D. van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens

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Titel
Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geschichte der frühen Bundesrepublik


Autor(en)
van Laak, Dirk
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Nachdem Dirk van Laak 1993 seine (an der Fernuniversität Hagen angenommene) Dissertation über die prägende Wirkung von Carl Schmitt [CS im Folgenden] auf das intellektuelle Klima der frühen Bundesrepublik veröffentlicht hatte, meinte Bernd Rüthers, dass „ein Kapitel Wissenschaftsgeschichte dem Ende“ zugehen könnte, da „das Durchschnittsalter der Schmittianer heute eher über dem Rentenalter liegt oder diesem zuneigt. In der jüngeren akademischen Generation sind der Name Schmitt und sein Werk in der Regel nur vage bekannt, wenn man nicht bei einem seiner Schüler oder Jünger in die Lehre genommen wurde.“ 1

Ob das Interesse an CS inzwischen wirklich nachgelassen hat, dürfte fraglich sein, nicht nur wegen der Flut von wissenschaftlichen Literatur zu seinem Werk und Leben, die kontinuierlich im In- und Ausland erscheint, sondern auch wegen der anhaltenden Diskussion um eine mögliche Aktualität von CSs Kategorien in den Feuilletons. 2

CS hatte 1945, im Alter von 57 Jahren, seinen Lehrstuhl verloren, war 1946/47 von den Amerikanern in Gefangenschaft genommen worden; danach blieb er, auch weil er sich der Entnazifizierung verweigerte, von einer Rückkehr an die Universität ausgeschlossen und lebte bis zu seinem Tode 1985 in seinem Heimatort Plettenberg im Sauerland. Er stilisierte sich dort als ein Machiavelli in der Verbannung.

Van Laak will verständlich machen, wie es trotz der Kompromittierung von CS durch seine Rolle in der NS-Zeit zu einer Wirkung kam, die, aufs Ganze gesehen, weniger von dessen Schülern im engeren Sinne ausging (obwohl Ernst Forsthoff, Werner Weber und Ernst Rudolf Huber nach unterschiedlich langen „Karenzzeiten“ auf Lehrstühle zurückkehren konnten) als vielmehr von einer Vielzahl jüngerer Verehrer aus diversen Fachrichtungen.

Van Laak rekonstruiert auf der Basis des höchst umfangreichen Nachlasses von CS, der Befragung von Zeitzeugen und der Auswertung einer reichen Literatur, wie das Netz von Beziehungen um CS entstand. Es gab zunächst Freundeskreise (darunter eine „Academia Moralis e.V.“), die CS in seiner finanziell prekären Situation (bis zur Gewährung einer Pension 1952) helfen wollten, durch Vermittlung von Publikationsmöglichkeiten in Zeitungen und Zeitschriften (in denen die Artikel anfangs zumeist anonym erschienen) und von juristischer Gutachtertätigkeit, über Einladungen zu Vorträgen vor diversen Gesprächskreisen bis zur Hilfe bei der Veröffentlichung neuer Bücher. 3 Hier ging es also um die Fortführung oder die Erneuerung alter Kontakte, u.a. mit dem ehemaligen Assistenten Günther Krauss, dem Kirchenrechtler Hans Barion oder den Journalisten Giselher Wirsing und Hans Zehrer.

Für die bundesdeutsche Kultur- und Wissenschaftsgeschichte wurden dann CSs Verbindungen zu brillanten, jüngeren Intellektuellen wichtig, die u.a. durch Vorträge in Joachim Ritters „Collegium Philosophicum“ in Münster und in den Ebracher Ferienseminare von Ernst Forsthoff zustande kamen. CS pflegte mit Hingabe eine ausgedehnte Korrespondenz mit jüngeren Gelehrten und Publizisten; viele suchten ihn zu langen Gesprächen in Plettenberg auf. Er wurde nach van Laaks Formulierung „zu einer Art von Fernuniversität in einer Person“ (S. 140). Zu diesem Beziehungsnetz gehörten u.a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Karlfried Gründer, Reinhart Koselleck, Hermann Lübbe, Christian Meier, Odo Marquard, Helmut Quaritsch, Roman Schnur und Robert Spaemann, um nur einige derjenigen zu nennen, die später renommierte Professoren wurden und sich auf je unterschiedliche Weise darum bemühten, das Anregungspotential von CSs Werk für ihre Disziplinen herauszustellen, ohne sich mit den politischen Positionen und Ressentiments des Autors identifizieren zu müssen. 4

