„Welche Form das Mahnmal auch immer annehmen wird, es wird ein Ort mit einer sakralen Aura werden. Wer etwas über die deutsche Zivilreligion wissen will, wird sie hier studieren können. An diesem Ort werden Rituale inszeniert werden, die die Deutschen mit letzten Sinnfragen ebenso konfrontieren wie mit der Frage nach dem politisch-moralischen Zustand des deutschen Gemeinwesens heute. [...] Das Mahnmal ist ein zivilreligiöses Denkmal, das vor einer ungebrochenen Zivilreligion warnt.“1 Diese Einschätzung des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ bezieht sich auf dessen allgemeinen Stellenwert in der politischen Kultur. Inwieweit tatsächlich „ein Ort mit einer sakralen Aura“ entstehen wird, hängt von der künftigen öffentlichen Rezeption ab, die ihrerseits von der künstlerischen und konzeptionellen Gestaltung beeinflusst wird. Bekanntlich hat der Deutsche Bundestag im Juni 1999 beschlossen, Peter Eisenmans Entwurf eines „Stelenfeldes“ zu realisieren – und zwar verbunden mit einem „Ort der Information“, der die Aussage des Monuments konkretisieren soll. Damit gelangten die Vertreter unterschiedlicher Auffassungen zu einem vorläufigen Kompromiss; die weitere Planung wurde der (1999/2000 gegründeten) „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ übertragen 2. Im November 2001 veranstaltete diese Stiftung eine interdisziplinäre Expertentagung, um für den Ort der Information weitere Anregungen zu erhalten 3. Die Beiträge der Konferenz liegen nun als Sammelband vor.
Wer den Entscheidungsprozess nicht im Detail verfolgt hat, beginnt die Lektüre am besten mit dem Anhang, der die Diskussionsgrundlagen dokumentiert. Eine Historikerarbeitsgruppe (bestehend aus Eberhard Jäckel, Andreas Nachama, Reinhard Rürup und der Stiftungsgeschäftsführerin Sibylle Quack) hatte dem Kuratorium der Stiftung im Juli 2000 ein Grundkonzept für den Ort der Information vorgelegt (S. 249-252). Die Präsentation soll demzufolge drei Aufgaben erfüllen: Sie soll das künstlerisch gestaltete Denkmal durch historische Inhalte ergänzen, eine „Personalisierung und Individualisierung“ der Thematik leisten sowie auf sonstige Institutionen des Gedenkens verweisen. Angeregt wurden ein Foyer und vier weitere Bereiche: ein „Raum der Stille“ mit knappen Basisinformationen zur Ermordung der Juden, ein „Raum der Schicksale“ mit „ausgewählten Familiengeschichten oder Biographien“, ein „Raum der Namen“ mit einer Datenbank aller ermittelbaren Opfer und ein „Raum der Orte“ mit näheren Angaben zur europäischen Dimension der Verbrechen. Das Kuratorium stimmte diesem Ansatz zu und beschloss gleichzeitig, den Ort der Information unterirdisch zu realisieren (an der südöstlichen Ecke des Stelenfeldes).
Im März 2001 lieferte die Historikerarbeitsgruppe einen zweiten Bericht, der einige Aspekte präzisierte (S. 253-263). Die tägliche Besucherzahl der Ausstellung wird auf etwa 3.000 Personen geschätzt; angesichts der vorgesehenen Fläche von etwa 800 Quadratmeter sei dieser Andrang nur bei sehr kurzer Verweildauer und entsprechend komprimierten Informationsangeboten zu bewältigen. Für das heterogene Publikum aus Deutschen und Ausländern, alten und jungen Menschen müsse das Material gleichermaßen verständlich sein. Als Arbeitspapier für das Symposium vom November 2001 diente ein drittes, weit detaillierteres Konzept – der „Drehbuchentwurf“ der Stiftungsgeschäftsstelle (S. 263-292). Darin wird die „konsequente inhaltliche Fokussierung auf die Perspektive der Opfer“ erläutert, aber auch vorgeschlagen, Täter und Zuschauer „im Hintergrund einzubeziehen“. Die Ausstellungsfläche ist mit 572 qm für die vier Themenräume sowie 399 qm für Lobby und Foyers angegeben (d.h. 971 qm Gesamtfläche).
