Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Besier, Gerhard; Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur. Berlin 2003 : Duncker & Humblot, ISBN 3-428-10605-9 421 S. € 26,80

: Religiöse Selbstbehauptung und staatliche Repression. Eine Untersuchung über das religiös-vermittelte, alltägliche und konspirative Handeln der Zeugen Jehovas unter den Bedingungen von Verbot und Verfolgung in der SBZ/DDR 1945-1989. Fallstudien aus der Stadt Leipzig und der Region Zittau/Oberlausitz. Berlin 2003 : Logos Verlag Berlin, ISBN 3-8325-0215-7 332 S. € 40,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Silomon, Berlin

Eine Auseinandersetzung mit den sowohl im NS-Staat als auch in der DDR verbotenen, Repressionen und Verfolgung ausgesetzten Zeugen Jehovas hat die Geschichtswissenschaft bis vor wenigen Jahren kaum interessiert. Das ist unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese religiöse Gruppe mit ihrer hartnäckigen Missionstätigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf wenig Gegenliebe stößt und zudem ihre Türen und Archive nur Personen geöffnet hat1, die entweder selbst Zeugen Jehovas sind oder überzeugend vermitteln konnten, dass sie diesen aufgeschlossen bis sympathisierend gegenüberstehen, sie also nicht als „Sekte“ betrachten. Etwa seit dem Jahr 2000 hat das Thema ein wenig Konjunktur, und es stellt sich die Frage, wie dies zu erklären ist. Was könnte zum Beispiel den Kirchenhistoriker Gerhard Besier – bekannt durch seine sehr rasch nach der Wende erschienenen Enthüllungsbände zum Verhältnis zwischen MfS bzw. SED und (vor allem) evangelischer Kirche in der DDR – motiviert haben, in Kooperation mit dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (Dresden), genauer dessen stellvertretendem Direktor Clemens Vollnhals, und mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) Anfang November 2000 in seiner Heidelberger Forschungsstelle Kirchliche Zeitgeschichte eigens eine Tagung zu veranstalten? Zu den Referenten zählten Historiker, einschlägige Fachleute aus den Reihen der Zeugen Jehovas, in der DDR drangsalierte Vertreter der Glaubensgemeinschaft sowie zwei Regisseure. War es der „Respekt“ der Veranstalter vor einer „vergessenen Opfergruppe“, gepaart mit dem Wunsch, sich fern des wissenschaftlichen mainstreams der Geschichte einer Randgruppe wie der nach wie vor nicht als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannten Zeugen Jehovas anzunehmen, „deren Schicksal und Leid in der öffentlichen Erinnerung lange Zeit verdrängt worden ist“ (S. 7, 1)? Dafür würde sprechen, dass Besier, mittlerweile Leiter des Hannah-Arendt-Instituts, sein Interesse und eine Publikation jüngst der ebenfalls in den USA gegründeten und ein Außenseiterdasein führenden Scientology-Organisation widmet, die seit ihrer Etablierung in Deutschland 1970 nicht nur als „Sekte“ bezeichnet, sondern aufgrund ihrer totalitären Strukturen sogar als gefährlich eingestuft und seit 1997 vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Allerdings erfolgte die Gründung der Scientology-Organisation erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sie spielte in der DDR keine Rolle und hat demnach keine Opfer- oder Widerstandsgeschichte, die aufgearbeitet werden müsste. Oder doch? Doch dazu später.

