Seit einigen Jahren ist die Diskussion um das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur hochaktuell. Nicht nur die Interkulturelle Managementforschung beschäftigt sich mit der Wirkung ‘weicher’ Elemente wie Werten und Traditionen auf ‘harte’ Faktoren wie Gewinn und Wachstum. Auch die Volkswirtschaftslehre verlässt angestammte, traditionelle Pfade, um zu untersuchen, wie kulturelle Prägungen nationale Wirtschaftspolitik und damit ganze Volkswirtschaften beeinflussen (z.B. in der Neuen Institutionenökonomik oder durch Einbeziehung anthropologischer Forschungsergebnisse).
Speziell die Transformationserfahrungen der postkommunistischen Länder geben Anlass zu einer erneuten Diskussion darüber, wie nationalspezifische wirtschaftliche, rechtliche und soziale Institutionen zu Erfolg bzw. Misserfolg bei der Übertragung marktwirtschaftlicher Modelle westlicher Prägung beisteuern können.
Der vorliegende Sammelband versucht diese Frage zu beantworten, gleichzeitig aber auch längerfristige wirtschaftliche Entwicklungsprobleme afrikanischer oder islamischer Länder mit Hilfe kultureller Einflüsse zu erklären.
Thomas Eger (Hamburg) veröffentlicht darin die Referate und Korreferate der 33. Jahrestagung des Ausschusses für Wirtschaftssysteme des Vereins für Socialpolitik, die im September 2001 zum Rahmenthema „Kulturelle Prägung, Entstehung und Wandel von Institutionen“ stattgefunden hat. Sie versammelt namhafte deutsche Ökonomen und Länderexperten und lässt auf den ersten, allgemeinen Teil (Zur Theorie der kulturellen Evolution), einen zweiten, regionalspezifischen folgen (Transformation Osteuropas, Wirtschaftliches Handeln im Nahen Osten, China, Japan).
Den ersten, theoretischen Teil eröffnet Helmut Leipold (Marburg) mit dem Artikel „Kulturspezifische Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Regelteilung und marktwirtschaftlicher Arbeitsteilung“, der herausfinden soll, welche kulturellen bzw. institutionellen Regeln die Entstehung und Entwicklung marktwirtschaftlicher Arbeitsteilung beeinflussen. Nach einer kurzen und sehr anschaulichen Zusammenfassung der Positionen, die Adam Smith und Max Weber dazu hatten, stellt Leipold seine eigene kulturvergleichend konzipierte Institutionentypologie vor und illustriert sie an zwei Typen beispielhaft. Ein dominant emotional-tribal gebundenes Institutionengefüge sieht er in den schwarzafrikanischen, ein dominant religiös gebundenes in islamischen Staaten. Anhand dieser Beispiele erläutert Leipold kenntnisreich aber fast nur historisch-beschreibend, worin die grundlegenden Unterschiede zwischen westlichen Marktwirtschaften und denen anderer Kulturen bestehen - was also bei der Übernahme des derzeit erfolgreichen amerikanischen Modells der liberalen Marktwirtschaft problematisch sein könnte.
Interessant an diesem Ansatz ist vor allem, dass Leipold für seine Typologisierung von Volkswirtschaften und Kulturen von der gesellschaftliche Regelteilung als eigentlichem Problem der (markt-)wirtschaftlichen Arbeitsteilung ausgeht. Das beinhaltet sowohl das Teilen von Aufgaben und Tätigkeiten an sich als auch das zugrundeliegende Einvernehmen - die Akzeptanz der zugrunde liegenden Regeln seitens der Betroffenen. Dies unterstreicht auch Hans G. Nutzinger (Kassel) in seinem Kommentar: er hält Leipolds Problemaufriss für außergewöhnlich fruchtbar und weiterführend.