Für die Diskussion nicht weniger wichtig war der Gestaltungsentwurf, den das Kuratorium im März 2001 gebilligt hatte. Der Tagungsband enthält dazu eine Grundrissskizze (S. 36 f.) und einige computersimulierte Abbildungen (S. 38-41), jedoch keinen verbalen Erläuterungsbericht. Dies ist ein gewisser Mangel, denn während das historisch-didaktische Konzept bei den Teilnehmern grundsätzliche Zustimmung fand, stieß die gestalterische Seite auf erhebliche Kritik. Die Ausstellungsdesignerin Dagmar von Wilcken hatte eine „Fortsetzung des Stelenfeldes in überdachter Form“ entwickelt (so Salomon Korn, der dies positiv wertete). Im Raum der Stille sollten beleuchtete Bodenplatten die Breite und Länge der oberirdischen Stelen wieder aufnehmen; im Raum der Schicksale sollten Stelenelemente „wie Stalaktiten“ von der Decke hängen und als Informationsträger dienen; im Raum der Namen waren stelenförmige Pulte, im Raum der Orte ähnlich abgemessene Sitzbänke vorgesehen 4. Das Symposium zum Ort der Information hatte nun drei miteinander verbundene Schwerpunkte: Architektur und Kunstgeschichte, Geschichte und historische Konzeption sowie Rezeption und Vermittlung. Nach Plenumsvorträgen und Kommentaren teilte man sich in Arbeitsgruppen auf, die durch Berichterstatter schließlich wieder zusammengeführt wurden. Die Gliederung des Buchs entspricht diesem Verlauf exakt – was zu einigen Redundanzen führt, aber das Meinungsklima recht gut widerspiegelt.
Den Einstieg bilden kurze Vorworte des Bundestagspräsidenten und Kuratoriumsvorsitzenden Wolfgang Thierse, der Herausgeberin Sibylle Quack und des (inzwischen ehemaligen) Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin. Alle drei stellen klar, dass der Ort der Information nicht als Konkurrenz zu den vorhandenen Gedenkstätten gedacht ist, sondern eher als „Portal“ dienen soll. Außerdem findet sich im Einleitungsteil ein Beitrag von Peter Eisenman, der zwar keinen direkten Bezug zum Hauptthema der Tagung besitzt, aber dennoch lesenswert ist. Unter dem Eindruck des 11. September 2001 fragt Eisenman, wie es um die Symbolisierungsfähigkeit der Architektur bestellt sei, „wenn die Medien unmittelbare, lebendige Symbole erzeugen“ (S. 23). Weder die Abstraktion noch gegenständliche Darstellungen noch Collageverfahren könnten eine vergleichbare Prägnanz erreichen wie die Livebilder der Medien. Sein Berliner Denkmalsprojekt liefere bewusst keine Repräsentation des Holocaust, sondern werde „eine Erfahrung von Raum und Zeit aus erster Hand“ schaffen, „die dem Gefühl entsprechen könnte, allein in einem Lager zu stehen“ (S. 30). Dieser nicht ganz unproblematische Ansatz eines „affektiven Environments“ würde eine genauere Auseinandersetzung verdienen 5.
Winfried Nerdinger, der den Themenschwerpunkt „Architektur und Kunstgeschichte“ eröffnet, deutet Eisenmans Entwurf als „begehbare Skulptur“ (S. 49) und nennt Vergleichsbeispiele. Zutreffend weist er darauf hin, dass die Bezeichnung „Stelenfeld“ etwas irreführend sei, denn die Vielzahl der niedrigeren Betonquader gleiche eher Särgen als Stelen. Dies unterstreiche den Eindruck einer „Zone des Todes und des Gedenkens inmitten des Lebens“ und sei durchaus adäquat (S. 51). Nerdinger plädiert allerdings dafür, zwischen dem oberirdischen und dem unterirdischen Denkmalsteil eine entschiedene Trennung vorzunehmen (S. 54 f.): „Beim steinernen Grab- und Denkmalfeld mag eine gewisse Assoziationsbreite angemessen sein, aber an einem Ort der Information [...], wo das konkrete Leid vermittelt und erfahrbar werden soll, [...] sind weder Undeutlichkeit noch Mehrdeutigkeit, sondern Rationalität und Aufklärung [...] angebracht. Natürlich muss eine architektonische Vermittlung zwischen Gedenkfeld und Ort der Information stattfinden, aber ich halte eine Durchdringung für falsch, denn dadurch würden auch zwei völlig verschiedene Formen des Gedenkens vermengt und gegenseitig beeinträchtigt. Wird das ‘Stelenfeld’ in die Tiefe ‘durchgedrückt’ oder gar fortgesetzt, entsteht fast zwangsläufig die Assoziation eines Hinabsteigens zu den Gräbern und dann ist natürlich die fatale Assoziation zu Gruft, Krypta und Reliquien nicht mehr weit.“ In diesem Punkt besteht unter den Referenten bzw. Autoren ein klarer Konsens: Eine „Gefühlsüberwältigung“ (Christoph Stölzl, S. 67) und die Nähe zu sakraler Architektur werden abgelehnt; der Ort der Information solle vielmehr „als neutraler Hintergrund für die Sprache der Dokumente“ dienen (Arbeitsgruppenbericht von Werner Durth, S. 195). Dabei ist den Diskutanten bewusst, dass es eine ‘reine’ Dokumentation ohne jeden Inszenierungscharakter nicht geben kann. Zu empfehlen sei aber eine möglichst zurückhaltende Art der Gestaltung.