Der erst nach drei Jahren erschienene Sammelband zur Tagung über die Zeugen Jehovas unter zwei deutschen „Diktaturen“ enthält fünfzehn für die Drucklegung leicht überarbeitete Referate. Während fünf Vorträge nicht abgedruckt wurden, haben die Herausgeber drei neue Aufsätze in die Publikation aufgenommen, ohne dies – oder aber das verzögerte Erscheinen des Buches – näher zu begründen. Nach einer gemeinsamen Einleitung von Besier und Vollnhals folgt das „Geleitwort zur Tagung“, gesprochen vom Präsidenten des deutschen Zweiges der „Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft“. Willi K. Pohl äußert darin „einige Gedanken“, von denen er hoffe, sie mögen „zum Verständnis für die von Außenstehenden oft als extrem empfundene Selbstbehauptung unserer Glaubensangehörigen als Zeugen Jehovas beitragen, die sie in beiden totalitären Systemen trotz Repressionen bekundeten“ (S. 10). Die qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge sind in drei Blöcken untergebracht, geordnet nach ihrem zeitlichen Bezug auf Nationalsozialismus, SBZ/DDR und beiden Systemen in vergleichender Perspektive. Im ersten Teil legt zunächst der Zeugen Jehovas-Forscher und Leiter der Gedenkstätte des KZ Neuengamme, Detlef Garbe, den derzeitigen Forschungsstand mit Blick auf „Verfolgung und Widerstand“ der Zeugen Jehovas unter den Nationalsozialisten dar. Manfred Zeidler erläutert am Beispiel des Sondergerichts Freiberg die „juristische Verfolgung“ der Zeugen Jehovas, während Max Wörnhard die weitaus glimpflichere Situation für die Glaubensgemeinschaft in der Schweiz schildert.

Mit den Zeugen Jehovas in der „SED-Diktatur“ befassen sich über die Hälfte der Aufsätze. Thematisiert werden SED- und MfS-Kirchenpolitik (Bernd Schäfer), der Einsatz der Printmedien (Annegret Dirksen) und speziell der 1965 gegründeten „Kampfschrift“ „Christliche Verantwortung“ (Gerhard Besier) zur „Kriminalisierung“ und „sozialen Diskriminierung“ der Zeugen Jehovas (S. 83, 135). Nochmals gerät die Politik des Staatssicherheitsdienstes, dabei auch die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“, in dem Beitrag von Waldemar Hirch in den Blick. Ausschließlich den „doppelverfolgten“ VertreterInnen der Glaubensgemeinschaft, also denjenigen zehn Prozent, die erst von den Nationalsozialisten und dann in der DDR Repressalien ausgesetzt waren, widmet sich Hans Hesse und konstatiert in einem bilanzierenden Vergleich von Widerstand und Verfolgung unter beiden Regimes, dass die Unterschiede die Ähnlichkeiten weit überwiegen. Auf die Behandlung der Zeugen Jehovas im DDR-Strafvollzug, insbesondere die „gruppenspezifischen und individuellen Haftbedingungen aus der Perspektive der Häftlinge“ (S. 201), geht Johannes Wrobel näher ein. Göran Westphal und Robert Schmidt bearbeiten mit Weimar beziehungsweise Leipzig und der Oberlausitz regional begrenzte Fallbeispiele. Dabei handelt es sich bei Schmidts Referat um eine Skizze des Forschungsplans für seine damals noch im Projektstadium befindliche Dissertation, auf deren 2003 erschienene monografische Druckfassung ich weiter unten eingehe.