Der Titel des zweiten Beitrags „Hayeks Theorie der kulturellen Evolution: Eine Kritik der Kritik“ von Horst Feldmann ist Programm. Nach einer sehr kurzen Synopse der über Jahrzehnte entwickelten Hayekschen evolutorischen Theorie von der Entstehung der heutigen Zivilisation durch Regeln und Institutionen, widerlegt der Autor Punkt für Punkt Vorwürfe von Kritikern wie Vanberg, Hodgson, Voigt u.a. Es geht darum, dass der Geltungsbereich der Theorie eng begrenzt sei, der methodologische Individualismus dem evolutionären Ansatz widerspreche, der Begriff des Regelfolgens naturalistisch, die Theorie unvollständig, teleologisch und nicht falsifizierbar sei, die Thesen gering bestimmbar, das Konzept der Gruppenselektion widersprüchlich und die empirische Evidenz gegenteilig. Letztendlich zeigt Feldmann natürlich (bei einigen Punkten m. E. allerdings weniger überzeugend), dass sämtliche Vorwürfe unberechtigt sind.
Horst Brezinski (Freiberg) kritisiert daher auch im Korreferat Feldmanns Vorgehensweise: sie unterschlage, dass Hayeks Verdienste unbestritten sind und zu einem besseren Verständnis der kulturellen Prägung der Wirtschaft beitragen. Außerdem sei seine Theorie keine vollständige evolutionäre Wirtschaftstheorie, sondern biete nach fünfzig Jahren permanenter Weiterentwicklung natürlich Angriffspunkte.
Den zweiten Teil, die „Analyse unterschiedlicher Kulturen“ eröffnet Stephan Panther. Er untersucht auf nationalstaatlicher Ebene erklärungsmächtige „Kulturelle Faktoren in der Transformation Osteuropas“, ohne die eine Betrachtung des Umwandlungsprozesses unvollständig sei. Bei der Erklärung von Erfolg und Misserfolg zieht Panther eine Grenze zwischen ‘lateinischen’ und ‘orthodoxen’ Staaten und setzt dies mit dem Vorhandensein bzw. der Abwesenheit zivilgesellschaftlicher Traditionen gleich: lange Zugehörigkeit zum lateinischen Europa geht einher mit stärkeren zivilgesellschaftlichen Traditionen, was wiederum einen größeren Transformationserfolg in Richtung Marktwirtschaft bedeute. Dies wird theoretisch und historisch erläutert und abschließend überprüft: mithilfe ökonometrischer Schätzverfahren versucht Panther nachzuweisen, dass ‘Latinität’ tatsächlich den Transformationserfolg positiv beeinflusst.
Einige kritische Anmerkungen: bei der anfänglichen Grenzziehung zwischen den Staaten fallen wichtige Länder kommentarlos unter den Tisch und ‘willkürliche’ historische Grenzziehungen werden kaum problematisiert; der Übergang von einer religionsbasierten Aufteilung zum Konzept Zivilgesellschaft erfolgt relativ unvermittelt; der historische Grundriss ist oberflächlich (v. a. pauschalisiert er interne ‘lateinische’/ ‘orthodoxe’ Unterschiede). Insgesamt erscheint mir das Argument teleologisch. Ist es nicht - vereinfacht gefragt - common sense, dass der Übergang zu einer (wie auch immer definierten) westlichen (Wirtschafts-) Ordnung bei einer Gesellschaft problemloser von statten geht, die westlich vorgeprägte formelle/ informelle Institutionen besitzt?
Transformationsexperte Hans-Jürgen Wagener (Frankfurt O.) liest in seinem Kommentar den Pantherschen Beitrag einmal als „story“ (die er ihm ‘abkauft’, auch wenn er ebenfalls eine Fehlklassifizierung vermutet) und einmal als „Analyse“ (bei der er mehrere Probleme, z.B. hinsichtlich des Erklärungsmodells Zivilgesellschaft oder der Formulierung und des Beweises der Hypothesen aufzeigt).
