Hans Kelsen (1881–1973), der „Jahrhundertjurist“, der „Vater“ der bis heute gültigen österreichischen Verfassung (B-VG), dessen Leben im damals österreichischen Prag begann und nach Stationen in Wien, Köln, Genf, Prag am (und im) Pazifischen Ozean endete, ist in der deutschen Rechtswissenschaft immer noch – im Gegensatz zu vielen anderen Teilen der Welt (vor allem Zentraleuropa, Italien und Südamerika) – ein Außenseiter. Obwohl sich die sowohl sprachlich wie auch strukturell sehr deutschen Kelsen‘schen Sätze nur schwierig in die Sprache seiner letzten Heimat, der USA, übersetzen ließen, blieb sein theoretisches Werk, die Reine Rechtslehre, für lange Zeit höchstens eine Randnotiz in der Bonner Rechtswissenschaft. Während der Wiener Kelsen in der Weimarer Republik noch zu den vier größten Staatsrechtlern (neben Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller) gehörte, wurde er (gerade er, der nach 1933 vor den Nazis fliehen musste) in der Bonner Republik lange – wie Horst Dreier in dem hier zu besprechenden Buch schreibt – von „eine[r] Mischung aus Distanz, Ignoranz und Desinformation“ begleitet (S. 107). Statt ihm und seiner Lehre konnten und können die mehr oder weniger faschistischen Rechtstheorien eines Rudolf Smend oder eines Carl Schmitt das bundesdeutsche Rechtsdenken bis heute maßgeblich prägen.1
Womit erklärt sich diese lange Abwesenheit eines rechtspositivistischen und liberal-demokratischen Autors? Kelsens Thesen – vom „staatslosen“ Recht (das heißt, dass der Staat nichts anderes sei als die Rechtsordnung) bis hin zur „volkslosen“ Demokratie (das bedeutet, dass er den gesellschaftlichen Pluralismus und nicht ein homogenes Volk als Grundlage und Ziel der Demokratie ansah) – stehen in vieler Hinsicht diametral dem etatistischen Mainstream der deutschen Rechtswissenschaft entgegen. Wie dieser Mainstream einem metajuristischen Etatismus oder der Idee, der Demokratie ginge eine homogene Einheit voraus, erliegt, lässt sich pars pro toto an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bezüglich der europäischen Integration (zuletzt in der viel kritisierten Entscheidung über das Staatsanleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank) erkennen. Dreier selbst betont, dass sich Kelsens Theorien (vor allem die Dekonstruktion der Staatssouveränität) „besonders fruchtbar für die Analyse der schwierigen Frage des Verhältnisses von mitgliedsstaatlicher und supranationaler Rechtsebene“ erweisen könnte (S. 53).
Die Differenz zwischen der „herrschenden Meinung“ in der deutschen Staatsrechtslehre und Hans Kelsen erklärt sich aus dem österreichischen Hintergrund des Letzteren. Auch wenn Kelsens „Heimat einzig die Wissenschaft“ gewesen sei (S. 5), war er doch ein Kind seiner Zeit, wie auch seine Theorien als Produkt des „österreichischen Geistes“ – das heißt als Produkt einer supranationalen Denktradition – angesehen werden können.2 Einem supranationalen Reich wie dem Habsburgerreich, das nicht durch irgendwelche Homogenität, sondern als eine Rechtsgemeinschaft zusammengehalten war, entspricht in der Tat ein Rechtsverständnis, welches das Recht metapositivistisch-metaphysisch nicht überstrapaziert.3 Kelsen erlebte als Jurist nur die letzten Jahre der Habsburgermonarchie, dennoch verortete er die Reine Rechtslehre – wie er 1947 schrieb – „als eine spezifisch oesterreichische Theorie“.4
Warum ist es wichtig, so ausführlich die schleppende Rezeption und die widerwillige Anerkennung Kelsens in der deutschen Rechtswissenschaft zu betonen? Die Antwort liegt am Autor des besprochenen Buches. Horst Dreier ist nämlich einer der wenigen deutschen Jurist/innen, die sehr früh nicht nur das wissenschaftliche Interesse, sondern auch den damals nicht unbedingt karrierefördernden Mut hatten, sich mit Hans Kelsen und seinen Theorien zu befassen (S. 125ff.). Im vorliegenden Buch des Würzburger Staatsrechtlers sind wichtigste Ergebnisse dieser jahrzehntelangen Beschäftigung nachzulesen. Dreier selbst thematisiert die Rezeptionsgeschichte (Kapitel 4, 5), in welcher ihm selbst – als praktisch dem ersten deutschen Nachkriegsjuristen, der als Kelsenianer bezeichnet werden kann – eine eminente Rolle zukommt. Auch wenn es sich im Buch um bereits andernorts veröffentlichte Aufsätze handelt – bezeichnenderweise konnte eine Vielzahl der Aufsätze zuerst in österreichischen, aber nicht in deutschen Zeitschriften erscheinen (S. V) –, stellt der vom Freiburger Staatsrechtler Matthias Jestaedt und dem Kieler Rechtsphilosophen Stanley L. Paulson herausgegebene Band ein wichtiges Dokument der deutschen Kelsen-Rezeption dar. Bis auf drei Kapitel geht es im Buch ausschließlich um Hans Kelsen (in einem Artikel auch um seinen Schüler, den österreichischen Verwaltungsjuristen Adolf Merkl, in einem anderen um einen Vergleich mit Niklas Luhmann). Aber die Aufsätze über Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Max Weber (Kapitel 8, 9, 11) gliedern sich ebenso gut in die Thematik des Buches ein, weil das Werk dieser Autoren die Anschlussfähigkeit Kelsens an eine andere (mögliche) Tradition der deutschen Rechtsgeschichte, jene des deutschen Rechtspositivismus, hervorhebt.
