Sven Keller hat eine akribische Studie zur Biografie Josef Mengeles vorgelegt – verbunden mit den Fragestellungen, wie prägend Mengeles Heimatstadt Günzburg für den späteren SS-Arzt war und welche Rolle die Stadt bei der Suche nach dem NS-Verbrecher ab 1945 spielte. Die leicht überarbeitete und erweiterte Magisterarbeit verfolgt zunächst die Biografie Mengeles von 1911 bis zu seinem Tod 1979 (Teil I), stellt unter der Überschrift „Der virtuelle Mengele“ das von Mythen und Halbwahrheiten verzeichnete Bild Mengeles nach 1945 dar (Teil II), untersucht die politische und weltanschauliche Prägung des Täters Mengele (Teil III) und beleuchtet die Rolle der Familie Mengele, die eine Fabrik für Landmaschinen besaß, in der Kleinstadt Günzburg (20.000 Einwohner) (Teil IV). Die zweite Hälfte der Arbeit (Teil V-VII) verfolgt chronologisch den Umgang der Günzburger Öffentlichkeit mit dem „Fall Mengele“ und zeichnet das Bild einer zeitweise internationalen Öffentlichkeit von der „mengele-town“, für das Keller den Begriff „Günzburg-Mythos“ verwendet.
Von besonderem Wert ist die Darstellung der Biografie Mengeles, in der Keller manche Fehler der bisherigen Literatur auf der Basis genauer quellenkritischer Arbeit widerlegt. Auch die tatsächliche Rolle Mengeles als keineswegs einziger oder alles bestimmender SS-Arzt in Auschwitz-Birkenau von 1943 bis 1945 kommt mit all seiner Grausamkeit der Selektionen und der kalten Gewissenlosigkeit bei Menschenversuchen knapp und präzise zur Sprache. Die Umstände der Flucht und das Leben unter falschem Namen in Südamerika bis 1979 sowie die in der Öffentlichkeit von Mythen, reißerischen Presseartikeln und Behauptungen von Nazi-Jägern überlagerte letzte Lebensphase Mengeles nehmen sich in Sven Kellers Buch wesentlich weniger abenteuerlich, zeitweise geradezu armselig aus.
Es geht Keller, der selbst aus Günzburg stammt, jedoch nicht vorrangig um eine wissenschaftlich fundierte Biografie Mengeles, sondern um die Widerlegung des von ihm so bezeichneten „Günzburg-Mythos“ – und hier offenbart das Buch auch einige Schwächen. Die ausgiebig verwendete „Günzburger Zeitung“ muss zwar zweifellos als wichtigste Quelle zum veröffentlichten Meinungsbild in der Kleinstadt herangezogen werden, doch vermisst man nähere Angaben zur Haltung verschiedener Akteure aus Kirchen und Parteien sowie zur Frage, wie sich unterschiedliche Generationen in Günzburg zum Fall Mengele stellten. Keller stützt sich stark auf den fünfbändigen Spezialakt „Josef Mengele“ im Stadtarchiv Günzburg, der Zeitungsartikel und die Korrespondenz des Oberbürgermeisters Dr. Rudolf Köppler enthält. So kritisch Keller mit der Familie Mengele ins Gericht geht, die den SS-Arzt und NS-Verbrecher zeitlebens unterstützte und sein Untertauchen überhaupt erst ermöglichte, so unkritisch übernimmt er eine Verteidigungshaltung gegen Anwürfe, Günzburg sei eine verschworene Gemeinschaft zum Schutz des NS-Verbrechers Mengele gewesen. Nicht nur eine starke Verbundenheit mit seiner Heimatstadt, sondern auch eine große Sympathie zum Altoberbürgermeister Köppler ist in Kellers Darstellung deutlich spürbar.
Es versteht sich fast von selbst, dass Mengeles Verhalten in Auschwitz nicht mit einer besonderen Prägung durch die Stadt Günzburg zu erklären ist. Ebenso wenig erscheint es schlüssig, eine ganze Kleinstadt pauschal als Mittätergemeinschaft zu charakterisieren, wie dies die „BILD“-Zeitung 1964 gestützt auf Erfahrungen von Fritz Bauer tat und so den „Günzburg-Mythos“ begründete. Die Hartnäckigkeit, mit der sich dieses Bild in der Presse hielt, führte nahezu zwangsläufig zu einer gestörten Kommunikation zwischen Reportern, die ein solches Bild im Kopf hatten, und den Günzburgern, die Schaden von ihrer Stadt und der angesehenen Familie Mengele abwenden wollten. Dies zeichnet Keller, ergänzt durch Rückgriffe auf die aktuelle Forschung zur Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, vorwiegend aus der Perspektive der Günzburger nach.
Im Gegensatz zum Schweigen, dem Verdrängen und den Abwehrkämpfen in den 1950er- und 1960er-Jahren bleibt das darauf folgende Jahrzehnt der 1970er-Jahre völlig ausgeblendet. Dies ist umso unverständlicher, als in dieser Zeit die erste wissenschaftliche Arbeit zur Region Günzburg im Nationalsozialismus erschien.[1] Keller vermerkt hierzu nur (S. 151, Anm. 32): „In welchem Umfang diese Studie in Günzburg rezipiert wurde, ist unbekannt.“ Da die Akten des Stadtarchivs in diesem Punkt offensichtlich wenig ergiebig sind, hätte es nahe gelegen, damalige Akteure und den Autor Zdenek Zofka zu befragen. Eine derartige Verbreiterung der Quellengrundlage wäre angesichts des Anspruches der Arbeit, die Haltung Günzburgs zum Fall Mengele insgesamt darzustellen, dringend notwendig gewesen. Auch eine vergleichende Perspektive hätte dem Buch gut getan. So wäre deutlich geworden, dass sich Günzburg im Vergleich zu anderen, auch kleineren Städten spät seiner NS-Vergangenheit gestellt hat.
Trotz dieser etwas unvollständigen Schilderung der Vergangenheitspolitik in Günzburg ist Kellers Arbeit lesenswert und in ihrem ersten Teil eine wichtige wissenschaftliche Leistung.[2]
Anmerkung:
[1] Zofka, Zdenek, Die Ausbreitung des Nationalsozialismus auf dem Lande. Eine regionale Fallstudie zur politischen Einstellung der Landbevölkerung in der Zeit des Aufstiegs und der Machtergreifung der NSDAP 1928–1936, München 1979.
[2] Das Buch wurde in der regionalen Tagespresse ausführlich und sehr positiv besprochen; einige überregionale Blätter äußerten sich jedoch kritisch bis negativ. Siehe Günzburger Zeitung vom 4.10.2003, Frankfurter Rundschau vom 2.12.2003, DIE ZEIT vom 17.12.2003.