Volker Nienhaus (Bochum) beschreibt in seinem Beitrag „Kulturelle Prägungen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Handelns im Nahen Osten“ äußerst interessant und kenntnisreich, wie Tradition und Religion Bereiche wie einzelwirtschaftliches Handeln oder die Finanzwirtschaft (v.a. Zinsnahme und Bankensektor) im Nahen Osten beeinflussen. Er widerlegt solche Missverständnisse und Allgemeinplätze wie der Islam sei ein monolithischer Block oder die (Glaubens-)Grundsätze widersprächen per se einem marktwirtschaftlichen System. Damit liefert der Regionalexperte Nienhaus viele Einsichten, die nicht nur den kulturellen Kontext wirtschaftspolitischen Handelns, sondern auch derzeit aktuelle politische Fragestellungen beleuchten helfen.
Leider mangelt es dem sehr deskriptiven Beitrag m.E. an einer eingängigen Strukturierung durch eine nachvollziehbare These, so dass Ergebnisse eher implizit mitgeteilt werden. Auch auf ein Schaubild, welches Religion und Tradition als Komponenten der Kultur zeigt, wird im Text nicht weiter eingegangen. Es soll diese aber wohl als Einflussfaktoren islamischer Wirtschaftsmodelle darstellen.
Außerdem fragt Uwe Vollmer (Leipzig) in seinem Korreferat v. a., warum die als annähernd gleich dargestellten verhaltensprägenden Wertvorstellungen in Islam und Christentum zur Entstehung so unterschiedlicher Herrschafts- und Wirtschaftsformen geführt haben.
Der Beitrag des China-Experten Carsten Herrmann-Pillath (Witten/ Herdecke) heißt „Dekonstruktion von Kultur als Determinante wirtschaftlicher Entwicklung: eine chinesische Fallstudie“. Aufgrund der großen kulturellen Diversität weist der Autor besonders für den Fall China die empirische Notwendigkeit einer Dekonstruktion des Transformationsprozesses nach und stellt eine zunehmende Tendenz regional divergierender Entwicklung fest. Daher beschäftigt sich Herrmann-Pillath mit der subregionalen Komponente anhand der Region des unteren Yangzi-Flusslaufs (Shanghai und Anrainerprovinzen Zhejiang und Jiangsu). Aufschlussreich und detailliert ist die Beschreibung und Analyse der verschiedenen regionalen Wirtschaftsformen. Als Beispiele dienen das „Wenzhou“-Modell einer privaten Familienwirtschaft und des „Sunan“-Modell einer kollektiven Kommunalwirtschaft. Dabei werden die ‘Modelle’ als kognitive Schemata verstanden und die Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels als lokalkulturelles Muster aufgezeigt.
Eigentliches Erklärungsziel ist die qualitativ und quantitativ divergierende gesamtwirtschaftliche Leistung. Methodologisch aufwändig werden nachvollziehbare Kausalhypothesen in komplizierte Schemata umgeformt, um letztendlich zu zwei simpel anmutenden Schlussfolgerungen zu kommen. Einerseits sei Kultur kognitiv verankert und dynamisch und wirke indirekt. Anderseits sei China keine einheitliche und integrierte Wirtschaftsordnung, die als Ganzes einen institutionellen Wandel durchläuft, sondern vielmehr sei die Konkurrenz ganz unterschiedlicher Modelle von Teilordnungen ausschlaggebend für Chinas Erfolg (S. 180). Angesichts dessen hinterfragt denn auch Thomas Apolte (Münster) in seinem Korreferat, ob ein solcher methodologischer Aufwand gerechtfertigt ist.