„Vergleichende Aspekte und Perspektiven“ beschäftigen die Autoren der letzten fünf Beiträge: Den Umgang mit im NS verfolgten Zeugen Jehovas, die „Doppelverfolgten“ in der DDR, untersucht Wolfram Slupina mit einem Schwerpunkt auf das MfS und präsentiert zwei Fallbeispiele. Hingegen stützt sich Gerald Hacke bei seinem allgemeinen Vergleich der Perzeption in beiden Systemen auf der Legitimation der Verfolgung „nach außen“ dienende und auch „interne Dokumente“. Er kommt zu dem Schluss, dass sowohl die Nationalsozialisten als auch die SED das Bild der angeblich für Gesellschaft und Staat gefährlichen Zeugen Jehovas zu instrumentalisieren wussten. Dabei hätten sie sich die „gesellschaftliche Randstellung der Glaubensgemeinschaft“, die zwar eine religiöse Minderheit darstelle, jedoch aufgrund ihres „offensiven Missionsverhaltens einen relativ hohen Bekanntheitsgrad“ erlangt habe, zu nutze gemacht. Die Zeugen Jehovas böten durch ihre Außenseiterposition eine „dankbare Projektionsfläche für die gerade aktuellen Feindbilder“, und ihr den Einzelnen voll und ganz forderndes und gegen den Zugriff des Staates immunisierendes „Glaubensleben“ sei „prinzipiell politisch gedeutet“ worden und werde es noch heute (S. 310, 326). Hans-Hermann Dirksen2 zeichnet die „justizielle Demontage“ (S. 283) des für die Verbreitung der Schriften der Zeugen Jehovas zuständigen Friedrich Adler nach, der nach seiner etwa neunjährigen Haft im „Dritten Reich“ in der SBZ/DDR als Prediger tätig war und von dort nach weiteren vierzehn Jahren Haft in die Bundesrepublik abgeschoben wurde. Wiederum Dirksen eröffnet die osteuropäische Perspektive der noch kaum erforschten Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas mit Rumänien und Ungarn, die sich fortsetzen ließe mit der Tschechoslowakei, Polen oder der Ukraine und die weitere, unter faschistischen wie kommunistischen Systemen „Doppelverfolgte“ offenbaren würde. Der letzte Aufsatz mit dem Titel „Das Wissen der Zeitzeugen vor dem Vergessen bewahren“ von Slupina ist ein Plädoyer für die „lebendigen, wenn auch subjektiven Dokumentationen“ der Glaubensgenossen und ihre Einbeziehung in die „Geschichtsaufarbeitung“, der „Oralhistory als geschichtliche Forschungstechnik“ (S. 359, 365).

Im Anhang finden sich drei „Kurzchroniken zur Verfolgung der Zeugen Jehovas“ während des Nationalsozialismus, in der SBZ/DDR sowie in Osteuropa und der UdSSR (nach 1945). Die Zweiteilung des Literaturverzeichnisses in einen Teil mit Veröffentlichungen über die Jahre 1933 bis 1945 und einen zweiten mit Untersuchungen zur SBZ/DDR ist eher kontraproduktiv, richten doch manche der Autoren zumindest einen Seitenblick auf die jeweils andere Verfolgungsperiode oder bieten grundlegende Informationen, die für die ja ausdrücklich erwünschte Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas nützlich sind. Insgesamt bietet der Tagungsband „Repression und Selbstbehauptung“ einen guten Einstieg für Diejenigen, die sich einen Überblick verschaffen und mit der Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas näher befassen möchten. Besonders lesenswert ist der gut geschriebene und instruktive Beitrag von Hirch über die politische Linie des MfS gegenüber den Zeugen Jehovas. Für mit der Thematik bereits vertrautere LeserInnen bieten die sechzehn Aufsätze wenig Neues beziehungsweise lediglich einen Anreiz, an dieser oder jener Stelle weiterzuforschen.3

