I. Heinemann: "Rasse, Siedlung, deutsches Blut"

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Titel
"Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas


Autor(en)
Heinemann, Isabel
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
697 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Schmidt, Großhansdorf

In seinem “Hegewald” benannten Feldhauptquartier bei Schitomir in der südlichen Ukraine (nahe Winniza am Bug) gab der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, am 16.9.1942, 15 Monate nach dem Überfall der deutschen Armee auf die Sowjetunion, seinen Generalplan für die Germanisierung des europäischen Ostens als einer “Pflanzstätte germanischen Blutes” bekannt, die im Laufe der nächsten 20 Jahre durch Besiedlung ein von den Deutschen dominiertes rassisch “gereinigtes” Großeuropa vollenden sollte. Voraussetzung für dieses ebenso gigantische wie verbrecherische Projekt, dessen Grundzüge als “Umsiedlungs- und Vertreibungsprogramm” Himmler bereits Ende Oktober 1939 entwickelt hatte, war die Ermordung der europäischen Juden und die Instrumentalisierung der “rassisch minderwertigen” einheimischen Bevölkerung als ein unmündiges Kolonialvolk im Dienste “rassisch vollwertiger” deutscher Siedler. Dieses Thema der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands hat die junge Freiburger Historikern Isabel Heinemann durch Auswertung der diesbezüglichen Bestände des Bundesarchivs, weiterer deutscher, polnischer und tschechischer Archive und des amerikanischen Holocaust Memorial Museum sowie einer ausgedehnten Literatur in einer ebenso gründlichen, umfassenden wie umfangreichen (697 Seiten) Untersuchung der historischen Forschung erschlossen. Sie hat in vielen Details dargestellt, wie eng Judenmord, Umsiedlung, “Ausmerze” und Germanisierung miteinander verknüpft waren und wie sehr sie sich gegenseitig bedingten.

Institutionelle Grundlage für die von Himmler verkündete “rassenpolitische Neuordnung” Europas stellte das “Rasse- und Siedlungshauptamt der SS” (RuSHA) dar, eine im Hintergrund wirksame und darum bis heute in der interessierten Öffentlichkeit wenig bekannte Einrichtung, gegründet am 1.1.1932 und damit – neben dem SS-Hauptamt und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – eines der drei ältesten Hauptämter der SS. Die Geschichte dieser in Berlin angesiedelten Dienststelle und ihrer etwa 500 Mitarbeiter stellt Heinemann in sieben Kapiteln dar: (1) die Aufbauperiode von 1932 bis 1938 (S. 49-126), (2) Rassenpolitische Maßnahmen in der Tschechoslowakei (S. 127-186), (3) “Germanisierung” des “Warthegaus” (S. 187-304), (4) nationalsozialistische Volkstumspolitik im eroberten Westen und in Norwegen (S. 305-356), (5) Germanisierung des Generalgouvernements Polen (S. 357-416), (6) Siedlungprojekte in der Ukraine und in Weißrussland (S. 417-474), (7) “Jagd auf deutsches Blut” zur Selektierung “gutrassiger” Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft (S. 475-560).

Wie die Rasseexperten des RuSHA jeweils die Erfahrungen des “Projektes”, das sie gerade bearbeitet hatten, für das jeweils nächste auswerteten – in drei Radikalisierungsschüben” bei Kriegsbeginn, beim Überfall auf die Sowjetunion und nach Einsetzen der “Endlösung” –, demonstriert Heinemann im 3.Kapitel am Beispiel Polens, indem sie die Systematik des Vorgehens an exemplarischen Fragestellungen hervorhebt: die Rolle Heinrich Himmlers für die rassisch ausgerichtete Vertreibungs-, Ausrottungs- und Siedlungspolitik, die zentralen durch das RuSHA vorbereiteten Planungen für die “Neugestaltung” der annektierten Gebiete, die Realisierung der Planungen und die Verantwortlichkeit hierfür, Vertreibung der bisherigen Eigentümer von ihrem Boden und seine Inbesitznahme durch die Eroberer, Erfassung der “Volksdeutschen” nach Maßgabe einer durch das RuSHA aufgestellten “Deutschen Volksliste”, Möglichkeiten und Chancen “rassisch wertvoller Fremdvölkischer” innerhalb des Systems. Das RuSHA war auf allen rasse- und siedlungspolitischen Ebenen bis “hinunter” zur Ansiedlung, Anleitung und Überwachung der neuen Erbhofbauern durch von ihm geschultes Personal vertreten:

