Cover
Titel
Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens


Autor(en)
Stehr, Nico
Reihe
stw 1615
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Institut für Politikwissenschaften, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die moderne Welt lässt sich als das Ergebnis von weltweit zwar mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verlaufender, aber dennoch eng miteinander verschränkter und sich wechselseitig beeinflussender Prozesse wie Verweltlichung, Verwissenschaftlichung, Industrialisierung oder Demokratisierung verstehen. Diese Entwicklung ist heute in vielerlei Hinsicht an einem Wendepunkt angelangt. Gerade der von der Wissenschaft fortlaufend produzierte Erkenntnisgewinn wird von der Bevölkerung nicht mehr ohne weiteres als eine Bereicherung unseres Lebens, sondern in steigendem Maße als mögliche Bedrohung angesehen. Die sich aus diesem Umstand ergebende Frage nach der Regelung von Überwachung und Kontrolle neuer Erkenntnisse bestimmt sowohl die gesellschaftliche wie auch die politische Tagesordnung in unseren zunehmend „zerbrechlichen Gesellschaften“ (S. 8). Der Soziologe Nico Stehr fordert in seinem neuesten Buch deshalb mit Recht die Einführung eines neuen Politikfeldes, der so genannten „Wissenspolitik“. Ziel wissenspolitischer Maßnahmen sollen aber nicht strikte Verbote sein. Wissenspolitik wird von Stehr als flankierende Maßnahme im Sinne staatlicher Deregulierung gesehen. Im Mittelpunkt des neuen Politikfeldes stehen die „strategischen Bemühungen, neue Erkenntnisse und technische Erfindungen und damit zugleich die Zukunft im Zentrum der kulturellen, ökonomischen und politischen Matrix der Gesellschaft zu verankern“ (S. 10).

Zweck des vorliegenden Buches ist es nun, die gegenteiligen Standpunkte in der Debatte und mögliche Wege und Chancen der Regulierung aufzuzeigen. Im Mittelpunkt steht dabei zwangsläufig die Frage, welche Erkenntnisse wie und von wem überwacht werden sollten. Im ersten von insgesamt fünf längeren Kapiteln erläutert Stehr zur Einführung wichtige Unterschiede soziologischer Wissensverständnisse. Kern dieses „Wissen über Wissen“ (S. 22) bildet die für alle weiteren Schlussfolgerungen unabdingbare Unterscheidung zwischen dem heute bereits vorhandenen Bestand an objektiviertem Wissen und dem ihm gegenübergestellten neuen bzw. zusätzlichen und realitätsverändernden Wissen. Wissen sollte ein allgemein zugängliches, d.h. „public good“ (S. 28) sein. Es stellt ein profundes Handlungsvermögen und damit eine grundlegende Fähigkeit zum sozialen Handeln dar. Stehr tritt in diesem Zusammenhang Einwänden entgegen, dass zusätzliches Wissen sich erstens automatisch selbst realisiert, zweitens selbst schützt und drittens nur bereits Mächtigen zugute kommt. Wären diese Einwände richtig, so könne es überhaupt keine Überwachung des Wissens geben.

Im folgenden Kapitel geht es deshalb um die Problemstellung, wie generell „mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Fertigkeiten umzugehen sei“ (S. 86). Wissenspolitik präsentiert sich als eine Maßnahme, die außerhalb des Wissenschaftssystems formuliert wird und beispielsweise Eigentumsvorbehalte an neuen Erkenntnissen, Beschränkungen beim internationalen Transfer von Wissen und Informationen oder umfassende Verbote zu ihrem Gegenstand hat. 1 Sämtliche Überlegungen, Wissen politisch zu steuern, müssen die immer schon vorhandenen internationalen Dependenzen berücksichtigen. Wissenspolitik beinhaltet zum heutigen Zeitpunkt in erster Linie „reaktive“ (S. 96) Strategien, sie befasst sich also mit bereits entstandenen Problemen bzw. deren Folgen. In naher Zukunft muss nach Stehrs Ansicht zusätzlich auf noch nicht absehbare bzw. unter Experten strittige Folgen schnell und umfassend reagiert werden können. Den Einwand, dass es Wissenspolitik schon immer gegeben habe, kontert Stehr mit Verweis auf den erheblich zugenommenen Stellenwert und Umfang des der Wissenspolitik gewidmetem ökonomischen und politischen Kapitals (S. 112). 2

Nahezu alle Bereiche der industriellen Gesellschaft sind von rechtlichen Normen (juristische Kontrolle; administrative Implementation) geprägt. Wie im dritten Kapitel gezeigt wird, geht es im Bereich des Wissens überwiegend um die Bereiche Verhandlung (Konstruktion neuer Regeln) und Restriktion neuer Erkenntnisse, d.h. um deren Organisationsform und Artikulation. Dies führt zu der wichtigen Frage, ob die regulatorischen Praktiken demokratisch organisiert sein sollten. Aufgrund vorgeblich äußerst spezialisierter Wissensformen wird heute auf allen Stufen von Verhandlungsabläufen auf Experten und deren Wissen zurückgegriffen. Ziel sollte es indessen sein, der Partizipation von Laien ein größeres Gewicht zu geben. 3 Die „bewußte Steuerung und Planung der ökonomischen und gesellschaftlichen Anwendung von zusätzlichen Erkenntnissen und damit der sozialen Wirkungen von Wissen durch Regeln und Sanktionen, war schon immer Teil des modernen ‚regulatorischen‘ Apparats der Gesellschaften“ (S. 94). Die Grenzen einer solcherart demokratisierten Wissenspolitik erläutert Stehr überzeugend im Rahmen eines Kataloges von Statements wie „Es ist zu früh“, „Man kennt die Folgen erst nach der Anwendung des Wissens“, „Wir können uns nicht leisten ohne es zu leben“, „Es ist zu spät“, etc.

