A. Leube u.a. (Hgg.): Prähistorie und Nationalsozialismus

Cover
Titel
Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 - 1945


Herausgeber
Leube, Achim; Hegewisch, Morten
Reihe
Studie zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 2
Erschienen
Heidelberg 2001: Synchron Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 677 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Freie Universität Berlin Fachbereich Geschichte

Die Prähistorie zur Zeit des Nationalsozialismus war und ist für die Ur- und Frühgeschichtsforschung ein problematisches Thema. Der ideologische Missbrach der prähistorischen Archäologie degradierte sie zu einem Werkzeug zur Begründung von Rassenüberlegenheit und Herrschaftsansprüchen im europäischen Raum, zu einer „Legitimationswissenschaft eines politischen Systems“. Darüber hinaus kämpft die Fachschaft mit ihrer bislang nur wenig erforschten Geburtszeit, in der ihr bereits, wie es einer ihrer Gründer Gustav Kossina formulierte, als „hervorragende nationale Wissenschaft“ eine deutliche Funktion zugeschrieben wurde.

Der Prozess wissenschaftlicher Selbstreflexion begann in den 1970er Jahren, nachdem es in der Nachkriegszeit erfolgreich gelungen war, einer Aufarbeitung der NS-Zeit aus dem Weg zu gehen und in den Jahren darauf eine Thematisierung zu vermeiden. Am Anfang dieser Entwicklung standen mit ihren noch heute richtungsweisenden Arbeiten Reinhard Bollmus (Das Amt Rosenberg und seine Gegner, 1970) und Michael H. Kater (Das „Ahnenerbe“ der SS. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Dritten Reichers, 1974). Seitdem ist viel geschehen und die Geschichte der Institutionen und den dazugehörigen Menschen aber auch die ideengeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen fanden erhöhte Aufmerksamkeit. Doch erst die Öffnung einer ganzen Reihe von Archiven nach der „Wende“ 1989 ermöglicht nun eine umfassende Aufarbeitung der Thematik.

Vor diesem Hintergrund fand im November 1998 auf Initiative von Achim Leube an der Humboldt-Universität zu Berlin eine international besetzte Tagung statt, deren Vorträge nun zu einem großen Teil in vorliegenden Band zusammengetragen wurden. Die Tagung trug den Titel „Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945“. Der zeitliche Fokus sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die so wichtige Zeit vor 1933 eine entsprechende Beachtung fand.
Der Band ist in sechs thematische Schwerpunkte gegliedert. Nach den einleitenden Worten des Herausgebers werden in der Eröffnung grundlegende Fragen zum Thema angesprochen. Unter anderen biete Johann Callmer einen Überblick über die Entwicklung des Faches, seine Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus und die daraus für die Forschung resultierenden Fragen und Methoden.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den ideologischen Ausgangspunkten. Der bereits erwähnte Reinhard Bollmus bilanziert anhand der in den letzten Jahren entstandenen Forschungsliteratur das Verhältnis zwischen dem „Amt Rosenberg“ mit dem alles polarisierenden Hans Reinerth und dem „Ahnenerbe“ der SS Heinrich Himmlers und die Einbindung der Prähistoriker in diese sich gegenseitig bekämpfenden Institutionen.

Gewinnbringend ist dieser Aufsatz am Anfang dieses Bandes besonders für ein grundlegendes Verständnis der beiden Organisationen, die die Prähistorie in der Zeit des Nationalsozialismus korsetartig einschlossen und zwei Lager von „Wissenschaftler“ bildeten. Mit den Grundzügen völkischer Rasseideologie beschäftigt sich daraufhin Uwe Puschner. In stringenter Form weis er den Nachweis zu führen, dass die völkische Weltanschauung bereits vor dem ersten Weltkrieg voll ausgebildet war und die Nationalsozialisten, dank der viertelhundertjährigen Agitation der Völkischen aus einem profunden „Arsenal“ einschlägiger Begriffe, Motive, Denkmuster und Feindbilder schöpfen konnten, was nicht zuletzt auch für die völkische Ur- und Vorgeschichtsfraktion den Boden im Nationalsozialismus bereitete und nach 1933 eine verstärkte Hinwendung der Prähistorie zum Rasseparadigma der neuen Herrscher zuließ. Dabei sei jedoch angemerkt, dass, wie der Autor bemerkt, die völkische keineswegs mit der nationalsozialistischen Bewegung gleichzustellen sei, sondern Kontinuitäten vor allem über Personen wie Heinrich Himmler oder Alfred Rosenberg zustande kamen.

