Eine Auseinandersetzung mit den sowohl im NS-Staat als auch in der DDR verbotenen, Repressionen und Verfolgung ausgesetzten Zeugen Jehovas hat die Geschichtswissenschaft bis vor wenigen Jahren kaum interessiert. Das ist unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese religiöse Gruppe mit ihrer hartnäckigen Missionstätigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf wenig Gegenliebe stößt und zudem ihre Türen und Archive nur Personen geöffnet hat1, die entweder selbst Zeugen Jehovas sind oder überzeugend vermitteln konnten, dass sie diesen aufgeschlossen bis sympathisierend gegenüberstehen, sie also nicht als „Sekte“ betrachten. Etwa seit dem Jahr 2000 hat das Thema ein wenig Konjunktur, und es stellt sich die Frage, wie dies zu erklären ist. Was könnte zum Beispiel den Kirchenhistoriker Gerhard Besier – bekannt durch seine sehr rasch nach der Wende erschienenen Enthüllungsbände zum Verhältnis zwischen MfS bzw. SED und (vor allem) evangelischer Kirche in der DDR – motiviert haben, in Kooperation mit dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (Dresden), genauer dessen stellvertretendem Direktor Clemens Vollnhals, und mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) Anfang November 2000 in seiner Heidelberger Forschungsstelle Kirchliche Zeitgeschichte eigens eine Tagung zu veranstalten? Zu den Referenten zählten Historiker, einschlägige Fachleute aus den Reihen der Zeugen Jehovas, in der DDR drangsalierte Vertreter der Glaubensgemeinschaft sowie zwei Regisseure. War es der „Respekt“ der Veranstalter vor einer „vergessenen Opfergruppe“, gepaart mit dem Wunsch, sich fern des wissenschaftlichen mainstreams der Geschichte einer Randgruppe wie der nach wie vor nicht als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannten Zeugen Jehovas anzunehmen, „deren Schicksal und Leid in der öffentlichen Erinnerung lange Zeit verdrängt worden ist“ (S. 7, 1)? Dafür würde sprechen, dass Besier, mittlerweile Leiter des Hannah-Arendt-Instituts, sein Interesse und eine Publikation jüngst der ebenfalls in den USA gegründeten und ein Außenseiterdasein führenden Scientology-Organisation widmet, die seit ihrer Etablierung in Deutschland 1970 nicht nur als „Sekte“ bezeichnet, sondern aufgrund ihrer totalitären Strukturen sogar als gefährlich eingestuft und seit 1997 vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Allerdings erfolgte die Gründung der Scientology-Organisation erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sie spielte in der DDR keine Rolle und hat demnach keine Opfer- oder Widerstandsgeschichte, die aufgearbeitet werden müsste. Oder doch? Doch dazu später.
Der erst nach drei Jahren erschienene Sammelband zur Tagung über die Zeugen Jehovas unter zwei deutschen „Diktaturen“ enthält fünfzehn für die Drucklegung leicht überarbeitete Referate. Während fünf Vorträge nicht abgedruckt wurden, haben die Herausgeber drei neue Aufsätze in die Publikation aufgenommen, ohne dies – oder aber das verzögerte Erscheinen des Buches – näher zu begründen. Nach einer gemeinsamen Einleitung von Besier und Vollnhals folgt das „Geleitwort zur Tagung“, gesprochen vom Präsidenten des deutschen Zweiges der „Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft“. Willi K. Pohl äußert darin „einige Gedanken“, von denen er hoffe, sie mögen „zum Verständnis für die von Außenstehenden oft als extrem empfundene Selbstbehauptung unserer Glaubensangehörigen als Zeugen Jehovas beitragen, die sie in beiden totalitären Systemen trotz Repressionen bekundeten“ (S. 10). Die qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge sind in drei Blöcken untergebracht, geordnet nach ihrem zeitlichen Bezug auf Nationalsozialismus, SBZ/DDR und beiden Systemen in vergleichender Perspektive. Im ersten Teil legt zunächst der Zeugen Jehovas-Forscher und Leiter der Gedenkstätte des KZ Neuengamme, Detlef Garbe, den derzeitigen Forschungsstand mit Blick auf „Verfolgung und Widerstand“ der Zeugen Jehovas unter den Nationalsozialisten dar. Manfred Zeidler erläutert am Beispiel des Sondergerichts Freiberg die „juristische Verfolgung“ der Zeugen Jehovas, während Max Wörnhard die weitaus glimpflichere Situation für die Glaubensgemeinschaft in der Schweiz schildert.