Die bereits erwähnte Tübinger religionssoziologische Dissertation von Schmidt stellt die Ausarbeitung seines bei der Heidelberger Tagung referierten Forschungsprojekts dar. Die fast zu kleinschrittig gegliederte Untersuchung ist – zumindest für eine Historikerin – ausgesprochen anstrengend zu lesen. Schmidts Vorgehensweise ist ziemlich theorie- und methodenlastig, wogegen die Ergebnisse – was beispielsweise die Überlegungen zur „Oral History“ anbelangt – sich eher schlicht ausnehmen. Die „forschungstheoretischen Leitgedanken“ dieser Arbeit beziehen sich auf die „religiöse Lebenswelt und die Glaubenspraxis“ der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR mit konkreten Fallstudien für Leipzig und Zittau/Oberlausitz (S. 14). Die Grundlage bildeten, neben dem Quellenstudium im Archiv der Zeugen Jehovas, einige Gespräche mit Zeitzeugen. Schmidt wollte auf diese Weise „die spezifische Religiosität, die Überlebensstrategien, sowie die widerständigen Verhaltensweisen der Zeugen Jehovas in der ehemaligen DDR in ihren Verhältnisbestimmungen zur sozialen und herrschaftlichen Welt unter den gesellschaftlichen Ausnahmebedingungen von Verbot, Repression und Verfolgung“ erforschen (S. 297). Diesen empirischen Untersuchungen stellt er drei Betrachtungsebenen voran, um die „Konfliktdimensionen“ der Gläubigen und die „religiösen und mentalen Voraussetzungen“ für deren „religiösen Selbstbehauptungswillen“ herauszupräparieren: Zuvorderst den gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Ansatz, dann eine strukturgeschichtliche Untersuchung für die „Perspektive der Verfolgungsgeschichte“ und ferner religionssoziologische Überlegungen (S. 14f.). Schmidt kommt zu dem Schluss, „dass die langfristige Erhaltung der Gruppenidentität, die Förderungsmöglichkeiten eines ausgeprägten Wir-Gefühls, sowie die Bewahrung devianter Verhaltensweisen, auf einer Vielzahl einzelner Bedingungen beruhten, die vor allem in den sozialen Primärverhältnissen, den zentripetalen Strukturen der Gemeinschaft, der chiliastischen Ausrichtung der Glaubenslehre, sowie im total commitment der Gläubigen ihre notwendigen Voraussetzungen fanden“ (S. 295). So sei es den Zeugen Jehovas gelungen, trotz des Verbots der Glaubensgemeinschaft (1950) ihre eigene Religion praktisch zu leben. Dadurch hätten sie „ein Zeichen“ gesetzt (S. 302).

Was vor allem an dem von Besier und Vollnhals herausgegeben Sammelband, ansatzweise auch an Schmidts Arbeit, auffällt und irritiert, ist nicht die Tatsache, dass an mehreren Stellen betont wird, die Berührungsängste mit oder sogar die Ablehnung der Glaubensgemeinschaft und ihrer Anhänger dürften nicht den interessierten und würdigenden Blick auf die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas verstellen (Besier/Vollnhals: z.B. S. 1f., 6, 9f.). Selbstverständlich sollte ein Wissenschaftler bei der Betrachtung eines Forschungsgegenstandes den nötigen Abstand wahren und seine Untersuchungen mit weitgehender Objektivität vornehmen. In beiden Büchern wird allerdings der Bezug zur aktuellen Situation der Zeugen Jehovas hergestellt und in den Kontext der angeblich auch in demokratischen Systemen nach wie vor zu beklagenden Verletzungen von Menschenrechten inklusive des Rechts auf Glaubensfreiheit hingewiesen (Besier/Vollnhals: v.a. S. 6, 137f., 181, 357; Schmidt: S. 10, 15). Damit wird der meiner Ansicht nach unzulässige Umkehrschluss aus dem ohne jede Frage harten Leidensweg der Zeugen Jehovas im NS-Staat und in der DDR gezogen: der Glaubensgemeinschaft und ihren Zielen müsse Verständnis und Akzeptanz entgegengebracht werden. Diese Deutung mag im Blick auf Schmidts Publikation als weit hergeholt und in Bezug auf den Tagungsband als übertrieben erscheinen. Versteht man sie jedoch im Kontext mit Besiers jüngsten wohlwollenden Äußerungen über die Scientology-Organisation, so ist die Berechtigung eines Unbehagens nicht von der Hand zu weisen. Wirklich innovativ wäre es, wenn die Wissenschaftler des Hannah-Arendt-Instituts die Paradigmen der Totalitarismusforschung auch auf religiöse Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas und die Scientologen anwenden würden.

