Eingeschmolzen sind die Weihrauchfässer, geschreddert die traditionellen Festschriften, auf den Müllhaufen geworfen die Hochglanzbroschüren - jetzt denken Historiker darüber nach, was künftig Gegenstand einer modernen Unternehmensgeschichtsschreibung sein soll: vor allem die wirtschaftliche oder auch die außerwirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmer und ihrer Unternehmen? Eben diese Frage wird im Heft 1/2001 der ‚Zeitschrift für Unternehmensgeschichte‘ diskutiert.
Kern statt Schale
Peter Borscheid, einer der Herausgeber der Zeitschrift, folgt Toni Pierenkempers und Werner Plumpes Plädoyer für den ökonomischen Kern der Unternehmensgeschichte: Im Vordergrund müsse die wirtschaftliche Tätigkeit stehen, alles andere sei nur „gesellschaftliche Schale“ oder „kulturelles Blattwerk“ (S. 6). Theoretische Hilfestellung gibt dabei die ‚Neue Institutionenökonomik‘, die Unternehmen neben Märkten und Staaten zu den drei Grundtypen von Institutionen oder Organisationen zählt und auf ihre eigenständige Rolle im Wirtschaftsprozess verweist. Gewiss: In jedem Unternehmen verschränken sich Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Politik, aber das organisatorische Gefüge dieser unterschiedlichen Einflussfaktoren soll eben von innen und im Innern des Unternehmens untersucht werden, um darüber die eigentlichen Gründe für Erfolg und Misserfolg zu bestimmen. Eine zureichende methodische Fundierung der Disziplin ‚Unternehmensgeschichte‘ steht allerdings noch aus, muss Borscheid einräumen; jedenfalls betreibt seiner Meinung nach keine Unternehmensgeschichte, wer die Werbung eines Unternehmens, seine Sozialeinrichtungen, seine Architektur oder das Design seiner Produkte untersucht.
Den ‚harten Kern‘ der Unternehmensgeschichte erkennt man am deutlichsten in dem Beitrag von Drahomir Jancik, Eduard Kubu, Jiri Novotný und Jiri Sousa. Sie zeigen, wie der Mechanismus der Enteignung jüdischen Goldes im ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ in den Jahren 1939 bis 1945 funktionierte, und nehmen dabei mit der 1928 gegründeten Firma ‚Hadega-Handelsgesellschaft‘ ein Unternehmen in den Blick, das ursprünglich im Rohstoff-, Kolonialwaren- und Kohlehandel tätig war und 1940 in eine Vertriebsgesellschaft für Schmuck- und Wertsachen aus Gold umgewandelt wurde, die insgesamt über 600 kg Gold aus jüdischem Eigentum konfiszierte. Aber der eigentliche Unternehmer, so lautet das Fazit, war der Reichsprotektor: Er beherrschte das Geschäft mit Edelmetallen und Edelsteinen, er delegierte die Geschäftsabwicklung an eine private Gesellschaft, und er beeinflusste deren Aktivitäten mit Hilfe deutscher Vertrauensleute. Diese wiederum verwandelten unter dem Deckmantel eines ehrenhaften Geschäfts Wertsachen aus jüdischem Besitz in anonyme Waren, die auf den Märkten Deutschlands und des Auslands verschwanden; der aus diesen Transaktionen gezogene Gewinn diente teils der Umsiedlung und Ermordung ihrer ehemaligen Besitzer, teils dem Ankauf von Rohstoffen in neutralen Ländern.
