Welche Zusammenhänge bestanden zwischen vergangenheitspolitischer Systemkonfrontation der beiden deutschen Staaten und dem strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit? Dieser Frage geht Annette Weinke in ihrer umfangreichen Publikation nach und schließt damit eine Lücke in der Forschungslandschaft, die sich bis jetzt im Wesentlichen auf die juristische und politische Vergangenheitspolitik Westdeutschlands1 bzw. der Besatzungszonen2 konzentrierte.
Weinkes Studie basiert auf umfangreichem Quellenmaterial, das unter anderem durch die Öffnung der DDR-Archive seit 1989/90 zur Verfügung steht. „Wie ein Blick auf die westdeutsche Literatur zeigt“, so die Autorin zu den vor 1989 entstandenen Arbeiten, „war diese vor allem durch einen deutlichen Überhang an offiziösen Darstellungen und politischer Publizistik gekennzeichnet“ (S. 15). Anhand der breiteren Quellenbasis konnte die Autorin nun überzeugend einen systematischen Vergleich zwischen Ost und West anstellen und die Bezüge der beiden Staaten innerhalb der jeweiligen juristischen Strafverfolgung von NS-Tätern untersuchen. Als besonders aussagekräftige Quellen erwiesen sich auf ostdeutscher Seite die verwahrten Rechtshilfe-Vorgänge zu westdeutschen NS-Verfahren (RHE-West), anhand derer Weinke die schrittweise Etablierung informeller Rechtskontakte zwischen den beiden deutschen Staaten nachweist. Aber auch auf westdeutscher Seite konnte die Autorin auf bislang unerschlossene Archivbestände zurückgreifen, so zum Beispiel auf Generalakten der West-Berliner Senatsverwaltung für Justiz. Sie beinhalten einen größeren Bestand von Überprüfungen bundesdeutscher Justizbeamter – unter anderem mit Bezug auf die NS-Richterfrage – sowie Protokolle der Justizministerkonferenzen und des Rechtsausschusses des Bundesrates. Weiterhin konnte sich Weinke auf die Bestände der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zum Rechtshilfeverkehr mit der DDR und Polen bzw. diejenigen der Verjährungskontroversen stützen.
Nach einem Überblick über den Forschungsstand und einem Resümee über die „Vergangenheitspolitik“ der Bundesrepublik folgen mehrere Kapitel über die DDR-Kampagnen gegen bundesdeutsche Justiz und Politik sowie die bundesdeutschen Reaktionen auf die Vorwürfe. Weinke beleuchtet die antifaschistischen Schauprozesse der frühen Ulbricht-Ära, die auf Publikumswirksamkeit angelegt waren – so etwa der Prozess um die vermeintliche „Kommandeuse“ Erna Gewald alias Dorn.3 Breiter Raum wird der „Blutrichterkampagne“ eingeräumt. Die politischen Auseinandersetzungen um die im bundesdeutschen Justizsystem befindlichen NS-Richter kann Weinke aufgrund der Auswertung bislang ungesichteter Aktenbestände neu beleuchten. Zeigte sich die Adenauer-Regierung offiziell untangiert, so entspannen sich laut Weinke im Hintergrund durchaus heftige Kontroversen, ob und wie auf die vergangenheitspolitischen Angriffe zu reagieren sei.
Im letzten Abschnitt der Arbeit skizziert die Autorin anhand dreier Fallbeispiele die Entwicklung der deutsch-deutschen Justizkontakte. Ausgewählt hat sie den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, den Frankfurter Diplomaten-Prozess und die West-Berliner RSHA-Ermittlungen. Bei dem Versuch der Funktionalisierung der West-Prozesse für seine eigenen Interessen – zum Beispiel durch Nebenklagevertretungen – konnte das SED-Regime recht unterschiedliche Erfolge erzielen, so Weinkes Befund. Die Möglichkeit zur Einflussnahme auf den Auschwitz-Prozess bot sich der DDR-Führung auf mehreren Ebenen. Ein Beispiel: Den Frankfurter Behörden war an einer Einbindung der DDR-Behörden gelegen, weil die Ermittlungsarbeit von guten Beziehungen zum Ostblock abhing – lag der Tatort der Ermittlungen und somit eine potenzielle Ortsbesichtigung doch hinter dem Eisernen Vorhang. Weinke vermutet, dass sich der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer schon Monate vor Beginn der Hauptverhandlung mit dem prominenten, aus der DDR stammenden Anwalt Friedrich Karl Kaul über eine mögliche Nebenklagevertretung verständigte (S. 238). Kaul hatte eine Rechtsanwaltszulassung im Westen, was ihm in den Zeiten des Kalten Krieges eine einzigartige Karriere ermöglichte.