Anmerkungen:
1 Lediglich aus einem Tagungsbericht Michael Krenzers für H-Soz-u-Kult vom 1.1.2001 geht hervor, der Leiter des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas, Johannes Wrobel, habe im Rahmen seines Referats „den Historikern für ihre Forschungsarbeit ausdrücklich die Zusammenarbeit“ seines Archivs in Selters/Taunus angeboten. Eine „Aufarbeitung doppelter Opposition und Widerstand“, so Wrobel, habe auch die zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestages gefordert. Hingegen sprechen Besier und Vollnhals in der Einleitung von einer „weitgehenden Kooperationsbereitschaft“ „seit Mitte der neunziger Jahre“.
2 Dirksen, selbst Zeuge Jehovas, hat bereits seine rechtswissenschaftliche Dissertation über die Verfolgung der Glaubensgemeinschaft in der SBZ/DDR geschrieben. Die Monografie „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“ ist in diesem Jahr bereits in einer 2., erweiterten Auflage erschienen. Vgl. dazu meine Rezension bei H-Soz-u-Kult vom 26.3.2002.
3 Die gar nicht so spärlichen Veröffentlichungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas sind auf den Seiten 396-411 verzeichnet, bei Schmidt findet sich die einschlägige gedruckte Literatur auf S. 311-332.

Kommentare

Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Von Krenzer, Michael

Veröffentlichungen zur Geschichte der Zeugen Jehovas sind für den Ruf eines Historikers nicht ungefährlich! Er gerät schnell in den Dunstkreis kirchlicher Apologetik, die neben der vermeintlichen „Sekte“ auch den, der über sie forscht, zu diskreditieren versucht. Leider konnte auch Anke Silomon in ihrer jüngst bei H-Soz-u-Kult veröffentlichten Rezension der von Gerhard Besier und Clemens Vollnhals herausgegeben Anthologie der apologetischen Versuchung nicht widerstehen:

1) Silomon verspürt „Unbehagen“ und ist „irritiert“, weil Besier durch eine (unveröffentlichte) Scientologystudie und die Herausgabe des besprochenen Sammelbands einer Historikertagung gleich für zwei „Sekten“ eintritt. Durch den „Bezug zur aktuellen Situation der Zeugen Jehovas“ und den Hinweis auf „angeblich auch in demokratischen Systemen nach wie vor zu beklagenden Verletzungen von Menschenrechten“ werde aus dem Leiden der Opfer der „unzulässige Umkehrschluss“ gezogen, dass „der Glaubensgemeinschaft und ihren Zielen […] Verständnis und Akzeptanz entgegengebracht werden“ müssen. Abgesehen davon, dass erstens Akzeptanz und Verständnis auch Minderheiten erwiesen werden dürfen und zweitens Demokratie keineswegs gegen Menschenrechtsverletzungen immunisiert 1, ist nicht nachvollziehbar, warum die Würdigung als Opfergruppe „automatisch eine Billigung oder gar Identifikation mit den Zielen der Wachtturm-Gesellschaft“ (S. 29 2) bedeuten soll. Außerdem lassen die von Silomon inkriminierten Passagen den von ihr gezogenen Schluss nicht zu: Genügt etwa bereits die Feststellung, dass „in vielen Ländern der Erde heute nach wie vor Menschen diskriminiert und verfolgt [werden], weil sie eine bestimmte Überzeugung haben“ (S. 181), um in bedenklicher Weise für Zeugen Jehovas zu werben? Der einzige Bezug zur „aktuellen Situation der Zeugen Jehovas“ ergibt sich indirekt aus ihrem „apolitischen Lebensentwurf“, der sie in beiden Diktaturen zu Opfern werden ließ. Auch heute ruft diese Haltung Misstrauen hervor, obwohl sie „sich nicht gegen die freiheitliche Verfassungsordnung [richtet], sondern auf ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens in ‚christlicher Neutralität’“ 3. Wer argumentiert, die Thematisierung der Geschichte der Zeugen Jehovas „nutze nur dieser – wie verächtlich formuliert wird – ‚Sekte’ in ihren missionarischen Bemühungen […, wird] weder dem historischen Sachverhalt gerecht, demzufolge die Zeugen Jehovas zu den am härtesten betroffenen Opfergruppen zählten, noch zeugt seine Position von großem Zutrauen in die eigene Urteilsfähigkeit der Menschen“ (S. 29).

