Cover
Titel
Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht


Autor(en)
Lokatis, Siegfried
Reihe
Zeithistorische Studien 25
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Malycha, Forschungsstelle Zeitgeschichte, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin

Siegfried Lokatis bietet mit diesem Buch einzigartige Einblicke in die Entstehungsgeschichte „Heiliger Schriften“ der SED, die von parteigebundenen Historikern der DDR auftragsgemäß geschaffen worden sind, um die jeweils herrschende politische Linie der Parteiführung historisch zu legitimieren. Da es sich dabei immer um sensible ideologische Kernbereiche der Herrschaftsausübung der SED-Führung handelte, wurde um Formulierungen, ja selbst um einzelne Wörter und Satzzeichen, hart gerungen. Das Buch bereichert nicht nur unser Wissen über den Stellenwert historischer Selbstreflexionen der SED, sondern wirft auch ein bezeichnendes Schlaglicht auf eine spezifische Form der Herrschaftspraxis im SED-Staat.

Im Mittelpunkt dieser historischen Rückschau auf die Produktion parteigeschichtlicher Texte steht die Entstehungsgeschichte der achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ von 1966, die in einer Zeitspanne von 10 Jahren von über zweihundert Historikern unter der Federführung des Instituts für Marxismus-Leninismus geschaffen wurde. Der „Achtbänder“ präsentierte die damals gültige parteioffizielle Version der politischen Geschichte von Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die zur Vorgeschichte der SED herabgestuft wurde, sowie der Geschichte der SED nach 1945. Er galt als Richtschnur, eben als „der rote Faden“ im Rahmen von historischen Debatten in der DDR sowie auch bei jeder medialen Form von Erinnerungskultur. Ein offizielles Abweichen von diesen verordneten Deutungsgeboten war undenkbar. Aus diesem Grunde hat der Autor den Begriff „Leittext“ als methodischen Zugriff gewählt, um den weitreichenden Geltungsanspruch der parteioffiziellen Literatur der SED und das sich daraus ergebene System der allumfassenden Zensur historischer und belletristischer Texte kenntlich zu machen.

Lokatis führt uns eindrucksvoll die verschiedenen Ebenen und Erscheinungsformen der durch Bürokraten und Ideologen verwalteten Parteigeschichte vor Augen. Er beschreibt die verschiedenen Zensurinstanzen, die von Ulbricht selbst über das Politbüro, das Zentralkomitee, den parteieigenen Dietz-Verlag bis hin zum für die Parteigeschichte verantwortlichen Institut für Marxismus-Leninismus reichten. Die Bemühungen auf allen Ebenen liefen im Wesentlichen darauf hinaus, die politische Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung als einen gesetzmäßig verlaufenden Prozess zu verklären, an dessen Ende und Kulminationspunkt die SED stand. Eine zentrale Funktion der parteioffiziellen Geschichtsinterpretation bestand stets darin, das Versagen der deutschen Sozialdemokratie zu zeigen. Damit versuchte die SED-Führungsschicht ihren Herrschaftsanspruch zu begründen und zu untermauern: Historische Sinnstiftung und Traditionspflege galten als unabdingbare Bestandteile des Ideologiemonopols der Partei, die ihre Identität definieren sollten und demnach in keinem Parteiprogramm fehlen durften. Die Definitionsmacht über die Parteigeschichte diente darüber hinaus zur Kennzeichnung der vermeintlichen Abweichler in den eigenen Reihen und zur Verurteilung ihrer politischen Konzeptionen. So liegt der größte Vorzug des Buches von Lokatis wohl darin, die vitale und konstitutive Funktion von Parteigeschichte für die Existenz der SED plausibel gemacht zu haben.

So ist auch erklärbar, warum die Zensur auf dem Schlachtfeld der Parteigeschichte äußerst rigide wütete und hier über die Einhaltung der verordneten Sprachregelungen besonders intensiv gewacht wurde. Der Weg zu normativen Sprachregelungen und allgemein gültigen Deutungsmodellen war allerdings – wie Lokatis zeigen kann – äußerst lang, widersprüchlich und konfliktbeladen, in weiten Teilen auch grotesk und tragikomisch. Denn es galt, einen riesigen Berg von Texten und Abhandlungen propagandatauglich umzuformen und in die gültigen Leitbilder einzupassen. In seiner Rekonstruktion der Werkgeschichte des „Achtbänders“ arbeitet Lokatis in aller Ausführlichkeit die systemspezifischen Mechanismen kollektiver Textproduktion heraus. Ebenso detailliert wird geschildert, in welcher Form Walter Ulbricht selbst in die Abfassung und Redigierung der Texte eingriff und sich – im Unterschied zu seinem Nachfolger Erich Honecker – während der zahlreichen Autorenberatungen als oberster Parteihistoriker präsentierte. Sicherlich kann das als zweckorientierte Anwendung von parteigeschichtlichem Herrschaftswissen gedeutet werden. Wie allerdings von den damaligen Autoren und Zensoren faktisch auch jeder noch so bedeutungslose Satz nach seinen politischen Implikationen befragt worden ist, ruft bei den heutigen Lesern noch immer ungläubiges Staunen hervor. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass Ulbricht während der Autorensitzungen offensichtlich nicht als Parteidogmatiker, sondern als dialogbereiter Partner im Ringen um überzeugende Formulierungen in Erscheinung trat. In dieser Hinsicht bleibt aber der Verdacht, dass die überlieferten Quellen eben doch nicht ein vollständiges Bild über diese Autorendiskussionen zulassen.

Für Lokatis ist die Produktion parteioffizieller Texte zugleich ein interner „parteigeschichtlicher Diskurs“, dessen innere Logik er dem Leser vermitteln will. Mit den Einblicken in die innere Logik der heutzutage scheinbar bedeutungslosen Schriften der SED-Historiografie verbindet Lokatis ein Anliegen, das sich wohl schwerlich realisieren lässt. Indem er die Genese und Entstehungszusammenhänge von parteioffiziellen Texten zur Parteigeschichte thematisiert, zielt er auf eine historisch reflektierende Neubewertung von Texten zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Seine Analyse der Existenzbedingungen der damaligen „Diskursformation“ will er als einen Beitrag zur notwendigen Quellenkritik verstanden wissen, die „allein eine Unzahl manipulierter Texte zur Geschichte der Arbeiterbewegung wieder benutzbar machen kann“ (S. 31). Auf diese Weise soll auch für den nicht in der DDR sozialisierten Leser ein einigermaßen rational verankerter Zugang zu diesen längst vergessenen Schriften möglich werden.

Ob dieses Angebot angenommen werden wird, darf bezweifelt werden. Die Aussicht darauf, dass von den historiografischen SED-Schriften unerwartete Denkansätze ausgehen könnten, scheint doch eher gering. So wird die Wertschätzung derartiger Texte auch weiterhin äußerst bescheiden bleiben. Die von Lokatis aufgeworfene Frage, wie denn mit den im Schrank des „roten Großvaters“ liegenden Büchern umgegangen werden soll, sollte freilich auf eine Weise beantwortet werden, die sich nicht – wie bislang üblich – von politischen Verdikten leiten lässt.

Von besonderem Wert ist das Buch vor allem für diejenigen, die an der Ideologiegeschichte kommunistischer Diktaturen interessiert sind. Für den Zeitzeugen hält der Band so manche Überraschung und insbesondere Aufklärung bereit, denn das ganze System von internen sowie externen Gutachten und politischen Wirkungsabsichten war wohl seinerzeit selbst nicht für alle Beteiligten überschaubar.

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