Erstaunlich ist allerdings Weinkes Befund, dass Kaul die DDR-Behörden erst von der agitatorischen Bedeutung der Teilnahme an dem Verfahren überzeugen musste – mit dem Argument, dass die Hauptverhandlung ein Forum vor der Weltpresse biete. Kaul wurde nicht davon unterrichtet, dass bereits Wochen vorher das Politbüro beschlossen hatte, den Auschwitz-Prozess in ein „Tribunal gegen den I.G. Farben-Konzern“ umzuwandeln und prominente Antifaschisten der DDR als Zeugen respektive Nebenkläger auftreten zu lassen. Erst zwei Tage vor Beginn der Hauptverhandlung wurde Kaul zum offiziellen DDR-Nebenklagevertreter berufen und versuchte schließlich, die geplante Strategie umzusetzen. In diesem Verfahren, so Weinke, gelang es der SED-Führung zumindest zeitweise – teilweise aufgrund zufälliger Ereignisse –, das Instrument der Nebenklagevertretung für die „Zwecke der vergangenheitspolitischen ‚Westarbeit’ zu nutzen“ (S. 23). In den anderen Prozessen, so die dargelegten Beispiele, waren die Möglichkeiten beschränkt.
Resümierend stellt die Autorin fest, dass es in Bezug auf die Geschichte der Strafverfolgung von NS-Tätern auch verbindende Faktoren zwischen den beiden deutschen Staaten gab: etwa den sozialpsychologischen Faktor eines „Ruhebedürfnisses“ aller Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die frühen 1950er-Jahre – ungeachtet aller politischen Unterschiede. Weitreichende Amnestie- und Integrationsmaßnahmen von NS-Tätern kann Weinke ebenfalls als gesamtdeutsches Phänomen konstatieren, auch wenn sich diese Maßnahmen quantitativ und qualitativ voneinander unterschieden. Die Wiedereingliederung beschränkte sich in der DDR auf nominelle NSDAP-Mitglieder; im Westen konnten, wie bekannt, auch schwer belastete NS-Funktionseliten führende Positionen im öffentlichen Dienst und in der freien Wirtschaft einnehmen. Für den Westen kann Weinke die Müdigkeit in der Strafverfolgung im Wesentlichen auf die verbreitete „Kollektivschuldthese“ und das vorrangige Interesse an der Abwehr der kommunistischen Bedrohung zurückführen. Die DDR hingegen projizierte die „Täterfrage auf das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik“ (S. 336). Parallelen gab es wiederum bei außenpolitischen Überlegungen: Die Reaktionen des Auslands auf den juristischen Umgang mit den Tätern wurden antizipiert. Erst die Spannung zwischen Schlussstrichforderung und außenpolitischem Erwartungsdruck führte laut Weinke zu einer wieder intensivierten Strafverfolgung.
Allerdings plädiert Weinke entgegen der vorherrschenden Meinung dafür, die Wiederaufnahme der NS-Ermittlungen 1958 in der Bundesrepublik nicht als scharfe Zäsur zu bewerten. „Der kriminalpolitische Prioritätenwechsel vom Herbst 1958 legte […] lediglich die Grundlagen für einen allmählichen mentalen Wandel der bundesdeutschen Gesellschaft, indizierte jenen aber keinesfalls selbst, wie dies die bislang in der Literatur vertretene These von der angeblichen ‚Schockwirkung’ des Ulmer Einsatzgruppenprozesses nahelegt. Gewiss haben die kathartischen Wirkungen dieses Gerichtsverfahrens für den Umdenkungsprozess eine Rolle gespielt; für das Zustandekommen einer neuen Ermittlungsbehörde waren sie aber nicht allein ausschlaggebend. Der politische Beschluss, die extrem unpopulären NS-Ermittlungen für einen befristeten Zeitraum zu intensivieren, ging im wesentlichen auf taktische Überlegungen zurück, die von außen induziert waren.“ (S. 340)
Insgesamt handelt es sich bei Weinkes Untersuchung um eine gründlich fundierte, intensiv recherchierte Studie4, deren reichhaltige Ergebnisse man schwerlich kurz zusammenfassen kann. Sie ist nicht zuletzt aufgrund der guten Strukturierung und eines ausführlichen Personenregisters als Nachschlagewerk für alle dringend zu empfehlen, die sich mit der Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik und/oder der DDR befassen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
2 Eine erste komparatistische Studie zu den NS-Verfahren in den Besatzungszonen legte Martin Broszat vor: Siegerjustiz oder strafrechtliche „Selbstreinigung“. Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945–1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 477-544.
3 Dieser Prozess ging u.a. durch die literarische Verarbeitung von Stephan Hermlin in das mythologische Geschichtsbild der DDR ein. Vgl. Hermlin, Stephan, Die Kommandeuse, in: Neue deutsche Literatur 2 (1954), Heft 10.
4 Allein der Annotationsapparat umfasst 122 Seiten, ohne unnötig aufgebläht zu wirken.