Titel
Die DDR - ein Sozialstaat?. Sozialpolitik in der Ära Honecker


Autor(en)
Bouvier, Beatrix
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 27,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das Interesse an der in der DDR betriebenen Sozialpolitik speist sich aus mehreren Quellen. Zum einen verweist jeder Versuch, die DDR und ihre Geschichte einigermaßen schlüssig zu beurteilen, nicht zuletzt auf die Frage nach den Stabilisierungsfaktoren des SED-Regimes. Einer der wichtigsten war die Sozialpolitik. Noch im nachhinein werden der DDR auf diesem Politikfeld oft bessere Noten konzediert, als dies für andere Bereich gilt. Werden so mitunter auch alte Schlachten um das Für und Wider der DDR-Sozialpolitik noch einmal geschlagen, so spielt sie gleichwohl in den Debatten um die künftige Rolle der Sozialpolitik im Zeichen der Globalisierung und um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme eine zumindest indirekte Rolle. Das strahlt unvermeidlich auf die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema aus. Eine notwendige Historisierung, die nicht nur auf eine Kontextualisierung der einzelnen Segmente des Politikfeldes hinausläuft, sondern auch das Gesamtkonzept der "sozialistischen Sozialpolitik" problematisiert, erscheint um so dringlicher.

Es ist jedoch nicht nur die politische Affinität des Gegenstandes, die ihn schwer handhabbar machen. Vielleicht mehr noch sind es die ambivalenten und teils auch inkohärenten Befunde der empirischen Forschung, die eine einfache, griffige Bewertung erschweren. Man kann dies u.a. an den unterschiedlichen Versuchen ablesen, der DDR ein sozialpolitisches Etikett anzuheften: So schlug Stefan Leifried die Bezeichnung "autoritärer Versorgungsstaat" vor, Klaus Schröder hielt die DDR für einen "totalitären Versorgungs- und Überwachungsstaat" und Konrad Jarausch glaubte im Begriff der "Fürsorgediktatur" die wesentlichen Merkmale eingefangen zu haben, bei Manfred G. Schmidt war von "Wohlfahrtsstaat" die Rede. Auch der Sozialstaats-Begriff fand in Verbindung mit Adjektiven wie "sozialistisch" und "gescheitert" auf die DDR Anwendung, so bei Hans Günter Hockerts und Gerhard A. Ritter. Für jeden dieser Vorschläge gibt es gute Gründe, andere sprechen dagegen. Zu dieser Diskussion hat nun Beatrix Bouvier mit dem hier anzuzeigenden Buch einen gewichtigen Beitrag geleistet.

Nachdem Johannes Frerich und Martin Frey in ihrem Handbuch zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland zu Beginn der 90er-Jahre einen systematisierenden Überblick auch zur Sozialpolitik der DDR geboten haben, 1 ist in nunmehr absehbarer Zeit im Rahmen des Großvorhabens "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" auch mit einer Veröffentlichung der Bände zu rechnen, in denen die DDR behandelt wird.2 Aus der offiziellen DDR-Perspektive resultierte noch 1989 ein erster Überblick zur Sozialpolitik 1945 bis 1985.3 Ihm folgte reichlich zehn Jahre darauf ein kritischer Rückblick von Wissenschaftlern, die an der Konzipierung der Sozialpolitik in der DDR einen Anteil hatten.4 Bouviers Buch ergänzt diese Palette um einen methodisch bemerkenswert reflektierten Einblick in die Sozialpolitik der "Ära Honecker". Ein erklärtes Ziel der Autorin ist es, "anhand ausgewählter Beispiele aus der Sozialpolitik für die letzten zwanzig Jahre der Existenz der DDR" danach zu fragen, "ob und wenn ja, in welcher Weise die DDR ein Sozialstaat gewesen ist und ob sozialpolitische Faktoren zur Akzeptanz und eventuell zu ihrem Zusammenbruch beigetragen haben" (S. 9).