Die Institution war in sieben Abteilungen gegliedert (dazu eine Grafik auf S. 683), Rassenamt, Siedlungsamt, Sippenamt, Fürsorge- und Versorgungsamt, Ahnentafelamt, Verwaltungsamt, Heiratsamt, unterhielt in Litzmannstadt und Prag zwei, zeitweilig sogar drei Außenstellen, ihm waren zunächst auch die sechs Bodenämter unterstellt (ab 1940 auf neun erweitert und von Himmler unmittelbar dirigiert) und 14 SS-Arbeitsstäbe zugeordnet. Da jedoch unbeschadet der auch in diesem Bereich wuchernden nationalsozialistischen Polykratie (hierzu gibt Heinemann zahlreiche Beispiele von Kompetenzüberschneidungen und –konflikten) alle Siedlungsprojekte organisatorisch unter Himmler als “Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums” (RFK) zusammengefasst waren, konnten die RuSHA-Spezialisten nach dem Krieg jegliche personale Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Siedlungspolitik auf den RFK abwälzen und ihr eigenes Mittun daran erfolgreich verschleiern. Das ist auffallend dem dritten der insgesamt vier Leiter des RuSHA (von 1940-1943), Otto Hofmann (geb.1896), gelungen, der als Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, auf der am 20. Januar 1942 die “Endlösung” beschlossen wurde, die Zwangssterilisierung sogenannter “Mischlinge” vorgeschlagen hatte. 1948 wurde er zwar zu 25 Jahren Haft verurteilt, war jedoch drei Jahre später bereits wieder auf freiem Fuß.

Hintergrundkenntnisse über die Schlüsselrolle, die das RuSHA bei der Planung und Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik gespielt hat, waren damals erst ansatzweise vorhanden. Heute wissen wir, dass Hofmann und seine engeren Mitarbeiter ständige Gäste in Himmlers Hauptquartier “Hegewald” und damit an der Beratung über alle relevanten Entscheidungen des Reichsführers SS beteiligt gewesen sind, sich mit diesen Entscheidungen identifiziert und sich für ihre Umsetzung persönlich engagiert haben: Jeder germanische Blutstropfen sollte “ausgelesen” und Rassenmischung erforderlichenfalls durch “Ausmerze” bekämpft werden.

Die Kriterien für den “Rassewert” von Menschen beschrieben die Experten des RuSHA nach “Rassegruppen” I bis III, wobei Körperbau, Schädel-, Nasen- und Haarform, Augenfarbe und rassischer “Gesamteindruck” für die Kategorisierung des oder der Einzelnen ausschlaggebend waren. Die “rassische Bestandsaufnahme” der Bevölkerung der von den deutschen Truppen eroberten Gebiete zwang Tausende von Menschen, sich der Prozedur einer rassischen “Durchmusterung” zu unterwerfen. Die Zuordnung zur Rassengruppe IV (“rassisch unerwünscht”) des RuSHA führte in der Regel zur Ermordung. Menschliche Erwägungen, Gesichtspunkte der Menschenwürde und der subjektive Wille des Individuums waren für die Planer des RuSHA und ihre Exekutoren vor Ort gänzlich irrelevant, da sie sich für berechtigt hielten, im Sinne totaler Verfügbarkeit über Leben und Tod von Millionen ihnen hilflos ausgelieferter Menschen zu entscheiden. Auch an der Jagd auf “gutrassige Kinder” der besetzten Gebiete und an der Zwangsrekrutierung ausländischer Arbeitskräfte für Landwirtschaft, Industrie und Haushalte, Ende 1942 mehr als 4 ½ Millionen Menschen, z.T. euphemistisch als “Wanderarbeiter” bezeichnet, war das RuSHA maßgeblich beteiligt. Dem schnellen Leser ermöglicht Isabel Heinemann in “Zwischenbilanzen” (S. 124, 185, 301, 414, 472 und 559) einen ersten Eindruck. Ein alphabetisches Personenglossar (S. 609-641) stellt in 100 Kurzbiografien die Hauptverantwortlichen des RuSHA vor, im Anhang (S. 683-691) werden sie nach Maßgabe ihrer Funktionen innerhalb des RuSHA-Apparates noch einmal systematisch aufgeführt. Das Gros dieser Tätergruppe war zwischen 1900 und 1909 geboren, ihre Zugehörigen waren also als “Kriegsjugendgeneration” des Ersten Weltkrieges bei Kriegsausbruch 1939 zwischen 30 und 40 Jahre alt, verfügten in der Regel über einen Hochschulabschluss und waren als “Rasseexperten” als Schreibtischtäter und Direkttäter für Theorie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenpolitik persönlich zuständig und damit verantwortlich.

So kann der Leser dieser geradezu akribisch vorgenommenen Untersuchung der Zusammenfassung Isabel Heinemanns (S. 589) nur vorbehaltlos zustimmen: “Die Rasseexperten der SS trugen durch die von ihnen vertretene Rassenideologie, durch die Klassifikation hunderttausender Zivilisten in den besetzten Gebieten nach rassischen Kriterien und durch karteimäßige Erfassung von Juden und 'Judenmischlingen' erheblich zur Radikalisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bei. Mit ihren Musterungen legten sie die Grundlage für die von RKF Himmler angestrebte ethnische Neuordnung Europas, die auf einer rassenpolitischen Hierarchisierung der Menschen basierte. Gestützt auf ihr vermeintlich wissenschaftlich objektives Ausleseverfahren, entschieden sie darüber, wer im neuen Europa unter deutscher Führung als 'erwünscht' oder 'unerwünscht' galt. Diese Einteilung in 'gutes Blut', das heißt deutsche oder eindeutschungsfähige Menschen auf der einen Seite, sowie in 'rassisch Unerwünschte' auf der anderen Seite bedeutete immer auch eine Entscheidung über die Lebenschancen der Menschen.” Dieses unmissverständlich herausgestellt zu haben, macht den Wert der Untersuchung Isabel Heinemanns aus.

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