Mit den Zeugen Jehovas in der „SED-Diktatur“ befassen sich über die Hälfte der Aufsätze. Thematisiert werden SED- und MfS-Kirchenpolitik (Bernd Schäfer), der Einsatz der Printmedien (Annegret Dirksen) und speziell der 1965 gegründeten „Kampfschrift“ „Christliche Verantwortung“ (Gerhard Besier) zur „Kriminalisierung“ und „sozialen Diskriminierung“ der Zeugen Jehovas (S. 83, 135). Nochmals gerät die Politik des Staatssicherheitsdienstes, dabei auch die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“, in dem Beitrag von Waldemar Hirch in den Blick. Ausschließlich den „doppelverfolgten“ VertreterInnen der Glaubensgemeinschaft, also denjenigen zehn Prozent, die erst von den Nationalsozialisten und dann in der DDR Repressalien ausgesetzt waren, widmet sich Hans Hesse und konstatiert in einem bilanzierenden Vergleich von Widerstand und Verfolgung unter beiden Regimes, dass die Unterschiede die Ähnlichkeiten weit überwiegen. Auf die Behandlung der Zeugen Jehovas im DDR-Strafvollzug, insbesondere die „gruppenspezifischen und individuellen Haftbedingungen aus der Perspektive der Häftlinge“ (S. 201), geht Johannes Wrobel näher ein. Göran Westphal und Robert Schmidt bearbeiten mit Weimar beziehungsweise Leipzig und der Oberlausitz regional begrenzte Fallbeispiele. Dabei handelt es sich bei Schmidts Referat um eine Skizze des Forschungsplans für seine damals noch im Projektstadium befindliche Dissertation, auf deren 2003 erschienene monografische Druckfassung ich weiter unten eingehe.
„Vergleichende Aspekte und Perspektiven“ beschäftigen die Autoren der letzten fünf Beiträge: Den Umgang mit im NS verfolgten Zeugen Jehovas, die „Doppelverfolgten“ in der DDR, untersucht Wolfram Slupina mit einem Schwerpunkt auf das MfS und präsentiert zwei Fallbeispiele. Hingegen stützt sich Gerald Hacke bei seinem allgemeinen Vergleich der Perzeption in beiden Systemen auf der Legitimation der Verfolgung „nach außen“ dienende und auch „interne Dokumente“. Er kommt zu dem Schluss, dass sowohl die Nationalsozialisten als auch die SED das Bild der angeblich für Gesellschaft und Staat gefährlichen Zeugen Jehovas zu instrumentalisieren wussten. Dabei hätten sie sich die „gesellschaftliche Randstellung der Glaubensgemeinschaft“, die zwar eine religiöse Minderheit darstelle, jedoch aufgrund ihres „offensiven Missionsverhaltens einen relativ hohen Bekanntheitsgrad“ erlangt habe, zu nutze gemacht. Die Zeugen Jehovas böten durch ihre Außenseiterposition eine „dankbare Projektionsfläche für die gerade aktuellen Feindbilder“, und ihr den Einzelnen voll und ganz forderndes und gegen den Zugriff des Staates immunisierendes „Glaubensleben“ sei „prinzipiell politisch gedeutet“ worden und werde es noch heute (S. 310, 326). Hans-Hermann Dirksen2 zeichnet die „justizielle Demontage“ (S. 283) des für die Verbreitung der Schriften der Zeugen Jehovas zuständigen Friedrich Adler nach, der nach seiner etwa neunjährigen Haft im „Dritten Reich“ in der SBZ/DDR als Prediger tätig war und von dort nach weiteren vierzehn Jahren Haft in die Bundesrepublik abgeschoben wurde. Wiederum Dirksen eröffnet die osteuropäische Perspektive der noch kaum erforschten Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas mit Rumänien und Ungarn, die sich fortsetzen ließe mit der Tschechoslowakei, Polen oder der Ukraine und die weitere, unter faschistischen wie kommunistischen Systemen „Doppelverfolgte“ offenbaren würde. Der letzte Aufsatz mit dem Titel „Das Wissen der Zeitzeugen vor dem Vergessen bewahren“ von Slupina ist ein Plädoyer für die „lebendigen, wenn auch subjektiven Dokumentationen“ der Glaubensgenossen und ihre Einbeziehung in die „Geschichtsaufarbeitung“, der „Oralhistory als geschichtliche Forschungstechnik“ (S. 359, 365).
