Im Zentrum Berlins, dort wo sich heute der Parkplatz des Martin-Gropius-Baus befindet, wurde im Jahr 1886 das Königliche Museum für Völkerkunde feierlich eröffnet. Die Verlegung des Ethnologischen Museums nach dem Zweiten Weltkrieg an den Stadtrand wird von den Ausstellungsmachern als räumliches Sinnbild gewertet. Doch dieser Tage müssten sich Anthropologie und Ethnographie eigentlich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen, in den Kulturwissenschaften werden sie als heimliche Leitdisziplinen gefeiert, so dass man mit hohen Erwartungen in dieses Randgebiet pilgert. Eine klare Antwort auf die Frage, die sich Ausstellung und Katalog im Titel gestellt haben, bietet Viola König in ihrem Prolog zum Begleitbuch nicht, sie überlässt das Problem dem Leser (15). Aber im Grunde handelt es sich um eine rhetorische Frage, denn schon der deutsche Entdecker Südamerikas, Alexander von Humboldt, der mit seiner Reise in den Jahren von 1799 bis 1804 den entscheidenden Anstoß für die wissenschaftliche Erkundung des Erdteils gab, war Forscher und Abenteurer zugleich, den ein an Wahn grenzender wissenschaftlicher Ehrgeiz durch Malariasümpfe und über Stromschnellen hinweg getrieben hat. Anita Hermannstädter stellt im Ausstellungskatalog zunächst naturkundliche Expeditionen vor, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Amazonas-Gebiet durchstreiften.
Als erste wissenschaftliche Abhandlung über das Leben brasilianischer Indianer, die Botokuden, gilt die Beschreibung, die Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied zu seiner Reise in den Jahren 1815-1817 verfasst hat. In einem Artikel über den Ethnologen Karl von den Steinen präsentiert Frau Hermannstädter dann zwei Expeditionen zum Rio Xingú, einem südlichen Zufluss des Amazonas, in den Jahren 1884 und 1887, die dem Berliner Völkerkundemuseum einen enormen Zuwachs an Ethnographica einbrachten. Im Mittelpunkt der Ausstellung aber stehen zwei Expeditionen aus den Jahren 1903-1905 und 1911-13, die Theodor Koch-Grünberg ins nördliche Amazonasgebiet geführt haben. In einem Brief vom Rio Negro berichtet der Forschungsreisende von einem „Leben voll Wildheit, voll Gefahren, - aber auch voll Reiz, voll Freiheit und Unternehmenslust!“ Die Ethnologie hatte sich zu der Disziplin entwickelt, die den Gegensatz zwischen einer Forschung am Schreibtisch, der in der Ausstellung übrigens auch seinen Platz hat, und dem Abenteuer der Reise aufgelöst hat in der Feldforschung. Die Attraktivität dieses Fachs besteht gerade darin, dass die akademischen Zwangsrituale zur Aufnahme in die Zunft der Ethnologen flankiert werden von Initiationsphasen, die dem Wissenschaftler unerhörte Freiheiten bieten, aus der eigenen Kultur herauszutreten. In der Fremde mag er sich zum Beispiel ungehemmt dem Genuss exotischer Drogen hingeben. Die mitgeschleppten Tauschwaren sicherten den Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts eine Verfügungsgewalt über ihr indianisches Objekt, über die zu berichten an die Grenze der Jugendfreiheit führte.
Koch-Grünberg ist in gewisser Weise ein idealer Prüfstein für die Problemstellung der Ausstellung, wenn man sich ernsthaft darauf einlässt, den wissenschaftlichen Charakter des ethnographischen Projekts nicht einfach vorauszusetzen. Michael Kraus stellt ihn als „Indianerfreund“ vor, dessen wissenschaftliche Erträge bis heute zu den „großen ethnographischen Pionierleistungen“ zählen. So nahm Koch-Grünberg die brasilianischen Indianer gegen den kolonialen Terror in Schutz, dem sie im Gefolge des Kautschukbooms ausgesetzt waren. (89, 95). Schwer zu vereinbaren ist das mit „groben Abwertungen“ der Indianer vor allem im Bericht zur zweiten Reise, auf der Koch-Grünberg zunehmend von einem paranoiden Mißtrauen befallen wurde: Seinen einheimischen Begleitern, von deren Loyalität mitten im Dschungel das Überleben des Forschungsreisenden abhängig war, unterstellte er Mordabsichten (92, 97).
Zur Beurteilung wissenschaftlicher Forschungsleistungen muss man untersuchen, auf welche Weise die Ethnologen ihr Material produziert haben. Nicht immer ging es bei den fieberkrank im Dschungel sitzenden Forschern besonders rational zu 1, und dass sie die Sprachen der heimgesuchten Indianer in der Regel nicht beherrschten und auf unzuverlässige Dolmetscher angewiesen waren, trug zu ihrer nervlichen Belastung nicht unwesentlich bei. Dazu kamen bestimmte Erwartungen des Publikums an die Ethnographie, die sich als wissenschaftliche Softpornographie besonders gut verkaufen ließ. Kraus kritisiert, dass Koch-Grünberg auf seiner Suche nach authentischem Indianertum die Mädchen überredet hat, sich für Fotografien nicht in Kattunröcken, sondern nur in Perlenschürzchen vor die Linse zu stellen, wo doch Perlen keineswegs ein originärer Bestandteil indianischer Kleidung gewesen seien (97). Solche Perlenschürzchen finden sich dann auch in einer Vitrine der Ausstellung, ohne dass man jedoch so konsequent gewesen wäre, daneben auch eine typische Ethnologen-Unterhose mit Hinweistafel zu den verwendeten Materialien und zur Herstellung zu platzieren. Die Indianer haben sich durchaus mit anthropologischer Neugier für die Kleidung des Ethnographen interessiert, Koch-Grünberg beklagt sich jedenfalls in einem seiner Berichte darüber, dass ihm eine Unterhose gestohlen worden sei 2, und es wäre nur fair gewesen, diesen Fetisch auch auszustellen.