Dass ideologiegeprägte Auseinandersetzungen um identitätsstiftende Theorien mit prähistorischem Hintergrund bereits lange vor Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, illustriert Ingo Wiwjorra anhand des Streits zwischen den Schlagworten „Ex oriente Lux“ und „Ex septentrione Lux“, der Idee, dass sich der Ursprungs- und Ausgangsort allen Kulturfortschritts entweder im Orient oder im europäischen Norden befände, womit eine angeblich herausragende pangermanischer Kulturleistung propagiert wurde. Henning Hassmann beschäftigt sich mit der Verbindung von Archäologie und Jugend im Dritten Reich, wobei er vor allem den Blick auf die Ur- und Frühgeschichte als Mittel der politisch-ideologischen Indoktrination von Kindern und Jugendlichen richtet und dabei neben Institutionen, wie der Schule auch Medien, wie Jugendromane, Filme und Sammelbilder auswertet. In eine ähnliche Richtung geht Martin Schmidt, der die Rolle musealer Vermittlung in der nationalsozialistischen Bildungspolitik anhand des Freilichtmuseums für deutsche Vorzeit in Oerlinghausen untersucht.

Der dritte Schwerpunkt des Bandes behandelt die Fachentwicklung und Forschungsgeschichte. Von grundlegendem Wert ist hierbei die Arbeit Wolfgang Papes, der die Entwicklung des wissenschaftlichen Faches für Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945 nachzeichnet. Dabei geht er Fragen der Ausbildung der Akademiker, der Einrichtung und der Anzahl von Lehrstühlen nach und verfolgt die Entwicklung von Promotionen, Habilitationen und Professorenernennungen, von Hochschulen, Universitäten und Lehrveranstaltungen. Untersucht werden auch Mitgliederentwicklungen von Angehörigen des Faches in der NSDAP (immerhin 85% ), in Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur und das zeitliche und geographische Formieren der Fraktionen deutscher Prähistoriker unter Himmlers „Ahnenerbe“ und Rosenbergs Kampfbund. Am Abschluss steht eine ernüchternde Bilanz über eine, nur von wenigen Ausnahmen abgesehen, ungebrochene personelle Kontinuität „hauptamtlicher“ Prähistoriker nach 1945.

Nach Papes Arbeit zur Fachentwicklung folgen Aufsätze einzelner exemplarischer Beispiele prähistorischer Forschergeschichte. Dietwulf Baatz gibt einen forschungsgeschichtlichen Überblick zur Limesforschung in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und Ute Halle illustriert anhand der Externsteine in der Nähe des Ortes Horn im Kreis Lippe die Entwicklung der Felsformation als Symbol germanophiler Interpretationen und als Spielball nationalsozialistischen Interessengerangels. Marion Bertram beleuchtet die Person Wilhelm Unverzagts, der als Direktor der Vorgeschichtlichen Abteilung des Museums für Völkerkunde der Staatlichen Museen zu Berlin 1936 in einen Streit mit dem Brandenburgischen Provinzialverband um die Neuordnung der brandenburgischen Bodendenkmalpflege geriet.

Michael Strobel untersucht Ausgrabungen des Reichbundes für Deutsche Vorgeschichte, wobei auch die württembergische Vorgeschichtsforschung zwischen 1933 und 1945 bedacht wird. Maria Magdalena Blombergowa rekonstruiert die propagandistische Verwendung archäologischer Funde bei der Umbenennung der Stadt Lodz in „Litzmannstadt“ 1940 und Sabine Heinz spürt den ur- und frühgeschichtlichen Erkenntnissen in den Arbeiten des Keltologen Julius Pokorny nach.