2) Silomon behauptet, die Geschichtswissenschaft habe dem Thema bislang u. a. deshalb kaum Beachtung geschenkt, weil „diese religiöse Gruppe […] ihre Türen und Archive 3 nur Personen geöffnet hat, die entweder selbst Zeugen Jehovas sind oder überzeugend vermitteln konnten, dass sie diesen aufgeschlossen bis sympathisierend gegenüberstehen, sie also nicht als ‚Sekte’ betrachten.“ Der als „Zeugen Jehovas-Forscher“ bezeichnete Detlef Garbe 4 verspürt durch solche Unterstellungen offenbar Rechtfertigungsdruck, denn seine Veröffentlichungen betonen stets seine kritische Distanz zur Glaubensgemeinschaft. Müssen sich demnächst Historiker, die die frühe US-Außenpolitik erforschen, hinsichtlich ihres Standpunkts zur gegenwärtigen Irak-Politik der USA erklären? Oder sollten Mediävisten, die die Ausbreitung des Islam untersuchen, vorsorglich versichern, nicht einer islamistischen Gruppe nahe zu stehen? Der Freiheit von Forschung und Lehre wird ein schlechter Dienst erwiesen, wenn der Versuch unternommen wird, Wissenschaftler, die sich das „falsche“ Forschungsgebiet ausgewählt haben, zu diskreditieren. Ihre Forschungsergebnisse werden nicht dadurch falsch, dass sie eine Religionsgemeinschaft nicht in dem negativen Licht erscheinen lassen, in das die kirchliche Apologetik sie gestellt sehen möchte.

3) Silomon schließt mit der Empfehlung, die Herausgeber sollten die „Paradigmen der Totalitarismusforschung“ auch auf „Zeugen Jehovas und die Scientologen“ anwenden. Die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ warnte vor der „Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung“, wenn „konfliktträchtige Merkmale in Strukturen, Aktivitäten und Zielen additiv beschrieben und dabei der Eindruck erweckt [werde], die so erzielte Summe von Negativmerkmalen treffe alle Gruppen und alle in gleicher Weise“ 4. Silomon versucht genau dies, wenn sie die „aufgrund ihrer totalitären Strukturen sogar als gefährlich [eingestufte] und seit 1997 vom Verfassungsschutz“ beobachtete Scientology-Organisation in einem Atemzug mit Jehovas Zeugen nennt. Im Übrigen wurde Silomons Ansinnen längst diskutiert und als kontraproduktiv zurückgewiesen 5.

Bei allen theologischen Differenzen sollte unstrittig sein, „dass die Opfer aus dem Kreis der Zeugen Jehovas, die um ihres Glaubens willen Verfolgung litten und eher den eigenen Tod hinzunehmen gewillt waren, als sich an Kriegshandlungen zu beteiligen, Hochachtung und Respekt verdienen. Die Öffentlichkeit täte gut daran, diesen den Zeugen Jehovas nicht zu versagen. Wie immer man die Motive und das Verhalten der Zeugen Jehovas im einzelnen bewertet, unzweifelhaft ist, dass sie im Unterschied zur großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung die nationalsozialistische Herrschaft zu keinem Zeitpunkt mitgetragen haben“ (S. 34).

Anmerkungen:
1 Der Suchbegriff „Zeugen Jehovas“ auf der Website von Amnesty International (www.amnesty.de) liefert auch Verweise auf demokratische Staaten.
2 Die Seitenangaben beziehen sich auf den von Silomon rezensierten Sammelband.
3 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 2 BvR 1500/97 vom 19.12.2000, Abs. 102, www.bverfg.de/.
4 Viele Archive sind nicht ohne weiteres nutzbar (z.B. Vatikan), aber ein „Archiv kann sich nicht öffnen, wenn es nicht existiert. Erst im April 1996 etablierte sich in Deutschland das zentrale ‚Geschichtsarchiv’ der Z[eugen]J[ehovas]“ (Johannes Wrobel, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus – Rezeption, Rezension, Interpretation. In: Religion – Staat – Gesellschaft, 4. Jg., Heft 1, Berlin 2003, S. 126).
5 Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, München 1993. Die Monographie gab den Anstoß zur Erforschung dieser lange „vergessenen Opfer“.
[6] Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10950, 9. 6. 1998, S. 35.
[7] Garbe, a.a.O., S. 526ff. Garbe rät „im Hinblick auf die Mitwirkung der Kirchen beim staatlichen Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas [… zu] leisen Tönen […]; hier steht bis heute eine kirchengeschichtliche Aufarbeitung und ein offizielles Wort des Bedauerns aus“ (S. 33).


Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Von Wrobel, Johannes

Dieser Beitrag geht auf einige Fragen in der Sammelrezension von Anke Silomon in H-Soz-u-Kult vom 25.11.2003 ein. Die Rezensentin sieht die Zweiteilung des Literaturverzeichnisses in einen Teil über die Jahre 1933 bis 1945 und einen zweiten Teil über die SBZ/DDR-Zeit als „kontraproduktiv“ an. Das Gegenteil ist der Fall, weil nun die Entwicklung und die Häufigkeit von Veröffentlichungen hervortreten: 120 Fachaufsätze, 28 Bücher, 17 Erinnerungsberichte, 9 Filme und 5 Materialien für den Schulunterricht, insgesamt 179 Veröffentlichungen zur Verfolgung der Zeugen Jehovas in der NS-Zeit (überwiegend vor 2000 erschienen), und für die SBZ/DDR-Zeit 24 Aufsätze, 5 Bücher, 4 Zeitzeugenberichte und 2 Filme (keine Schulmaterialien), insgesamt 35 Veröffentlichungen (überwiegend ab 2000 produziert).

Das Verzeichnis, das online unter http://www.standfirm.de aktualisiert wird, stützt keineswegs die These von Anke Silomon, das Thema habe „seit etwa 2000 [...] ein wenig Konjunktur“. Denn sie fügt hinzu, „es stellt sich die Frage, wie dies zu erklären ist“, und verknüpft ihre Antwort mit Forschungsthemen und der Person von Professor Besier, der im November 2000 die Heidelberger Tagung zur Verfolgung der Zeugen Jehovas in beiden deutschen Diktaturen organisierte. Der Zirkelschluß zwischen Zeugen Jehovas, dem Kirchenhistoriker Besier, einem gläubigen evangelischen Christen, und Scientology ist absurd und schürt Vorurteile. Zwischen Jehovas Zeugen und Scientology liegen religionskundlich und geschichtswissenschaftlich gesehen Welten.

Nicht weniger konstruiert ist die Deutung, der Tagungsgegenstand führe zu dem Umkehrschluß, der Glaubensgemeinschaft und ihren Ziele müsse „Verständnis und Akzeptanz“ entgegengebracht werden, was selbst der Rezensentin als „übertrieben“ und „weit hergeholt“ erscheint, doch gleichzeitig soll „die Berechtigung eines Unbehagens“, wenn diese Deutung „im Kontext mit Besiers jüngsten wohlwollenden Äußerungen über die Scientology-Organisation“ verstanden wird, „nicht von der Hand zu weisen sein“. Professor Besier kommt nicht zu Wort, um über Intention und tatsächliche „Äußerungen“ aufzuklären. Nachdenklich stimmt, was Professor Martin Kriele in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“ unter dem Titel „Warum darf Besier nicht veröffentlichen?“ zum Ausdruck bringt: „Was waltet da für ein neuer McCarthyismus? Hier geht es um Grundprinzipien unserer politischen Kultur: um Wissenschaftsfreiheit, Meinungsfreiheit, Vereinsfreiheit, Religionsfreiheit, um das Diskriminierungsverbot und den Grundsatz ‚audiatur et altera pars‘“ (ZRP 2003, Heft 12, S. 475).