Der letzte Aufsatz „Wirtschaftspolitische Reformen in Japan: Kultur als Hemmschuh?“ von Werner Pascha fragt, ob die in der derzeitigen Lage nötigen Reformen durch kulturelle Faktoren gefährdet sein könnten. Ausgehend vom Vorgängerkonzept des bis zum Ende der 80er Jahre dominierenden ‘japanischen Modells’ des sog. Eisernen Dreiecks (zwischen Großindustrie, Ministerialbürokratie und der führenden Liberal-Demokratischen Partei), beschreibt er dessen Entstehung und Probleme und postuliert für heute eine Irreversibilität, die eine Rückkehr zu diesem alten System verbietet. Pascha fragt danach, wie ein neuer Rahmen beschaffen sein könnte und ob ein solcher stabiler Zustand erreichbar ist. Die vorgeschlagenen Lösungen (regelorientierte Lösung, Agenturlösung) diskutiert er vor dem japanspezifischem Hintergrund der Institutionen, ‘regulative beliefs’ und interpersonalen Netzwerkbeziehungen. Außerdem stellt er zwei dynamisierte Alternativen zur Förderung einer verlässlichen Ordnung vor: Aspekte der direkten Demokratie einerseits und das Potential eines intergouvernementalen Wettbewerbs andererseits. Auch wenn einzelne Elemente in der Realität schon festgestellt werden, überwiegt bei Pascha insgesamt die Skepsis, v.a. da er eine sehr langsame Änderung der langfristigen Beziehungsgeflechte vermutet.
Der zu diesem Beitrag auf der Tagung erfolgte Kommentar von Jens Hölscher (Brighton) fehlt in der Veröffentlichung, was schade ist, da die konzeptionelle Einbeziehung der Korreferate bzw. Kommentare positiv bemerkenswert ist, insofern als sie eine noch anregendere, da kontroverse Lektüre möglich macht. Die mitgelieferten „Gegenpositionen“ greifen z.T. beim Lesen aufgefallene Fragen auf oder zeigen wenigstens eine Alternativmeinung dazu, wie sich der jeweilige Aufsatz in den kritischen Fachdiskurs einfügt.
Abschließend sei generell angemerkt, dass dem gesamten Sammelband ein Bogen i.e. eine innere Klammer fehlt. Es herrscht Vielfalt - hinsichtlich der disziplinären Schulen, der Methodologien und (Kultur-) Definitionen. Jeder Beiträger verortet sich in seinem eigenen ‘set’: (Neue) Institutionenökonomik und Spieltheorie; evolutionäre Ansätze oder methodologischer Individualismus; Kulturanthropologie und Kognitionspsychologie; (Interkulturelle) Managementtheorie; Moderne Politische Ökonomie usw. Die jeweils gefundenen Einzelantworten und -ergebnisse wirken z. T. in ihrer Kombination und Zusammensicht ungleich überzeugender. Man fragt sich, ob mehr Kooperation oder gegenseitige Befruchtung möglich wären und sich dadurch nicht ‘Synergie-Effekte’ realisieren lassen würden.
Angesichts der offensichtlichen Diversität und z. T. Unschärfe ist man versucht, Thomas Apoltes Kritik bezüglich Hermann-Pillaths Beitrag zu zitieren, „dass die Ökonomen immer mehr im Dunkeln stochern, je weiter sie sich - durchaus im Namen eines tiefer gehenden Verständnisses - von den Wurzeln ihrer methodologischen Traditionen entfernen“ (S. 187).
Positiv ausgedrückt, versucht das vorliegende Buch genau mit seiner Einbindung verschiedener namhafter deutscher Ökonomen in einen thematischen Sammelband genau diese Ansätze zueinander in Bezug zu setzen (und mehr Licht ins Dunkel zu bringen). Daher sind weitere solche Publikationen äußerst wünschenswert. Außerdem ist der Band auch für Interessenten der jeweiligen Einzelaspekte zu empfehlen. Einzig wünschenswert aus praktischer Hinsicht wäre eine Liste mit Kurzinformationen zu den Autoren gewesen.
Alles in allem bietet der schmale Band eine sehr interessante Lektüre, die zum Denken und Diskutieren anregt und weitergehenden Forschungsbedarf aufzeigt. Das einleitend formulierte Ziel, „einige Impulse für die zukünftige Forschung auf diesem Gebiet“ (S. 13) zu geben, wurde somit auf eine äußerst spannende, kontroverse und aufschlussreiche Weise erreicht.