H.-J. Rupieper(Hgg.): Lageberichte der Gestapo zur Provinz Sachsen

Rupieper, Hermann-J.; Sperk, Alexander (Hrsg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen 1933-1936. Band 1: Regierungsbezirk Magdeburg. Halle 2003 : Mitteldeutscher Verlag, ISBN 3-89812-200-X 487 S. € 25,00

: Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen 1933-1936. Band 2: Regierungsbezirk Merseburg. Halle an der Saale 2004 : Mitteldeutscher Verlag, ISBN 3-89812-214-X 693 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

Die Geheime Staatspolizei galt seit jeher als eine zentrale Überwachungs- und Verfolgungsinstanz des NS-Regimes. Folglich fanden die 1933 bis 1936 monatlich erstatteten geheimen Lageberichte der regionalen Stapo-Stellen an die Gestapo-Zentrale in Berlin schon frühzeitig das Interesse der Zeitgeschichtsforschung. Insbesondere die Verpflichtung zu einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Darstellung nach einem standarisierten Schema, das eine breite Themenpalette abdeckte, ließ die Berichte als wertvolle Quellen erscheinen. Bernhard Vollmer, der 1957 als erster in größerem Umfang derartige Lageberichte herausgab, verband mit ihnen gar die „Möglichkeit der Erkenntnis, ‚wie es wirklich gewesen ist‘ “.1 Diesen unreflektierten Optimismus mochte seither allerdings niemand mehr teilen. Bereits Thévoz/Branig/Lowenthal-Hensel, die 1974 die Lageberichte aus Pommern edierten, schätzten sie nur noch eingeschränkt als „bemerkenswert wirklichkeitsgetreu“ ein.2 Die quellenkritischen Bedenken gegen diese Form amtlicher Berichterstattung sind seither oftmals erörtert worden. Die Eigenschaft der Lageberichte als zumindest unentbehrliche Quellen für die Konsolidierungsgeschichte des NS-Staates in den Regionen wurde dabei jedoch zurecht kaum in Frage gestellt.3 Dies gilt nicht zuletzt auch für die jüngere Zeitgeschichtsforschung, die längst Abschied genommen hat von dem Trugbild einer allgegenwärtigen und allwissenden Terrororganisation.4 Folglich liegen entsprechende Quelleneditionen mittlerweile für eine ganze Reihe von Regionen vor.5

Daher ist es zu begrüßen, dass Rupieper (†) und Sperk nunmehr eine dreibändige Edition der Lageberichte aus der preußischen Provinz Sachsen übernommen haben. Die Bände I und II (Stapo-Stellen Magdeburg und Halle) liegen bereits vor. Band III (Stapo-Stelle Erfurt) wird hoffentlich bald folgen. Die Überlieferung der Lageberichte ist auch in Sachsen lückenhaft. Insgesamt können Rupieper/Sperk 53 Berichte vorlegen, die vornehmlich aus dem Geheimen Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem sowie dem Bundesarchiv Berlin stammen. Die Länge vollständiger Berichte beträgt etwa 10 bis 30 Buchseiten; 16 Berichte sind allerdings nur in Auszügen überliefert, die sich in der Regel mit der „Linksbewegung“ befassen. Ihre Länge beträgt meist nur 2 bis 3 Seiten, in Extremfällen nur einige Zeilen. 5 Berichte fehlen gänzlich. Insgesamt ist die Überlieferungslage bis Januar 1935 als sehr unvollständig, für die darauffolgenden Monate bis März 1936 als fast lückenlos zu bezeichnen.

Die vorliegenden Gestapo-Berichte werden ergänzt durch 11 Monatsberichte der Regierungspräsidenten in Magdeburg bzw. Merseburg und 5 Berichte des sächsischen Oberpräsidenten. Diese Entscheidung der Herausgeber, die sich im Buchtitel nicht niedergeschlagen hat, ist fraglos zu begrüßen. Diese 16 Berichte beruhen zwar teilweise auf den gleichen Quellen wie die Gestapo-Berichte, setzen aber bisweilen durchaus eigene Nuancen. Die von Rupieper/Sperk angeführte kompensatorische Funktion für die lückenhafte Überlieferung der Stapo-Berichte 6 können sie allerdings kaum erfüllen, da sie ganz überwiegend Monate betreffen, für die vollständige Stapo-Berichte vorliegen. Schwer nachvollziehbar erscheint indes die Entscheidung der Herausgeber, die rund 60 Seiten umfassenden 5 Lageberichte des Oberpräsidenten in beide Bände aufzunehmen. Durch diese doppelte Herausgabe identischer Berichte wird viel Raum verschenkt, der nutzbringender hätte gefüllt werden können.

Die Lageberichte bieten vor allem tiefe Einblicke in die effektive Bekämpfung der linken Widerstandsgruppen, in die misstrauische Überwachung und gelegentliche Sanktionierung der christlichen Volkskirchen sowie in die alltäglichen Repressionen gegen die winzige jüdische Minderheit. Breiten Raum nehmen auch die Entwicklung der Wirtschaft, der allmähliche Rückgang der Arbeitslosigkeit sowie die tiefe Versorgungs- und Stimmungskrise der Jahre 1934/35 ein. Die Detailfreude der Berichterstatter kannte dabei bisweilen kaum Grenzen. Eher beiläufige Behandlung erfahren dagegen die systematische Beobachtung diverser unbedeutender politischer und religiöser Splittergruppen sowie Korruption, Amtsmissbrauch und andere Verfehlungen innerhalb der NS-Bewegung. Vor allem wird aber eines deutlich: Trotz aller übertriebener Bedrohungsszenarien der Gestapo und tatsächlich verbreiteter partieller Mißstimmigkeiten konnte sich das NS-Regime auch in der Provinz Sachsen auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen, die vornehmlich den außen-, wehr- und wirtschaftspolitischen „Erfolgen“ zu verdanken war.