Dem Problem geht Bouvier auf vier sozialpolitischen Handlungsebenen nach: der durch das Recht auf Arbeit zu gewährleistenden Vollbeschäftigung, der Wohnungsfrage, der Rentenproblematik sowie der Frauen- und Familienförderung. Zuvor jedoch vermittelt ein thematisch übergreifendes Kapitel genauere Einblicke in das für die Honecker-Ära charakteristische Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Schwerpunkte der Betrachtung sind die sozialpolitische Programmatik der SED unter Honecker, deren sich in der Praxis zeigende ökonomische Grenzen und die Sozialpolitik in den Betrieben. Für Leser hält dieser Abschnitt viele wichtige Informationen über die Grundsätze, Ziele und Entwicklungsbedingungen der Sozialpolitik in der späten DDR bereit. In mancher Hinsicht hätte eine kritischere Sonde angelegt werden können. So war es mit der Originalität von Honeckers Sozialpolitik nicht gar so weit her: Der Slogan "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" etwa taucht nahezu wortgleich bereits zu Beginn der 50er-Jahre auf. Auch ist in dem zwischen Investition und Konsumtion gefährlich pendelnden Ressourceneinsatz eher mehr als weniger Kontinuität zur Ära Ulbricht zu erkennen.

Souverän behandelt Bouvier die schwierige Thematik des Rechts auf Arbeit. Als "wichtiges Fundament ihres Selbstverständnisses" (S. 110) war das in der Verfassung garantierte Recht auf Arbeit zugleich eines der hauptsächlichen Legitimationsinstrumente der SED. Ausführlich geht die Autorin auf zentrale Aspekte der Erwerbsarbeit in der DDR ein, so auf die Gründe für die Arbeitskräfteverknappung, die hohe Frauenerwerbsquote, die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte und die mangelhaften Leistungsanreize. Auch der komplizierten Frage der "verdeckten Arbeitslosigkeit" wendet sie sich unter Hinweis auf die Unterauslastung und die mangelnde Arbeitsproduktivität zu (S. 150). Vielleicht lohnt es, den damit verbundenen beschäftigungspolitischen Aspekt eingehender zu diskutieren. Denn alles das vollzog sich vor dem Hintergrund einer in den Siebziger-Jahren global einsetzenden Beschäftigungskrise. Wirtschaftlicher, vor allem industrieller Strukturwandel und die Freisetzung von Arbeitskräften wurden in der späten DDR durchaus thematisiert. Auf weitere Sicht hätte man wohl auch über die Beschäftigung von, wie Robert Castell sie nennt, "Überzähligen" in einem staatlichen Arbeitsbeschaffungssektor nachdenken müssen.5 Auch die Kehrseite des Rechts auf Arbeit, die Pflicht zu Arbeit, wird von Bouvier analysiert. Hiermit verbanden sich, vor allem bedingt durch die Schwerpunkte der zentralen Arbeitskräfteplanung, zweifellos auch Einschränkungen bei der Wahl des Arbeitsplatzes oder des Arbeitsortes. Gleichwohl ist die Vollbeschäftigungspolitik von der Erwerbsbevölkerung im Wesentlichen akzeptiert und positiv perzipiert worden. Ein Problem erwuchs der SED aber daraus, dass man hierin immer weniger eine "Errungenschaft" sah, sondern den Arbeitsplatz eher als Selbstverständlichkeit betrachtete.

Das Kapitel zum Wohnungsbau enthält längere Passagen über die Gründe und Erscheinungsformen der in der DDR herrschenden Wohnungsnot sowie über den staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Wohnungsbau. Die hierbei in der Ära Honecker erreichten Fortschritte waren beachtlich, doch von der angestrebten Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem blieben sie weit entfernt. Bouvier spricht von einem "Scheitern der Wohnungspolitik" (S. 201). Sie verdeutlicht die angespannte Situation quellennah anhand von Eingaben und Beschwerden. Dabei ging es nicht nur um neue Wohnungen oder Baugenehmigungen, sondern mehr noch um die fatalen Folgen des fortschreitenden Verfalls von Altbaugebieten. Der Alltag in der "realsozialistischen" Mangelwirtschaft wird am Beispiel der Wohnungen überaus transparent. Im Kampf um Wohnungen blieb kaum ein Argument ungenutzt, bis hin zur Drohung mit einem Ausreiseantrag.

Im folgenden Kapitel über die "schwachen Glieder der Erwerbsgesellschaft", die Rentner, zeigt die Autorin, dass trotz periodischer, aber auch minimaler Rentenanhebungen ein beträchtlicher Teil der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Bevölkerung ein kärgliches Auskommen hatte. Schlechter ging es jedoch noch den von Sozialfürsorge Abhängigen sowie den Behinderten und pflegebedürftigen Alten. Auch wenn man allzu grobe Missstände zu beheben versuchte, bleibt der Befund, dass die einseitige Produktionsorientierung der sozialistischen Arbeitsgesellschaft in diesen Bereichen erhebliche Defizite zuließ. Die Autorin verfolgt diesen Aspekt jedoch nicht weiter. Ausführlicher hingegen geht sie auf die Rentensysteme und ihre Finanzierung ein. Besonderes Interesse verdient der Hinweis auf Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, auf deren Grundlage "regimespezifische ‚Versorgungsklassen'" entstanden (S. 219). Die hierzu vorgetragenen Überlegungen erscheinen geeignet, die Diskussion zur sozialen Struktur der DDR-Gesellschaft von einer bisher etwas unterbelichteten Seite her anzuregen. Zum Problem der in der zeithistorischen Literatur wenig beachteten Altersarmut im "Realsozialismus" hingegen hätte man sich eine etwas ausführlichere Darstellung gewünscht.