Eine Erleichterung für eine zukünftige Wissenspolitik stellt die im vierten Kapitel skizzierte und bereits in vielerlei Hinsicht sichtbare Moralisierung der Märkte dar. Moralische Argumente sind entgegen der Erwartung vieler Industrieunternehmen (z.B im Bereich der Gentechnik) auf breiter Front in die Diskussion der Bevölkerung eingedrungen. Das Konsumentenverhalten hat sich nicht als komplett steuerbar erwiesen, moralische Argumente spielen über reine Nützlichkeitserwägungen hinaus eine große Rolle bei der Kaufentscheidung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Die Wahl von ökologischen Produkten bildet dabei erst den Anfang. Die Moralisierung wird von Stehr der grundsätzlichen Eigendynamik der Märkte zugeschrieben. Wir können heute sogar von einer „wissensbasierten Ökonomie“ (S. 234) sprechen: Neues bzw. zusätzliches Wissen wird zunehmend zur wichtigsten Quelle ökonomischer Wertschöpfung. Ein Problem stellt die zunehmende Privatisierung von Wissen dar, d.h. der gesellschaftliche Zugang wird durch Firmen und Patente versperrt.

Abschließend geht es um die Frage, wie eine Wissenspolitik unter den Vorzeichen von Massengesellschaft und ökonomischer, kultureller sowie ökologischer Globalisierung aussehen könnte. Wissenspolitik definiert hier einen neuen Kontext für die bestehende Risikodiskussion. Es ist keine gesellschaftliche Instanz mehr sichtbar, der man die zukünftigen Schäden zurechnen kann. 4 Wie gehen wir mit dem Faktor des Nichtwissens um? Die Versprechen und Ängste die mit der Entwicklung im Zusammenhang stehen, sind gleichzeitig der Motor des neu entstehenden Feldes der Wissenspolitik. Nicht die Wissenschaft, sondern ihre Handlungsmöglichkeiten müssen reguliert werden. Kann das derzeitige politische System diesem Entscheidungsbedarf überhaupt nachkommen? Dem Nationalstaat wird in der Zukunft nur die Aufgabe zufallen, die wissenspolitischen Vorgaben und Forderungen globaler Institutionen, internationaler Vereinbarungen und sozialer Bewegungen umsetzen (S. 273) müssen.

Die so genannte ‚Wissensgesellschaft‘ wird auch in Deutschland in den Bereichen Wirtschaft und Politik ständig propagiert. Der Zugang zum Wissen ist eine wichtige gesellschaftliche Ressource und führt deshalb in der Regel zu politischen und sozialen Auseinandersetzungen. Welches Fazit lässt sich aus den in jeder Hinsicht umfassenden und instruktiven Überlegungen Stehrs ziehen? Zuallererst die Forderung, dass die Wissenschaft sich insgesamt der Gesellschaft wieder annähern muss: Mögen die Auslöser der Forderung nach einer Wissenspolitik auch wesentlich im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften zu finden sein, so werden sich gerade die Sozial- und Geisteswissenschaften eingehend mit den gesellschaftlichen Folgen dieses Prozesses befassen müssen. Die ‚Artenvielfalt‘ im Bereich der Regulierungsformen kann zu einem Indikator für das soziale Beziehungsgeflecht innerhalb der Gesellschaft und zwischen Gesellschaft und ihren Institutionen werden. Welche Rolle kommt der Geschichtswissenschaft in einem solchen Projekt zu? Die Historische Wissenschaftsforschung könnte hier einen wichtigen Part spielen, da sie auf interdisziplinärer Ebene einen sozialwissenschaftlichen Zugang zu dem markiert ‚was die Wissenschaftler tun‘.

Anmerkungen:
1 Die Selbstregulierung innerhalb der Wissenschaft – in Form von Wissensbewältigung oder Wissensintegration – wird hierbei nur am Rande thematisiert. Vgl. hierzu u.a. Nowotny, Helga, Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, hier S. 91ff, 109ff.
2 Das wachsende Gewicht der Wissenspolitik wird dabei auf Faktoren wie das Entstehen neuer Wissensformen, die wahnsinnige Beschleunigung der hiermit zusammenhängenden Vorgänge, die ständige Multiplikation der Handlungsmöglichkeiten und -optionen und die Akzentverschiebung von der Lösung einmal aufgetretener Probleme hin zu einer Reduktion und Prävention nicht-intendierter Folgen zurückgeführt.
3 Den Idealfall bildet in diesen Überlegungen natürlich die Volksbefragung. Ein weitaus praktischeres Beispiel stellt die in Dänemark entwickelte Form der „Konsensuskonferenz“ dar (S. 209-211). Insgesamt wird nach Stehrs Ansicht die Zukunft grenzüberschreitenden, sogenannten „hybriden“ (S. 211) Organisationsformen gehören. Ihr Ort liegt an den Schnittstellen einzelner Systeme im Luhmannschen Sinne.
4 Die Einforderung der Pflicht zur Übernahme von Verantwortung, welche in der Mehrheit der Fälle niemandem mehr direkt bzw. persönlich zugeordnet werden kann, stellt ein bisher nur unzureichend beachtetes gesellschaftliches Dilemma dar – unbedeutend ob in moralischer, ethischer oder einfach nur in praktischer Hinsicht. Vgl. Weizenbaum, Joseph, Computermacht und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001, hier S. 68ff.

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