Für den Themenkomplex „Geschichte und historische Konzeption“ leistet Ulrich Herbert einen fundierten Beitrag. Exemplarisch schildert er zunächst die Verfolgung und Ermordung der Juden aus dem weißrussischen Glubokoje, damit die historischen Inhalte gegenüber dem Gedenkdiskurs nicht ins Hintertreffen geraten. Bezüglich des Orts der Information schlägt Herbert drei Kernelemente vor (S. 78-84): erstens eine Darstellung der ermordeten Juden selbst, d.h. ihres Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg, ihres Leidens und Sterbens während der Kriegsjahre sowie – im Fall des Überlebens – ihres Umgangs mit der Erinnerung; zweitens eine Veranschaulichung der europäischen Dimension des Judenmords; drittens eine Einbeziehung der nationalsozialistischen Politik und der deutschen Tätergesellschaft (die auch unabhängig von der „Topographie des Terrors“ verständlich werden müssten). Durch den letztgenannten Aspekt sei es möglich, die Verfolgung und Ermordung nichtjüdischer Gruppen ebenfalls in den Blick zu bringen. Eberhard Jäckel stimmt als Kommentator weitgehend zu, will die Präsentation der Opfernamen im Sinne einer „symbolischen, virtuellen Grabinschrift“ aber aufgewertet sehen (S. 91). Dies ist ein Gedanke, den der von Jäckel mitbegründete Förderkreis seit den Anfängen des Projekts verfolgt, wobei stets auf das vermeintliche Vorbild Yad Vashem verwiesen wird. Allerdings ist vor einem deutsch-israelischen „Verwechseln der Rollen“ zu warnen (Philippe Burrin, S. 238). Die meisten Beteiligten haben dies inzwischen auch erkannt, und so wird die Namenssammlung wohl in den Ort der Information aufgenommen werden, jedoch nicht sein alleiniges Zentrum bilden.
Im Themenbereich „Rezeption und Vermittlung“ bemühen sich Peter Steinbach und Reinhard Rürup, den Stellenwert des Orts der Information für die deutsche Erinnerungslandschaft zu skizzieren. Beide würdigen die dezentrale Erinnerungskultur und hoffen, dass das Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Gedenkstätten an den historischen Orten eher stärken als schwächen wird. Steinbach insistiert noch einmal, dass der Ort der Information zu keiner „Theologisierung des Holocaust“ führen dürfe (S. 122), sondern als „Denkstätte“ wirken solle (S. 125). Auch Hanno Loewy plädiert für einen „Ort der Artikulation und Präzisierung von Fragen“ (S. 183). Dies bedeute, die Besucher und ihre Imaginationen ernst zu nehmen (S. 185): „So lückenhaft das Wissen um den Holocaust bei großen Teilen der potentiellen Besucher sein mag, so sicher kann davon ausgegangen werden, dass die Besucher schon eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Holocaust (...) mitbringen werden.“ Daher sei es sinnvoll, die Erinnerungsgeschichte eigens zu thematisieren, vor allem aber einen der vier Räume für Wechselausstellungen zu nutzen, um auf veränderte Orientierungsbedürfnisse reagieren zu können. Die zugehörige Arbeitsgruppe trat ebenfalls für solche „flexibilisierte[n] Formen der Informationsvermittlung“ ein (Bericht von Harald Welzer, S. 203).