Im Anhang finden sich drei „Kurzchroniken zur Verfolgung der Zeugen Jehovas“ während des Nationalsozialismus, in der SBZ/DDR sowie in Osteuropa und der UdSSR (nach 1945). Die Zweiteilung des Literaturverzeichnisses in einen Teil mit Veröffentlichungen über die Jahre 1933 bis 1945 und einen zweiten mit Untersuchungen zur SBZ/DDR ist eher kontraproduktiv, richten doch manche der Autoren zumindest einen Seitenblick auf die jeweils andere Verfolgungsperiode oder bieten grundlegende Informationen, die für die ja ausdrücklich erwünschte Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas nützlich sind. Insgesamt bietet der Tagungsband „Repression und Selbstbehauptung“ einen guten Einstieg für Diejenigen, die sich einen Überblick verschaffen und mit der Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas näher befassen möchten. Besonders lesenswert ist der gut geschriebene und instruktive Beitrag von Hirch über die politische Linie des MfS gegenüber den Zeugen Jehovas. Für mit der Thematik bereits vertrautere LeserInnen bieten die sechzehn Aufsätze wenig Neues beziehungsweise lediglich einen Anreiz, an dieser oder jener Stelle weiterzuforschen.3
Die bereits erwähnte Tübinger religionssoziologische Dissertation von Schmidt stellt die Ausarbeitung seines bei der Heidelberger Tagung referierten Forschungsprojekts dar. Die fast zu kleinschrittig gegliederte Untersuchung ist – zumindest für eine Historikerin – ausgesprochen anstrengend zu lesen. Schmidts Vorgehensweise ist ziemlich theorie- und methodenlastig, wogegen die Ergebnisse – was beispielsweise die Überlegungen zur „Oral History“ anbelangt – sich eher schlicht ausnehmen. Die „forschungstheoretischen Leitgedanken“ dieser Arbeit beziehen sich auf die „religiöse Lebenswelt und die Glaubenspraxis“ der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR mit konkreten Fallstudien für Leipzig und Zittau/Oberlausitz (S. 14). Die Grundlage bildeten, neben dem Quellenstudium im Archiv der Zeugen Jehovas, einige Gespräche mit Zeitzeugen. Schmidt wollte auf diese Weise „die spezifische Religiosität, die Überlebensstrategien, sowie die widerständigen Verhaltensweisen der Zeugen Jehovas in der ehemaligen DDR in ihren Verhältnisbestimmungen zur sozialen und herrschaftlichen Welt unter den gesellschaftlichen Ausnahmebedingungen von Verbot, Repression und Verfolgung“ erforschen (S. 297). Diesen empirischen Untersuchungen stellt er drei Betrachtungsebenen voran, um die „Konfliktdimensionen“ der Gläubigen und die „religiösen und mentalen Voraussetzungen“ für deren „religiösen Selbstbehauptungswillen“ herauszupräparieren: Zuvorderst den gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Ansatz, dann eine strukturgeschichtliche Untersuchung für die „Perspektive der Verfolgungsgeschichte“ und ferner religionssoziologische Überlegungen (S. 14f.). Schmidt kommt zu dem Schluss, „dass die langfristige Erhaltung der Gruppenidentität, die Förderungsmöglichkeiten eines ausgeprägten Wir-Gefühls, sowie die Bewahrung devianter Verhaltensweisen, auf einer Vielzahl einzelner Bedingungen beruhten, die vor allem in den sozialen Primärverhältnissen, den zentripetalen Strukturen der Gemeinschaft, der chiliastischen Ausrichtung der Glaubenslehre, sowie im total commitment der Gläubigen ihre notwendigen Voraussetzungen fanden“ (S. 295). So sei es den Zeugen Jehovas gelungen, trotz des Verbots der Glaubensgemeinschaft (1950) ihre eigene Religion praktisch zu leben. Dadurch hätten sie „ein Zeichen“ gesetzt (S. 302).