Für CS, der nach der Entfernung aus der Universität 5 ein ungeheures Selbstmitleid kultivierte (womit die Haßtiraden gegen Juden, Emigranten, „Verfolger“ jeder Couleur korrespondierten, die er in seinen Tagebüchern 6 fixierte), waren diese Kontakte psychologisch extrem wichtig. „In der Sicherheit des Schweigens“ 7 konnte er ohne Gespräche und Briefwechsel nicht auskommen.

Die viel spannendere Frage ist deshalb, woher seine Wirkung auf die jüngeren Intellektuellen kam. Van Laak sieht dies in mehreren Faktoren begründet. Der Kontakt zu CS eröffnete die Möglichkeit zu einem Gedankenaustausch mit einem inzwischen als klassisch geltenden Autor, und dies in einer Intensität, die der Universitätsbetrieb nicht bot. Man zeigte sich von CSs Attitüde der illusionslosen Analyse (als „Gestus des ‚erwachsenen‘ Denkens“, S. 299) ebenso fasziniert wie von den Selbstauslegungen seines Werkes, dessen inhaltliche Konsistenz er behauptete, wodurch er auch einem Bedürfnis seiner Gesprächspartner nach geistiger Kontinuität ungeachtet der erfahrenen Umbrüche entsprach. Seine Verweigerung eines persönlichen Schuldbekenntnisses erschien unter diesem Aspekt als intellektuelle Redlichkeit. Der Umgang mit einem Autor, der eben deshalb aus dem offiziellen akademischen Leben ausgegrenzt blieb, den man aber auch „liberal rezipieren“ konnte8, wurde als Beitrag zu einem politischen und kulturellen Pluralismus verstanden.

Van Laaks Buch, dessen Inhalte und Ergebnis hier nur sehr verkürzt wiedergegeben wurden, ist immer noch eine lohnende Lektüre, weil es eine aufschlussreiche Rekonstruktion des geistigen Klimas in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er-Jahre und einer generationsspezifischen intellektuellen Befindlichkeit bietet, die für Nachkriegsgenerationen nur noch historisch nachvollziehbar sind - und weil es diese intellektuelle Landschaft in einem Tonfall darstellt, der sich wohltuend von der aufgeregten Polemik so vieler Apologeten und Ankläger CSs unterscheidet.

Einige Schwächen waren sofort nach Erscheinen erkennbar und sind entsprechend in der Kritik genannt worden. 9 Die gewählte zeitliche Zäsur der Darstellung, derentwegen CSs Einfluss auf die „Neue Linke“ seit den späten 1960er Jahre 10 nicht ernsthaft thematisiert wird, hätte deutlicher begründet werden sollen. Es fehlt auch eine Benennung der Kriterien, warum bestimmte Personen näher porträtiert werden, und andere nicht – Forsthoff, warum nicht W. Weber oder E. R. Huber?; Hanno Kesting, warum nicht Koselleck?; Schnur, warum nicht Böckenforde?, etc. Die Ausführungen zur Resonanz von CSs Werk in einzelnen Disziplinen bleiben kursorisch; um diese angemessen erfassen und verstehen zu können, hätte auch das Werk CSs als solches einbezogen und analysiert werden müssen; das gilt auch im Hinblick auf dessen Wirkung auf das Grundgesetz (konstruktives Mißtrauensvotum, „Ewigkeitsgarantie“) und die weitere verfassungsrechtliche Diskussion (Verfassungsgerichtsbarkeit, Sozialstaat, „institutionelle Garantie“ des Berufsbeamtentums). Es fehlt auch eine Auseinandersetzung mit der in den späten 1950er-Jahren (J. Fijalkowski, Chr. von Krockow, P. Schneider) einsetzenden wissenschaftlichen Literatur über CS.

