemitismusstrafnorm gefunden werden konnte (S. 100). Derartig offene Provokationen sind in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel. Gleichwohl: Es bedurfte dreier bayrischer Gerichtsinstanzen um die Äußerung des früheren Oberallgäuer Republikanerchefs Hermann Reichertz, dass der Stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden Michel Friedman ein „Zigeunerjude“ sei, strafrechtlich zu ahnden 6. Dass sich in diesem Zusammenhang die Berufungskammer des Landgerichts Kempten im Nirwana der grenzenlosen Auslegung verlor als sie urteilte, dass es sich bei der Äußerung „Zigeunerjude“ weder um einen Angriff gegen die Menschenwürde noch um eine Schmähkritik oder um eine Formalbeleidigung handele 7, sei hier nur am Rande bemerkt.
Zu den pointiertesten Beiträgen zählt das Kapitel über den „Mythos Anne Frank“ (S. 86). Hier bezieht Wolfgang Benz eine eindeutige und nicht minder engagierte Position: Das Hinterhaus in der Prinsengracht 263 sei zum Wallfahrts- bzw. Gnadenort wie Lourdes geworden und das Mädchen Anne Frank arriviere immer mehr zu einer Heldin wie Evita oder Diana (S. 91). Der Autor führt diese Entwicklung nicht zuletzt darauf zurück, dass dem Leser das Eigentliche erspart bliebe und die Leiden der Verfolgung in das Innenverhältnis der Gemeinschaft der acht Untergetauchten verlegt sei (S. 87). In diesem Kontext weist er – zu Recht – auf autobiographische Darstellungen hin, die in ihrer Authentizität beeindruckender sind, wie etwa „Weiter leben“ von Ruth Klüger 8. Sicherlich hat Anne Frank den Platz des „Opfers“ für alle Zeiten besetzt (S. 94) und man muß sich in der Tat fragen, ob das Andenken nicht vermarktet wird. Dennoch ist dem Autor in diesem Punkt nur teilweise zuzustimmen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil jede Generation das Tagebuch mit einem anderen (zusätzlichen) Wissen liest. Kein Heranwachsender der fünfziger Jahre konnte die Umstände unter denen Anne Frank zu Tode kam erahnen. Wenn jedoch der Verfasser – wiederum zu Recht – die Kraft und das Aufklärungspotential der Fernsehserie „Holocaust“ einerseits lobt (S. 55), dann muss er auch andererseits anerkennen, dass die meisten Jugendlichen diese oder andere Fernseh- bzw. Filmproduktionen wie etwa „Schindlers Liste“ oder „Das Leben ist schön“ gesehen haben dürften und damit zwangsläufig um das Ende von Anne Frank und die Wirklichkeit des Völkermordes Bescheid wissen sollten.
Nachtrag:
Ende Juni 2002 kündigte der Landtagsabgeordnete Jamal Karsli an, er werde den Präsidenten des Zentralrats der Juden Paul Spiegel und seinen Stellvertreter Michel Friedman wegen „Verleumdung und Ehrverletzung“ verklagen, weil diese ihm antisemitische Äußerungen vorgeworfen hätten 9. Angesichts dessen möchte man Wolfgang Benz´ Buch, das leicht lesbar und faktenreich informiert, zum Nachdenken anregt und sowohl den Laien als auch den Experten anspricht, eine große Leserschaft wünschen.
Anmerkungen:
1 Zitiert in: Michael Fleischer: Fontane auf Norderney, Norderney 1995, S. 84, zitiert nach: Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 9.
2 Rohrbacher, Stefan/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991, S. 120 ff.
3 § 291 Strafgesetzbuch, siehe auch weiterführend: Heil, Johannes/Bernd Wacker (Hrsg.): Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition, München 1997.
4 Junge Freiheit vom 3. Mai 2002: Jamal Karsli: „Fischer hat die Ideale der Grünen verraten“, vgl. http://www.jungefreiheit.de.
5 „Möllemann in der Schusslinie“, vgl. http://www.n-tv.de (vom 18.5.2002).
6 Vossische Zeitung, No. 345, 12. Dez. 1880 (Morgenausgabe), zitiert nach: Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 66.
7http://www.juedisches-archiv-chfrank.de/antisemit/zig-jud2.htm.
8http://www.juedisches-archiv-chfrank.de/antisemit/zig-jud2.htm.
8 Klüger, Ruth: Weiter leben: Eine Jugend, München 1994.
9 „Karsli kann´s nicht lassen“, vgl. http://www.spiegel-online.de (21.6.2002).