Was vor allem an dem von Besier und Vollnhals herausgegeben Sammelband, ansatzweise auch an Schmidts Arbeit, auffällt und irritiert, ist nicht die Tatsache, dass an mehreren Stellen betont wird, die Berührungsängste mit oder sogar die Ablehnung der Glaubensgemeinschaft und ihrer Anhänger dürften nicht den interessierten und würdigenden Blick auf die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas verstellen (Besier/Vollnhals: z.B. S. 1f., 6, 9f.). Selbstverständlich sollte ein Wissenschaftler bei der Betrachtung eines Forschungsgegenstandes den nötigen Abstand wahren und seine Untersuchungen mit weitgehender Objektivität vornehmen. In beiden Büchern wird allerdings der Bezug zur aktuellen Situation der Zeugen Jehovas hergestellt und in den Kontext der angeblich auch in demokratischen Systemen nach wie vor zu beklagenden Verletzungen von Menschenrechten inklusive des Rechts auf Glaubensfreiheit hingewiesen (Besier/Vollnhals: v.a. S. 6, 137f., 181, 357; Schmidt: S. 10, 15). Damit wird der meiner Ansicht nach unzulässige Umkehrschluss aus dem ohne jede Frage harten Leidensweg der Zeugen Jehovas im NS-Staat und in der DDR gezogen: der Glaubensgemeinschaft und ihren Zielen müsse Verständnis und Akzeptanz entgegengebracht werden. Diese Deutung mag im Blick auf Schmidts Publikation als weit hergeholt und in Bezug auf den Tagungsband als übertrieben erscheinen. Versteht man sie jedoch im Kontext mit Besiers jüngsten wohlwollenden Äußerungen über die Scientology-Organisation, so ist die Berechtigung eines Unbehagens nicht von der Hand zu weisen. Wirklich innovativ wäre es, wenn die Wissenschaftler des Hannah-Arendt-Instituts die Paradigmen der Totalitarismusforschung auch auf religiöse Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas und die Scientologen anwenden würden.
Anmerkungen:
1 Lediglich aus einem Tagungsbericht Michael Krenzers für H-Soz-u-Kult vom 1.1.2001 geht hervor, der Leiter des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas, Johannes Wrobel, habe im Rahmen seines Referats „den Historikern für ihre Forschungsarbeit ausdrücklich die Zusammenarbeit“ seines Archivs in Selters/Taunus angeboten. Eine „Aufarbeitung doppelter Opposition und Widerstand“, so Wrobel, habe auch die zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestages gefordert. Hingegen sprechen Besier und Vollnhals in der Einleitung von einer „weitgehenden Kooperationsbereitschaft“ „seit Mitte der neunziger Jahre“.
2 Dirksen, selbst Zeuge Jehovas, hat bereits seine rechtswissenschaftliche Dissertation über die Verfolgung der Glaubensgemeinschaft in der SBZ/DDR geschrieben. Die Monografie „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“ ist in diesem Jahr bereits in einer 2., erweiterten Auflage erschienen. Vgl. dazu meine Rezension bei H-Soz-u-Kult vom 26.3.2002.
3 Die gar nicht so spärlichen Veröffentlichungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas sind auf den Seiten 396-411 verzeichnet, bei Schmidt findet sich die einschlägige gedruckte Literatur auf S. 311-332.