Zudem ist inzwischen die Frage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik allgemein, und im Speziellen in der akademischen Welt (u.a. durch die Aufdeckung des Falles Schwerte/Schneider, die Diskussion um die Rolle von Schieder, Conze und anderen Historikern, die diversen Studien zur Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaft im Dritten Reich und den jeweiligen Kontinuitäten in der Nachkriegszeit) neu beleuchtet worden. Hinzu kommt die Fülle neuerer Literatur zum Werk und zur politischen Rolle von CS.

Allen diesen Aspekten und neuen Publikationen umfassend Rechnung zu tragen, hätte gewiss ein neues bzw. weiteres Buch erfordert. Es ist aber zu bedauern, dass van Laak die unveränderte zweite Auflage 11 nicht mit einem aktualisierten Nachwort versehen hat, in dem er auf einige der aufgeworfenen Fragen hätte eingehen können.

Anmerkungen:
1 Rüthers, B., Kontinuitäten. Zur Wirkungsgeschichte von Carl Schmitt in der Bundesrepublik Deutschland [Rezensionsessay zu van Laak], in: Rechtshistorisches Journal 13 (1994), S. 142-164, hier S. 161.
2 Jüngst z. B. in der Debatte um die Reaktion auf den neuen internationalen Terrorismus; vgl. nur Assheuer, Th., Geistige Wiederbewaffnung. Nach den Terroranschlägen erlebt der Staatsrechtler Carl Schmitt eine Renaissance, in: Die Zeit 15. 11. 2001; Hacke, J., Mit Carl Schmitt in den Krieg - mit Carl Schmitt gegen den Krieg, in: Ästhetik und Kommunikation 118 (2002), S. 29-32.
3 Van Laak geht leider nicht auf die konkreten finanziellen Umstände ein, in denen sich CS befand bzw. darauf, welche Einnahmen er mit seinen Tätigkeiten eigentlich erzielen konnte.
4 Daneben gab es „Haltungs-Schmittianer“ (S. 199) wie den Politologen Bernard Willms (dies gilt in manchen Hinsichten vielleicht auch für Schnur und Quaritsch) und den Publizisten Armin Mohler.
5 Als besonders kränkend empfand CS, dass ihm 1949 die Aufnahme in die sich neu konstituierende Vereinigung der Staatsrechtslehrer verweigert wurde, womit er sich als Sündenbock für die gesamte belastete Zunft vorkommen musste (S. 37 mit Anm. 94).
6 Schmitt, Carl, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. v. von Medem, E. Berlin 1991.
7 So seine Antwort auf die Frage von Robert M. W. Kempner, wohin er sich nun (1947) nach der Entlassung aus den Verhören in Nürnberg begeben wolle (zitiert S. 33).
8 So Lübbe, H., Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Quaritsch, H. (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, S. 427-440.
9 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Rezensionen genannt: Rüthers (s. o.); G. Roellecke, in: FAZ 5. 10. 1993; J. Habermas, in: Die Zeit 3. 12. 1993 [wieder in: Ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt 1995, S. 112-122]; R. Altenhof, in: Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 77f.; Weiß, J., Sociologia Internationalis 33 (1995), S. 253-255; St. May [Sammelrezension], Internationale Zeitschrift für Philosophie 1995 (307-322); H. Seubert [Sammelrezension], in: Der Staat 37 (1998), S. 435-460.
10 Siehe z.B. die vier Rundfunkinterviews (1969-1980) mit einem Mao-Bewunderer; Schickel, J., Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993.
11 Die hervorragende technische Qualität der Erstauflage rechtfertigt einen unveränderten Nachdruck des Textes; allerdings wäre doch wohl ein Hinweis (zu S. 262 und S. 280) angebracht gewesen, dass Rüdiger Altmann (in den letzten Kriegsjahren noch Hörer von CS in Berlin, später Assistent von Wolfgang Abendroth in Marburg, schließlich spiritus rector von Ludwig Erhards „formierter Gesellschaft“) und Roman Schnur inzwischen verstorben sind.

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