Cover
Titel
Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900-1914


Autor(en)
Neitzel, Sönke
Reihe
Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert
Erschienen
München 2002: Pendo Verlag
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Neuere Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Es gibt im Moment eine ganze Reihe von Versuchen, neue Handbuchreihen zu etablieren. Zu diesen bemerkenswerten Bemühungen gehört die von Frank-Lothar Kroll und Ernst Piper herausgegebene „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“. In 20 Bänden soll in einer Mischung aus Chronologie und Systematik in die wichtigsten Ereignisse und Themen der deutschen Geschichte im zurückliegenden Jahrhundert eingeführt werden. Unter den zum Auftakt angekündigten bzw. erschienenen vier Bänden ist auch die von Sönke Neitzel vorgelegte Geschichte des Kriegsausbruchs von 1914. Neben der Darstellung enthält der Band einen kurzen Forschungsbericht sowie eine Auswahlbibliografie.

Angesichts der langen und kontroversen Forschungsdiskussionen um die Vorgeschichte von 1914 interessiert zunächst, wie Sönke Neitzel seine Aufgabe angeht, auf weniger als 200 Textseiten eine Gesamtdarstellung des deutschen Wegs in den Ersten Weltkrieg zu schreiben. Zunächst fällt die konsequente europäische Perspektive auf. Neitzel begnügt sich nicht damit, Deutschlands Rolle zu untersuchen. Sein Buch enthält neben den Abschnitten zum Deutschen Reich beinahe ebenso lange Passagen zur Situation und Politik in Großbritannien, Österreich-Ungarn, Russland und Frankreich. Bei der Beschreibung der historischen Faktoren, die in den Krieg führten, setzt die Arbeit dann zwei große Schwerpunkte. In einem ersten Teil werden getrennt nach der Lage in den einzelnen Ländern vor allem die mentalen Voraussetzungen des Weltkriegs beschrieben, in einem zweiten die großen politisch-militärischen Krisen des letzten Jahrzehnts vor 1914 skizziert.

Als grundsätzliche Voraussetzung des Wegs in den Krieg stellt Neitzel den Hochimperialismus vor, der seit den 1890er-Jahren die internationalen Beziehungen vergiftet habe. Dieser sei von drei „Grundtriebkräften“ getragen worden: Dem vor allem durch Sozialdarwinismus, Rassismus und Expansionismus geprägten „Zeitgeist“, der Entwicklung der Weltwirtschaft sowie der innenpolitischen Situation in den verschiedenen Ländern. Alle drei Faktoren verbanden sich im Hochimperialismus zu einem außenpolitischen Denken, das um Groß- bzw. Weltmachtstreben, um Aufstieg und Niedergang oder um nationales Prestige kreiste. Zeitgeist und die zunehmende Konkurrenz in der Weltwirtschaft nährten vor allem in Deutschland und Großbritannien die Vorstellung, wenige große, ökonomisch mehr oder weniger autarke Weltreiche würden die Welt in Zukunft unter sich aufteilen, alle anderen Staaten würden „zwischen diesen Mühlsteinen zerrieben werden“ (S. 25). Die innenpolitischen Spannungen wiederum hoffte man - nicht nur in Berlin - durch imperiale Erfolge zu glätten. Es dränge sich „die Vorstellung auf“, so Neitzel, „dass die Saat des Imperialismus früher oder später zu einem großen Zusammenprall führen musste“ (S. 18). Den Reigen der Vorkriegskrisen lässt Neitzel dann im zweiten Teil seines Buches mit dem russisch-japanischen Krieg von 1904/05 beginnen. Es folgt die Darstellung der klassischen Konflikte von der Ersten Marokkokrise, der Bosnischen Annexionskrise über die Balkankriege von 1912/13 bis hin zur Liman-von-Sanders-Krise und der deutsch-russischen Pressefehde in den letzten Monaten vor Kriegsausbruch. Und auch die Rüstungsspirale und die Kriegsplanungen sowie die deutsch-englische Détente werden gewürdigt. Bei all dem bewegt sich Neitzel durchweg und äußerst sicher auf dem neuesten Stand der Forschung.