Wenn nicht „seit etwa 2000“ (Anke Silomon), wann setzte dann die Entwicklung ein? Was förderte die Forschungs- und Erinnerungsarbeit zur NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas auf internationaler Ebene? Die erste Fachtagung führte das US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C. am 29.9.1994 unter dem Motto „The Nazi Assault Against Jehovah's Witnesses“ durch, was die Produktion einer Videodokumentation in über 30 Sprachen auslöste, in der 10 Historiker und über 20 Zeitzeugen zu Wort kommen. Die Titel lautet „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“. Nach der Weltpremiere des Films am 6.11.1996 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück folgten zahlreiche öffentliche Vorführungen im In- und Ausland, ebenso Publikationen.

Am 4.10.1997 führte die Bundeszentrale für Politische Bildung, das Fritz Bauer Institut und das Kreismuseum Wewelsburg gemeinsam eine Tagung zur Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus durch, über die die Leiter dieser Institutionen im Editorial des Tagungsbandes schreiben: „Es gab im Vorfeld der Planungen Befürchtungen, die Veranstaltung könnte von der Leitung der Wachtturm-Gesellschaft als Plattform für Versuche benutzt werden, die beteiligten öffentlichen Institutionen für Zwecke der Selbstdarstellung ihrer Organisation zu funktionalisieren. Der Verlauf der Tagung entzog diesem Verdacht den Boden. In großer Offenheit und mit deutlicher Achtung vor anderen Auffassungen beteiligten sich die anwesenden führenden Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft ebenso wie die Zeugen Jehovas im Publikum an den Diskussionsrunden“ (Widerstand aus christlicher Überzeugung – Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus. Dokumentation einer Tagung. Essen 1998). Weitere Fachtagungen in Hamburg und Frankfurt/Main und ein Sammelband von Hans Hesse (Hg.) schlossen sich an. Innovativ an der Heidelberger Tagung vom 3.– 5.11.2000 war, daß Professor Besier die „Doppelverfolgung“ der Zeugen Jehovas mit Schwerpunkt DDR-Zeit in den Mittelpunkt der Referate rücken ließ.

Es trifft auch nicht zu, dass lediglich aus einem Tagungsbericht Michaels Krenzers für H-Soz-u-Kult vom 1.1.2001 hervorgeht, dass im Rahmen eines Referats den Historikern für ihre Forschungsarbeit ausdrücklich die Zusammenarbeit des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas angeboten wurde. Tatsächlich erwähnt Detlef Garbe Anliegen und Anschrift des Archivs ab der 3. Auflage von Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im 'Dritten Reich', München 1999, S. 38. Das Angebot wurde auch international bekannt gemacht (und war im Internet abrufbar), siehe Johannes Wrobel: How the Watchtower History Archive in Germany Benefits Holocaust Research, in: Shadow of the Holocaust. Second International Symposium Lessons of the Holocaust and Contemporary Russia“ Moscow, May 4.–7, 1997, The Russian Holocaust Library, Moscow 1998, S. 285-288; ders.: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus – Rezeption, Rezension, Interpretation, in: Religion – Staat – Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen, 1 (2003), S. 115-150.


Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Von Silomon, Anke

In Michael Krenzers oben abgedruckter Erwiderung auf meine am 25. November 2003 in H-SOZ-U-KULT erschienene Sammelrezension zu zwei Büchern über die Verfolgung der Zeugen Jehovas im NS-Staat und der DDR hat sowohl Zitate aus meiner Rezension als auch aus dem besprochenen Tagungsband und verschiedenen anderen Quellen verwendet. Da Krenzer einige dieser Zitate aus dem ursprünglichen Kontext gelöst hat, wird die von mir vorgenommene Bewertung nicht korrekt wiedergegeben. Interessierte sollten meine Rezension am besten selbst lesen.
Warum es eine Abqualifizierung sein sollte, wenn ich Detlef Garbe als "Zeugen Jehovas-Forscher" bezeichne, kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe diese Rezension als Historikerin mit den Forschungsschwerpunkten evangelische Kirche und DDR geschrieben. Ein NS-Forscher ist doch auch kein Nazi, genausowenig wie ich als Kirchenhistorikerin Apologetin der EKD bin. Es war überdies keineswegs meine Absicht, die "Zeugen Jehovas" mit den Scientologen auf eine Stufe zu stellen.


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