Kraus hebt hervor, dass Koch-Grünberg in einer Monographie zu südamerikanischen Felszeichnungen im Jahr 1907 alle Interpretationen als „haltlose Spekulationen“ zurückgewiesen habe, die hier „Spuren einer alten Zivilisation“, „Eigentumszeichen“ oder eine „Bilderschrift“ erkennen wollten (101). Doch ein solches wissenschaftliches Forschungsergebnis heute unhinterfragt zu unterschreiben, verkennt dessen historische Funktion: Mit ihm wurden die Bewohner dieser Region nicht nur als ‚schriftlos‘ definiert und damit für den Zuständigkeitsbereich der eigenen Disziplin reklamiert, sondern darüber hinaus diente es auch der Rechtfertigung von Kolonialherren, welche die Enteignung der Indianer betrieben hatten. Die Barbaren im Wald hatten ihre Eigentumsansprüche nun erwiesenermaßen nicht schriftlich angemeldet! Das Prunkstück der Ausstellung ist eine Signaltrommel aus der Sammlung Koch-Grünberg. Direkt daneben finden sich Ritualobjekte der Káua, der Siusí et cetera. Auf den Tafeln macht sich niemand die Mühe, diese offensichtlich recht wahllos dem Archiv entnommenen Objekte für das Publikum wirklich zu erläutern und zuzuordnen. Das mag hingehen, schließlich befindet man sich - siehe den Titel - in einer Ausstellung über Forschungsreisende und nicht über Indianer. Aber dann wäre es doch vor allem angebracht gewesen, genauer zu erklären, wie diese Gegenstände vor das Auge der heutigen Betrachter geraten sind. So muss man annehmen, dass einige der ausgestellten Flöten zu dem Kultgerät gehören, das Koch-Grünberg nur mit größerer Mühe erworben hat, weil es Frauen verboten war, die Instrumente zu sehen. Koch-Grünberg fand die Geheimniskrämerei der Indianer mit den Flöten höchst lächerlich, während diese beim Verladen der Sammlung nur im letzten Moment verhindern konnten, dass die Flöten vor Frauenaugen gerieten 3. Zum Hohn der Indianer packt man die Objekte jetzt ein Jahrhundert später unkommentiert hinter Glas, nach einer Odyssee, die sie 1945 von Berlin nach Leningrad und von dort 1975 nach Leipzig geführt hat, bis sie dann 1990 wieder zurückgeführt worden sind (vgl. dazu den Artikel von Richard Haas).
Auf einer Tafel der Ausstellung wird erklärt, dass eine Expedition Glasperlen als Tauschwaren mitgeführt habe, die damals „nicht billig“ gewesen seien. Diese Information ist nur sinnvoll, wenn man mit ihr den Vorwurf zurückweisen möchte, dass die Forschungsreisenden die Eingeborenen beim Sammeln von Ethnographica in ungleichen Tauschverhältnissen mit industriell produzierter Massenware übervorteilt haben. Dagegen möchte ich anführen, dass zum Beispiel Koch-Grünberg ganz ungeniert damit geprahlt hat, die hübschen blauen Perlen, mit deren Hilfe er seine Sammlung zusammengerafft hat, seien nur Ausschussware gewesen 4.
Dieser Forscher war auch ein Pionier des ethnographischen Films, und das Material, das er im Jahr 1911 gedreht hat, wird in der Ausstellung vorgeführt, einmal mehr unaufbereitet, vor einem sichtlich erheiterten Publikum, das in seiner Hilflosigkeit angesichts der kulturellen Distanz nicht anders zu reagieren weiß. Der Tanz der Indianer gerät so zum exotischen Kasperletheater, das sich kaum von der Präsentation barbusiger Wildheit in den Völkerschauen der Jahrhundertwende unterscheidet. Die Authentizität der Filmaufnahmen wird noch unterstrichen, indem ihnen Gesänge von Indianern unterlegt werden, die Koch-Grünberg mit dem Phonographen auf Wachswalzen aufgezeichnet hat. Den Abschluss des Ausstellungsprojekts bildet die Dokumentation von Wilhelm Kissenberths Expedition am Rio Araguaya 1908 bis 1910. Der promovierte Literaturwissenschaftler hat nie eine wissenschaftliche Auswertung dieser Reise vorgelegt, der bis dahin teuersten, die das Musem für Völkerkunde finanziert hatte. Hermannstädter stützt sich in ihrem Beitrag aber auf das erhaltene Tagebuch des Reisenden, das durchdrungen ist von einem Kulturschock (117).
Vielleicht war Kissenberth tatsächlich nicht in der Lage, den gestiegenen Ansprüchen der ethnologischen Wissenschaft nachzukommen (130f.), vielleicht aber hat er sich auch deren doch höchst zweifelhaften ‚wissenschaftlichen‘ Anforderungen zu einer von ethnographischer Autorität abgesicherten Repräsentation des Fremden bewusst verweigert.
Anmerkungen:
1 Vgl. zu den wahnhaften Energien, von denen Forschungsreisende in den Tropen besessen waren, Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas. München: Beck 2001 und dazu auch meine Rezension in H-Soz-u-Kult.
2 Theodor Koch-Grünberg: Vom Roroima zum Orinoco. Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911-1913. Berlin: Reimer 1917, S. 280.
3 Theodor Koch-Grünberg: Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien 1903/1905. 2 Bde., Berlin: Wasmuth 1908/10, Bd. 1, S. 186ff., 206.
4 Ebd., S. 150.