Das vierte Schwerpunktkapitel behandelt Forscherbiographien und Karriereprofile und beginnt mit einer eindrucksvollen Studie über Gustav Kossina von Heinz Grünert, dem es durch seine intensive Arbeit am Nachlass Kossinas gelingt, dessen tiefe Einbindung in vor allem völkische Organisation nachzuzeichnen und damit dem immanent großen Einfluss Kossinas auf diese Kreise und umgekehrt deutlich zu machen. Mit dem zweiten Protagonisten, der dem Leser in fast jedem Artikel dieses Bandes begegnet, beschäftigt sich Gunter Schöbel. Seine biographische Studie zu Hans Reinerth, der wie kein anderer, durch seine Macht, seine Ansprüche und sein Wesen die Prähistoriker im Nationalsozialismus für sich oder gegen sich einte, ist eine ausgewogene Darstellung von Reinerths Leben und Karriere als NS-Funktionär und vermittelt, da Reinerth 1990 verstarb, eine erste umfassende Wertung seiner Person. Reinerths polarisierendes Treiben weiter illustrierend, beschreibt daraufhin Günter Wegner die Auseinandersetzungen zwischen dem Prähistoriker Karl Hermann Jacob-Friese und Hans Reinerth.

Weitere biographische Studien folgen von Irene Ziehe über Hans Hahne, einem Vertreter völkischer Ur- und Frühgeschichte, von Veit Stürmer über Hans Schleif, dessen Karriere zwischen den Archäologischen Institut und dem Ahnenerbe der SS rekonstruiert wird und von Jörn Jacobs, der den Werdegang des Doktors für Vor- und Frühgeschichte Peter Paulsen im Nationalsozialismus als das Leben eine Opportunisten erklärt.

Der fünfte Teil des Bandes beschäftigt sich mit prähistorischer Forschung im Ausland zur Zeit des Dritten Reiches. Karla Motykova untersucht die Grabungen in Böhmen unter Berücksichtigung der tschechisch-deutschen Beziehung und Titus Kolnik die Entwicklung der slowakischen Forschung. Boguslaw Gediga, Magdalena Meczynska und Tadeus Makiewicz untersuchen die ur- und frühgeschichtlichen Forschungen in Breslau, Krakow und Poznan, während sich Vladimir I. Kulakow den Forschungen im Baltikum widmet.

Anja Heuss vermittelt das Bild deutscher „Raubgrabungen“ in der Ukraine und Martijn Eickhoff analysiert die politisch-gesellschaftliche Bedeutung der Archäologie während der deutschen Besetzung der Niederlande. Laurent Olivier beschäftigt sich mit den Verhältnissen in Frankreich, Jes Martens setzt sich mit dem Verhältnis zwischen „Nordische Archäologie“ und „Dritten Reich“ auseinander und Olav Sverre Johansen behandelt die archäologischen Tätigkeiten zwischen 1940 und 1945 in Norwegen. Diese Fülle ausländischer Beiträge verdeutliche, wie wichtig nicht nur eine deutsche Aufarbeitung des Faches ist, sondern das diese fachhistorische Herausforderung für die ganze europäische Prähistorie zutrifft.

Dem entsprechend spricht sich Magdalena Meczynska im letzten Teil des Bandes, der Bilanz und Ausblick darstellt, für eine konsequente zukünftige Zusammenarbeit europäischer Wissenschaftler aus. Neben den kritisch in die Zukunft verweisenden Anmerkungen zur Tagung von Timm Weski, sei zudem auf Martin Maischbergers Vorstellung des Projektes „Archives of European Archaeology“ (AREA) hingewiesen, dass sich als Netzwerk von Institutionen aus verschiedenen europäischen Ländern die Erforschung der Geschichte der Archäologie anhand archivischer Quellen zum Ziel gesetzt hat.

Der von Achim Leube herausgegebene Band ist sowohl eine Fundgrube der neuesten Forschung als auch ein wichtiger Schritt für die nachhaltigen Aufarbeitung der Geschichte des Faches für Ur- und Frühgeschichte sowohl in Deutschland als auch Europa. Die Masse der erbrachten Arbeit im Rahmen dieser Tagung zeigt ohnehin, dass die noch möglichen Felder zu leistender Forschung groß und weit sind und dazu noch viele Fragen offen. Der Band ist jedoch der lebendige Beweis einer vielfältigen, kritischen und im Fluss befindlichen Befragung einer Fachrichtung an sich selbst und damit mehr als gelungen.

Anmerkung:
Meyer, Hans, Zur Ur- und Frühgeschichte in Berlin, in: Achim Leube (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Morten Hegewisch, Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, S.11.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension