Kappadokien, römische Provinz in der Mitte Anatoliens, war im 4. Jahrhundert n.Chr. klassische imperiale Peripherie: Weit von der neuen Hauptstadt Konstantinopel entfernt, zugleich weit genug vom östlichen limes, um militarisiertes Grenzgebiet zu sein, war die unzugängliche Bergregion der "bible belt" des römischen Ostens, Hochburg der christlichen Orthodoxie auch dann, wenn der Orthodoxie der ideologische Gegenwind aus der Hauptstadt kräftig ins Gesicht wehte. Doch anders als der zelotisch-fundamentalistische "bible belt" der modern-globalen Supermacht USA war Kappadokien Heimat eines Christentums gemäßigter Prägung, eines Christentums, das nach der Synthese zwischen der neuen Staatsreligion und den alten Traditionen mit bereits klassischer Geltung strebte. Seine Hauptexponenten waren die großen Drei Kappadokier, die Bischöfe Gregor von Nazianz (329-390), Basilius von Caesarea (329-379) und Gregor von Nyssa (331-nach 394).
Ihr Leben und Werk bleiben unverständlich ohne Wissen um ihre Heimat, das herbe Kappadokien mit seiner Pferdezucht, den prekären Existenzbedingungen, die es bot, den langen Wintern, wenigen Städten und ihrer selbstbewussten, stets nach Autonomie von Rom und Konstantinopel strebenden Aristokratie. Ein wirkliches "Kingdom of Snow", wie auch Basilius, der Bischof von Caesarea tief empfand: "Wenn du diesen Brief in die Hand nimmst, wirst du seine Kälte fühlen - und wie er den Zustand seines Absenders widerspiegelt, zu Hause eingeschlossen und unfähig, auch nur den Kopf zur Tür herauszustecken. Denn mein Haus ist ein Grab, bis das Frühjahr kommt und uns vom Tod ins Leben zurückbringt und uns, wie den Pflanzen, den Segen des Daseins zurückgibt."1
Raymond Van Dam ist im ersten Kapitel seines eine Trilogie um die kappadokischen Kirchenväter 2 eröffnenden Bandes eine hinreißende Skizze der "Badlands" im zentralanatolischen Bergland gelungen, ihrer existentiellen Nöte und des Ringens der Städte um Autonomie und Prestige. Er beschreibt, wie die Bischöfe, aus der Mitte der lokalen Notabelnschicht kommend, immer mehr in die Rolle von Interessenvertretern ihrer Städte hineinwuchsen. Man fragt sich, ob die Städtelandschaft Kappadokiens im 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. wirklich im Niedergang war, wie Van Dam in Anlehnung an einen teils überholten Forschungsstand meint. Dass "the public role and importance of cities had been diminished, primarily because imperial policies had gradually undermined the financial resources of cities and the standing of their decurions and municipal magistrates" (S. 27), ist mitnichten eine ausgemachte Sache, gerade wenn man die Entwicklung in anderen Orientprovinzen besieht.3
Gleichwohl: Van Dams Prämissen - karge Existenzbedingungen in den "Highlands", elementare Bedeutung von Rang und Prestige, veränderte Machtbalance zwischen Imperium und Provinz im 4. Jahrhundert, prekäre Stellung der Städte - vermögen zu überzeugen. Auf ihrer Grundlage entwickelt er seine Analyse der schwierigen Interaktion zwischen "Roman rule" und "Greek culture". Sie entfaltete sich auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Kommunikationsmitteln: zwischen kaiserlichen Statthaltern und Bischöfen, in den gelegentlichen kaiserlichen Besuchen in Kappadokien, in der Korrespondenz zwischen Bischöfen und Hof sowie schließlich anlässlich des kurzen Episkopats Gregors von Nazianz in Konstantinopel.
Eigentliches Kernstück von Van Dams Buch und Schlüssel zum Verständnis der kappadokischen Regionalgeschichte im 4. Jahrhundert ist aber die Beziehung zwischen den Drei Kappadokiern und Kaiser Julian, dem "Abtrünnigen". Der letzte Spross aus der Familie Konstantins, obwohl geboren in Konstantinopel, erlebte prägende Jugendjahre in Kappadokien in der quasi-Verbannung buchstäblich am Ende der Welt, bis Constantius ihn zum Studium nach Athen gehen ließ. Die in Kappadokien verbrachte Jugend und die Liebe zur klassischen Tradition, die für ihn von paganer Religion nicht zu lösen war, machten Julian praktisch zum heidnischen alter ego der nachmaligen Bischöfe Basilius und Gregor von Nazianz. Doch beschritten Basilius und Gregor einen anderen Weg: Für sie war das kulturelle Erbe der Antike unentbehrliches Konstituens ihres aufgeklärten Christentums.
Julian, inzwischen Alleinherrscher in Konstantinopel, hatte indes mit dem Kapitel Kappadokien in seinem Leben abgeschlossen. Keinen einzigen wahren "Hellenen" fand er mehr in dem Land, in dessen Hauptstadt Caesarea ein christlicher Mob, just als der Kaiser Mitte 362 durch Kleinasien reiste, den Tempel der Tyche in Flammen aufgehen ließ. Seine Rache ließ nicht lange auf sich warten: Er raubte Caesarea Autonomie und Namen, erlegte den Christen neue Steuern auf und verpflichtete den Klerus zum Dienst in der kaiserlichen Bürokratie. Kann man das, mit Van Dam, "Culture Wars" nennen? Die prägnante Formulierung, die bewusst oder unbewusst an Bismarcks "Kulturkampf" erinnert, schießt womöglich übers Ziel hinaus. Schließlich stand Julian auf verlorenem Posten: Seine Gleichung, Identität von Heidentum und antiker Kultur, ging längst nicht mehr auf; den Weg in die Zukunft wiesen, mit ihrer Synthese, die Drei Kappadokier.
Schließlich hatte dann aber das lateinische Erbe Roms, vermittelt durch die Kirchenväter des Westens, den längeren Atem als das kulturelle Hellenentum, das Julian, Basilius und Gregor über alle Gräben hinweg verband. Van Dams Buch macht deutlich, wie tief es in der anatolischen Peripherie und ihren eigensinnigen Aristokraten noch verwurzelt war. Materialreich, dicht und glänzend geschrieben, ist "Kingdom of Snow" vieles in einem: Regionalstudie, Literaturgeschichte und Analyse einer Epoche, in der sich nicht nur Kappadokien im Umbruch befand. Van Dam ist ein vielversprechender Auftakt seiner Trilogie gelungen; man ist neugierig auf mehr.
Anmerkungen:
1 Basilius Caesariensis ep. 350 (an Libanius).
2 Band 2: Van Dam, R., Families and Friends in Late Roman Cappadocia, Philadelphia 2003.
3 Vgl. u.a. Lewitt, T., Agricultural Production in the Roman Economy. A.D. 200-400, Oxford 1991.