Angemessene Rücksichtnahme
Die genaue Gegenposition zu Borscheid, Pierenkemper und Plumpe nehmen Florian Triebel und Jürgen Seidl ein. Man hätte sich allerdings einen stärkeren Beitrag gewünscht, denn beide Autoren basteln leider etwas ungeschickt einen Analyserahmen für das Fach Unternehmensgeschichte: Sie rumpeln ein wenig mit Theorie-Bausteinen wie ‚System‘ und ‚Netzwerk‘ herum, malen Schaubilder, die an Sternzeichen, Kopfsalat und japanische Lenkdrachen erinnern, unterteilen die dargestellten Objekte nochmals in ‚Bereiche‘, ‚Sphären‘ und ‚Segmente‘, was glücklicherweise folgenlos bleibt, und sind ängstlich darauf bedacht, möglichst viele außerwirtschaftliche Faktoren zu berücksichtigen, und zwar, wie ihre Lieblingsvokabel lautet, „angemessen“. Die Verflechtungen in der Umwelt des Unternehmens hätten Einfluss auf das Unternehmen und seien bei seiner Untersuchung „angemessen zu berücksichtigen“, heißt es da, und nur wenige Sätze weiter muss schon wieder etwas angemessen berücksichtigt werden, nämlich die mittelbaren Einflüsse auf das Unternehmen (S. 22). Das gleiche gelte für die restlichen Bereiche des Unternehmensnetzwerkes: Auch diese sollten „in jedem Fall in angemessener Weise Berücksichtigung finden“ (S. 24). So viel angemessene Rücksichtnahme bekommt der Argumentation nicht gut - ausgerechnet im letzten Satz des Beitrages verpuffen alle vorangegangenen theoretischen Anstrengungen wirkungslos: für die jeweilige Fragestellung sei aus dem reichen Methoden-Reservoir der Geschichtswissenschaften der jeweils geeignete Zugang anzuwenden (S. 26). Soll das nun die geforderte methodische Fundierung der Disziplin sein? Übrigens arbeiten beide Historiker an ihren jeweiligen Dissertationen - über BMW der eine, über den Eugen Diederichs Verlag der andere -, und wie sie in einer Fußnote ankündigen, wollen sie dabei den von ihnen vorgestellten Analyserahmen berücksichtigen. Hoffentlich angemessen.
Schale statt Kern
Wie schön ist es doch, von diesem theoretischen Hochtrapez hinabzusteigen in die Niederungen des empirischen Bodenturnens. „Telefunken und der deutsche Schiffsfunk 1903-1914“ - das ist ein saftiges Thema! Aber was hat es in dieser Zeitschrift zu suchen? Denn der Autor Michael Friedewald berücksichtigt den ökonomischen Aspekt keineswegs angemessen, vielmehr schreibt er - und zwar durchweg interessant - von der Einführung der Funkentelegrafie auf Passagierschiffen, der Einrichtung von Seefunkdiensten, der Institutionalisierung des Schiffsfunks und von den Folgen des Untergangs der ‚Titanic‘ für die internationale Regelung des Seefunks. Die wirtschaftliche Aktivität des Unternehmens ‚Telefunken‘ rückt dabei eher in den Hintergrund, so dass der Aufsatz genau so gut in die Zeitschrift ‚Technikgeschichte‘ gepasst hätte.
Über die Reaktion der rheinisch-westfälischen Bergwerksindustriellen auf das Grubenunglück von Courrières 1906 informiert Rudolf Tschirbs; ihm geht es dabei nicht um wirtschaftliche Fragen, sondern um die Entstehung der Legende von einer möglichen deutsch-französischen Völkerverständigung, wie sie damals Bertha von Suttner und Jean Jaurès, sowie später Georg Wilhelm Pabst in seinem Film ‚Kameradschaft‘ (1931) beschworen.
An den 22 Buchbesprechungen fällt auf, dass die Rezensenten gerade die außerökonomischen Aspekte rühmend hervorheben, ganz gleich, ob es sich dabei um die Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum handelt, um die Unternehmenskommunikation (sogar zweimal), um die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher, psychologischer und politologischer Erkenntnisse in die Erforschung von Unternehmen, um die Mentalität württembergischer Unternehmer im Ersten Weltkrieg oder um die Werbebranche in den USA zwischen 1870 und 1920. Anders als es der programmatische Aufsatz von Borscheid vermuten lässt, zeigt diese Nummer der Zeitschrift weniger den ‚harten Kern‘ der Unternehmensgeschichtsschreibung als vielmehr die ‚gesellschaftliche Schale‘ und das ‚kulturelle Blattwerk‘.
Die Rezension erschien im April 2003 in der Zeitschrift ‚Francia’