Das Abschlusspodium der Tagung (S. 219-245) bietet wenig Neues. Der israelische Historiker David Bankier stellt den Deutschen jedoch eine Kernfrage (S. 224): „Welches wird Ihr Narrativ sein? Welche Geschichte werden Sie in Ihrem Denkmal erzählen?“ Die Antwort hängt nun entscheidend davon ab, wie der „Ort der Information“ tatsächlich umgesetzt wird. Die „Ergebnisse und Empfehlungen“ der Konferenz hat Norbert Frei angenehm pragmatisch resümiert (S. 239-245): Im Eingangsbereich der unterirdischen Anlage seien Hinweise zur Bedeutung und Genese des Denkmals sowie zur deutschen Erinnerungsgeschichte seit 1945 zu geben. Am Beginn des eigentlichen Rundgangs solle ein „Raum der Namen und Gesichter“ stehen. Darauf könne ein „Raum der Biographien“ folgen, wobei indirekt auch die Täter und Kollaborateure zu berücksichtigen seien. Ein „Raum der Orte und Länder“ verdeutliche die europäische Ausdehnung der Ereignisse sowie das heutige Erscheinungsbild der historischen Stätten. Ein „Raum der Wechselausstellungen“ ermögliche Offenheit und Gegenwartsbezüge. Im Ausgangsbereich müsse es schließlich Hinweise auf vertiefende Informationsangebote geben. Für die gestalterische Seite unterstreicht Frei, dass neutrale Funktionsräume anzustreben seien, um inhaltliche Determinierungen zu vermeiden.
Auf die Gretchenfrage, wie mit den Empfehlungen vom November 2001 weiter verfahren wird, erhält der Leser des Buchs leider keine Antwort. Wolfgang Thierse äußert sich wolkig (S. 12): „Viele, aber nicht alle, kritischen Anregungen der Experten konnten noch berücksichtigt werden.“ Offen bleibt, ob das bisherige, nahezu einhellig abgelehnte Gestaltungskonzept revidiert wird. Glaubt man einigen im Laufe des Jahres 2002 erschienenen Presseartikeln, ist dies nicht der Fall 6. Ein aktuelles Nachwort hätte hier Klarheit schaffen können. Sollte die erwähnte Kritik von den politischen Entscheidungsträgern missachtet werden – wie zu befürchten ist –, so wäre dies angesichts der gesamten Planungsgeschichte des Denkmals für die ermordeten Juden Europas zwar keine Überraschung, aber doch eine eklatante Brüskierung der beteiligten Fachleute. Ein solcher Ausgang wäre fatal, denn die Umgestaltung der Neuen Wache von 1993 lehrt, dass einmal getroffene (Fehl-)Entscheidungen kaum mehr korrigierbar sind.
Anmerkungen:
1 Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland? Frankfurt a.M. 2001, S. 152.
2 Website: <http://www.stiftung-denkmal-fuer-die-ermordeten-juden-europas.de>
3 Als Resümees der Tagung vgl. bereits Jan-Holger Kirsch, Abgründiges Erinnern. Symposium „Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information auf dem Weg zur Realisierung“. Ein Bericht, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 105/2002, S. 29-34; Stefanie Endlich, „Face to Face with History“?, in: kunststadt stadtkunst 49 (2002), S. 19; Hanno Loewy, Das Denkmal. Potsdamer Platz, die dritte (2001), in: ders., Taxi nach Auschwitz. Feuilletons, Berlin/Wien 2002, S. 150-163, hier S. 160-163.
4 Vgl. Stefanie Endlich, Die Stele als Design-Prinzip, in: kunststadt stadtkunst 48 (2001), S. 11.
5 Vgl. die sachkundigen Hinweise von Stefanie Endlich, Bilder und Geschichtsbilder. Kunst und Denkmal als Mittel der Erinnerung, in: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 3-22.
6 Vgl. -ry, Mahnmal: Grünes Licht für Beton-Stelen, in: Tagesspiegel, 2.2.2002, S. 21; Tsp, Mahnmal: Termin nicht gefährdet, in: ebd., 20.4.2002, S. 25; tl, Holocaust-Denkmal: Infos am Bauzaun und am Bebelplatz, in: ebd., 1.6.2002, S. 29; Ilona Lehnart, Wenn der Frost geht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2002, S. 35.