Die Quellenedition richtet sich ausdrücklich nicht nur an Historiker, sondern an ein breites Publikum. Folglich sind die Lageberichte mit rund 2.500 Anmerkungen bemerkenswert sorgfältig kommentiert worden. Entsprechend dem Adressatenkreis beschränkt sich der Anmerkungsapparat dabei nicht nur auf die biographische Erschließung erwähnter Personen, den Verweis auf weiterführende Sekundärliteratur und Archivbestände sowie die Erläuterung spezieller Begriffe und Sachverhalte; erklärt werden vielmehr auch zahllose, dem Zeithistoriker wohlvertraute Begriffe wie etwa „Drittes Reich“ oder „Schutzhaft“ (Bd. 1, S. 40f., Anm. 85f.). Der Benutzbarkeit der Edition für Laien dürfte das ungemein zugute kommen. Gleiches gilt für die Personen- und Ortsregister, die im 2. Band sogar durch ein Sachregister ergänzt werden. Dagegen ist es umso bedauerlicher, dass die Herausgeber – im Gegensatz zu einigen einschlägigen Editionen jüngeren Datums 7 – darauf verzichtet haben, den einzelnen Lageberichten ausführliche Kopfregesten voranzustellen.

Auch die beiden kurzen Einleitungen vermögen nicht restlos zu überzeugen. Zwar erfährt der Leser auf rund 15 Seiten Grundlegendes über die beiden Regierungsbezirke sowie das Berichtswesen der betreffenden Behörden. Darüber hinaus werden die berichterstattenden Behördenleiter vorgestellt und einige nützlichen Informationen zur Personalausstattung der beiden Stapo-Stellen gegeben. Dies alles geschieht kenntnisreich und entspricht dem vorwiegenden Standard einschlägiger Publikationen. Gerade bei den letztgenannten Textpassagen vermisst man im Interesse des breiten Adressatenkreises jedoch eine Einordnung dieser Informationen in die Ergebnisse der jüngeren Gestapo-Forschung. Ferner hätten auch einige grundlegende Bemerkungen über den Arbeitsalltag der regionalen Stapo-Stellen sehr nützlich sein können. In diesem Sinne reichen die beiden Einleitungen keinesfalls an die lesenswerten Ausführungen heran, die Gerhard Paul 1997 seiner Edition von Flensburger Gestapo-Berichten vorangestellt hat.8 Ein letzter Kritikpunkt bezieht sich auf die Reflexion der Quellenproblematik. Die angesprochenen Bedenken gegen eine Überschätzung des Quellenwerts werden auch von Rupieper/Sperk in beiden Einleitungen kurz, aber zutreffend umrissen. Angesichts des Zielpublikums wäre aber fraglos eine ausführlichere Erörterung dieser Thematik sinnvoll gewesen. Dies gilt insbesondere, weil die Herausgeber im Vorwort zu beiden Bänden wohl etwas vollmundig von „exzellenten Stimmungsbildern“ (Bd. 1, S. 9, Bd. 2, S. 9) sprechen.

Abschließend ist festzuhalten: Trotz einer bereits seit dem Jahr 2000 vorliegenden Auswertung der Lageberichte 9 dürfte die im Ganzen gut gelungene Edition von Rupieper/Sperk der defizitären Geschichtsschreibung über die Anfangsjahre des NS-Regimes in Sachsen-Anhalt weiteren Auftrieb verleihen.

Anmerkungen:
1 Zit. n. Vollmer, Bernhard (Hg.), Volksopposition im Polizeistaat, Gestapo- und Regierungsberichte 1934-1936, Stuttgart 1957, S. 7.
2 Zit. n. Thévoz, Robert; Branig, Hans; Lowenthal-Hensel, Cécile (Hgg.), Pommern 1934/35 im Spiegel von Gestapo-Berichten und Sachakten, 2 Bde., Köln 1974, hier Bd. I, S. 17.
3 Siehe etwa Eckert, Raine, Gestapo-Berichte. Abbildungen der Realität oder reine Spekulation?, in: Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael (Hgg.), Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 200-215.
4 Siehe etwa Paul; Mallmann (wie Anm. 3).
5 Siehe die Liste in Rupieper; Sperk Bd. 1, S. 10, (wie Anm. 1).
6 Ebd., S. 10; ebenso Bd. 2, S. 10.
7 Siehe etwa Klein, Thomas (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Hessen-Nassau 1933-1936, 2 Bde., Köln 1986; Ribbe, Wolfgang (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin 1933 bis 1936, Teilband I: Der Regierungsbezirk Potsdam, Köln 1998.
8 Paul, Gerhard (Hg.), „Flensburg meldet: ...“, Flensburg und das deutsch-dänische Grenzgebiet im Spiegel der Berichterstattung der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) des Reichsführers SS (1933-1945), Flensburg 1997, S. 13ff.
9 Müller, Manfred, Zustimmung und Ablehnung, Partizipation und Resistenz. Die preußische Provinz Sachsen im Spiegel geheimer Gestapo- und Regierungsberichte 1933-1936, Frankfurt am Main 2000.

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