Erwähnt werden muss an dieser Geschichte des Kriegsausbruchs von 1914 aber nicht nur der solide Abriss der internationalen Beziehungen sowie verbreiteter ideologischer Dispositionen am Beginn des 20. Jahrhunderts, vielmehr fällt auch die Verteilung der Verantwortlichkeit am Kriegsausbruch auf. Die „Hauptschuld“, so stellt Sönke Neitzel ausdrücklich fest, treffe, „ohne dabei die Verantwortung der Triple-Entente, und hier insbesondere Russlands, außer Acht zu lassen“, das Deutsche Reich und - in Übereinstimmung mit neueren Arbeiten - gleichermaßen Österreich-Ungarn (S. 9). Das betrifft nach Neitzel aber nur die unmittelbare Verantwortung für den Krieg. Bei den langfristigen Ursachen sieht die Bilanz etwas anders aus. Denn zwei weitere Aspekte durchziehen Neitzels Darstellung und werden immer wieder explizit den Kriegsursachen hinzugezählt. Der eine betrifft die Rolle der nationalistischen Öffentlichkeiten, die die Regierungen immer mehr in die Defensive gedrängt hätten, der andere einen von Neitzel stark hervorgehobenen britischen Konfrontationskurs gegenüber Deutschland. Beides ist nun allerdings kommentierungsbedürftig:

Was die Rolle der öffentlichen Meinung in den verschiedenen Ländern anbelangt, so ist die Existenz einer chauvinistischen Stimmung in Europa schlechterdings nicht zu leugnen, doch das Modell einer regierungsamtlichen Reaktion auf eine vermeintliche publizistische Aktion ist zu einfach. Zum einen verkennt es die Art und Weise, wie Außenpolitik vor 1914 funktionierte, zum anderen übersieht es die Tatsache, dass es auch vor 1914 gewichtige Gegenstimmen gegen Chauvinismus und Kriegsbefürwortung gab. Das Bemerkenswerte an der Situation vor dem Ersten Weltkrieg ist nicht zuletzt, dass die meisten Regierungen diesen anderen Teil der öffentlichen Meinung kaum zur Kenntnis nahmen - und nur auf diese Weise konnten sie auch innenpolitisch so unter „Druck“ geraten. Zu widersprechen ist auch Neitzels Deutung der englischen Politik vor 1914. Zwar ist es richtig, dass bei der Umgestaltung der diplomatischen Verhältnisse nach 1900 der Neuorientierung der englischen Position eine entscheidende Bedeutung zukam. Das ergibt sich nicht zuletzt aus einem Teil der neueren Forschung. Dahinter aber eine genuine und konsequent verfolgte deutschfeindliche Politik zu vermuten, führt zu weit. Für die überanstrengte Weltmacht Großbritannien schien die Verständigung mit den USA, Frankreich und Russland sehr viel dringlicher als ein Ausgleich mit dem - weltpolitisch - ungefährlicheren Deutschen Reich. Diese „globalen“ Überlegungen sowie dilettantische Fehler der deutschen Außenpolitik ließen England vor allem an Frankreich und später an Russland heranrücken. Wenn Neitzel immer wieder eine „antideutsche“ (z.B. S. 81, 89) britische Politik zum Ausgangspunkt macht, die nach „den Arrangements mit den Vereinigten Staaten und Frankreich sowie dem kriegsbedingten Ausfall Russlands [...] alle Kräfte auf Deutschland konzentrieren“ konnte (S. 87) oder die sich nach 1907 „unverkennbar [...] in allen Bereichen direkter oder indirekter kolonialer Betätigung gegen Deutschland stellte“ (S. 122), geht er deutlich über die jüngste Forschung hinaus. Zum Teil führt ihn das zu Formulierungen, die an solche der deutschen Seite vor 1914 erinnern: Zur Charakterisierung der Situation in Europa nach der Ersten Marokkokrise und nach der Bildung der Tripelentente schreibt Sönke Neitzel zum Beispiel resümierend: „Obgleich die [englisch-russische] Konvention selbst keine antideutsche Spitze enthielt, war doch unverkennbar, dass England bereit war, sich fester an die Zweierallianz zu binden. Noch war die hiermit begründete Triple-Entente kein festgefügtes Gebilde [...] Dennoch hatte Kaiser Wilhelm II. im Oktober 1907 die Lage vollkommen richtig analysiert, als er feststellte, dass ,die Einkreisungspolitik ihren ruhigen, unveränderlichen Gang nehme.‘“ (S. 92f.)

Fazit: Nächstes Jahr jährt sich der Kriegsausbruch von 1914 zum neunzigsten Mal. Wer angesichts dessen nach handbuchartiger Information sucht, ist, was den Überblick über die meisten außenpolitischen Entwicklungen und viele mentalitätshistorische Voraussetzungen anbelangt, bei Neitzel richtig. Für eine Gesamtinterpretation des Weges in den Krieg sollte man besser zu anderen Arbeiten greifen.

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