Das Kapitel zur Frauen- und Familienförderung stützt sich vor allem auf die zu diesem Themenkreis recht umfangreiche Sekundärliteratur. Hier resümiert Bouvier im Wesentlichen den aktuellen Forschungsstand, was allein schon ein Verdienst ist. Sie beleuchtet die staatlichen Förderungsmaßnahmen mit gutem Grund vor allem unter dem Aspekt der damit verbundenen wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Ziele. Indes wäre es wohl einer genaueren Nachfrage wert, ob sich darin neben dem unzweifelhaft vorhandenen obrigkeitsstaatlichen Gestaltungsanspruch nicht auch ein sozialpolitischer Druck manifestierte, der von Frauen und Familien ausging, und auf den die SED reagieren musste. Einen solchen Befund legen zumindest die neueren Forschungen zur Geschichte der DDR-Sozialpolitik nahe. Bouvier setzt den Akzent allerdings anders: Angesichts der "Perpetuierung von paternalistischen Strukturen" (S. 296) blieben Frauen in einer Verliererrolle, die sich über 1989/90 hinaus fortsetzte und sie "zu den Verlierern des Vereinigungsprozesses [gehören]" (S. 297) ließ.

Resümierend konstatiert die Autorin eine erhebliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Sozialpolitik in der Ära Honecker, um abschließend zu ihrer Ausgangsfrage zurückzukehren: War die DDR ein Sozialstaat? Bei einer Antwort müsse man die verschiedenen Epochen der DDR-Geschichte differenziert betrachten. Unter Honecker sei ein Mehr an sozialer Sicherheit mit einem Mehr an Überwachung und Polizeistaat verbunden gewesen. Von Sozialstaat könne deshalb keine Rede sein. Vielmehr sei angesichts einer "Rundumversorgung auf niedrigem Niveau" die Bezeichnung der DDR als "Versorgungsdiktatur" (S. 337) treffender. Ob dieser Begriff Bestand hat und ob überhaupt mit solchen Etikettierungen viel zu gewinnen ist, mag dahingestellt bleiben. Wichtiger erscheint, dass das Buch die für die "Versorgten" höchst problematische Seite der Verbindung von sozialer Sicherheit und Diktatur deutlich macht. Die "Sozialpolitik mit ihren Ansprüchen und der in dieser Studie beispielhaft aufgezeigten kontrastierenden Wirklichkeit" sei "nicht von dem Gesamtkontext des diktatorischen Staates, der die DDR war, abzukoppeln", betont Bouvier (S. 328).

Die Arbeit basiert sowohl auf gründlich ausgewerteter Sekundärliteratur als vor allem auch auf Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit sowie auf den als Quelle sehr ergiebigen Eingaben der Bürger an die Staatsorgane und deren Analysen. Hieraus mag sich erklären, dass wichtige Teilbereiche wie die betriebliche Sozialpolitik oder auch die oft mit sozialpolitischen Absichten verfolgte Konsumpolitik eher kursorisch behandelt werden. Gleichwohl tut das dem Anliegen der Studie keinen Abbruch. Zur Funktion von Sozialpolitik in der zweiten deutschen Diktatur und zum Verhältnis von Sozialpolitik und Diktatur hat Bouvier wichtige Erklärungsansätze beigesteuert.

Anmerkungen:
1 Frerich, Johannes; Frey, Martin, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993.
2 Erschienen sind bereits: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv Koblenz (Hgg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 1: Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001; Bd. 2/1 und 2/2: 1945-1949. Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten (verantwortlich für diesen Band: Udo Wengst), Baden Baden 2001.
3 Winkler, Gunnar (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945-1985, Berlin 1989.
4 Sachse, Ekkehard, Ein Beschäftigungssystem auf der Grundlage des Rechts auf Arbeit, in: Manz, Günter; Sachse, Ekkehard; Winkler, Gunnar (Hgg.), Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001.
5 Castel, Robert, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 348.

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