Horst Dreier beginnt mit Kelsens Lebenslauf (Kapitel 1), wenn auch nur kursorisch – die diesbezüglichen Forschungen stehen noch am Anfang (auch die erste wissenschaftliche Biographie von Hans Kelsen erschien erst heuer)5, zudem ist Dreier kein Ideen-, Zeit- oder Rechtshistoriker, sein Fokus lag und liegt auf den Kelsen‘schen Theorien, insbesondere der Rechts- und Demokratietheorie (Kapitel 2, 3). Kelsens Reine Rechtslehre, für die er bis heute weltbekannt ist, dekonstruiert althergebrachte Ideen der klassischen Rechts- und Staatslehre (wie den Dualismus zwischen Staat und Recht etc.). Mit der Stufenbaulehre des Rechts, welche er von Adolf Merkl übernahm, gelang es ihm, die dynamische Relationalität der Rechtssetzung und Rechtsanwendung zu beweisen. Kelsen rechnete schon in seiner Habilitationsschrift von 1911 mit den herrschenden Meinungen der damaligen Rechtswissenschaft ab. Insofern überführte er seine Disziplin nicht nur in die wissenschaftliche Moderne, sondern er nahm auch postmoderne, dekonstruktivistische Ansätze vorweg. Kelsen zog – wie Matthias Jestaedt schreibt – „der eigenen Disziplin den Schleier weg, hinter dem diese ungestört politisieren kann“.6 Obwohl Kelsen öfters einer abstrakten Lebensfremdheit bezichtigt wurde, kann eben eine reine (also eine ideologisch nicht vernebelte, methodologisch klare) Rechtslehre das Politische im und am Recht erkennen und aufzeigen. Indem Kelsen auch die strikte Trennung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung in der Stufenbaulehre aufhob, konnte er zeigen, wie alle Stufen eines dynamischen Rechtslebens – von der Gesetzgebung bis hin zur Vollstreckung – rechtsschöpferisch (in diesem Sinne: politisch) sind (S. 64). Dreier betont bezüglich der Kelsen‘schen Ideologiekritik, dass die Reine Rechtslehre ein Wissenschaftsprogram sei (S. 29ff.). Denn „[d]ie Reine Rechtslehre will nicht Lehre eines reinen (guten, richtigen, gerechten) Rechts, sie will vielmehr eine reine (unverfälschte, objektive) Lehre des Rechts sein. Die Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst.“ (S. 7)
Dass Kelsen besonders nach dem Zweiten Weltkrieg kaum, geschweige denn positiv, in der Bundesrepublik zitiert wurde, hing mit der Naturrechtsrenaissance zusammen (S. 106ff.). Die bundesrepublikanische Rechtswissenschaft glaubte, die nationalsozialistische Vergangenheit durch eine Zuwendung zu naturrechtlichen Ideen aufarbeiten zu können, als ob der Rechtspositivismus und nicht die Kritik daran den meta- und antipositivistischen Nationalsozialismus ermöglicht hätte (S. 22, S. 181, S. 198ff.). Dreier widerlegt – anhand der Werke wichtiger Rechtspositivisten (Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen, H.L.A. Hart, Felix Somló) – die üblichen antipositivistischen Vorwürfe (Kapitel 10). Der Rechtspositivismus verlangt demnach keinesfalls blinden Gehorsam gegenüber jeglichem Gesetz (S. 312ff.), die Rechtsanwendung wird auch beim Rechtspositivismus nicht als eine mechanisch und alternativlos erfolgte, rein logische Subsumption dargestellt (S. 331ff.).
Die immanent kritische Besprechung der bekannten Radbruch‘schen Formel, nach der das Recht ein gewisses Minimum an Gerechtigkeit aufzuweisen habe, ist ebenso konsequent wie Dreiers Verteidigung des Rechtspositivismus (Kapitel 7). Nicht die moralische Aufladung (wie im Naturrecht), sondern die strikte Trennung zwischen Recht und Moral (wie im Rechtspositivismus) ermöglicht nämlich sowohl die Kritik am Recht als auch den Widerstand gegen den konkreten Gesetzgeber – aber dies gehört schon in den Bereich menschlicher Eigenverantwortung, der Positivismus begründet weder die Pflicht zum Gehorsam noch die Pflicht zum Widerstand (S. 195). Weil es keine absolute Wahrheit gibt – und dies gilt besonders für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, wo eine absolute Wahrheit nicht nur faktisch nicht vorliegt, sondern auch prinzipiell gefährlich wäre (S. 198) –, ist eine Rechtstheorie vorzugswürdiger, „die sich davor hütet, die positiven Rechtsnormen als verpflichtende Elemente einer objektiven Sollensordnung auszugeben und eine moralische Bewertung des Rechts im Wege einer bestimmten begrifflichen Festlegung zu erschleichen“ (S. 199).
Kelsen lehnte absolute Wahrheiten nicht nur bezüglich der Rechtswissenschaft ab, sondern er begründete auch die Demokratie als eine politische Form, welche einer relativistischen Grundhaltung bedarf (S. 87ff.). Kelsen bewies, dass Demokratie – etwa im Gegensatz zum Demokratie-Konzept von Carl Schmitt (S. 79ff.) – nicht Homogenität, sondern Pluralität bedeutet, insofern ständig wechselnde Mehr- und Minderheiten voraussetzt und schützt, welche ihre jeweilige Position nicht absolut setzen dürfen: „Ideologischer Absolutheitsanspruch und plurale Demokratie mit Mehrparteiensystem, Rechten der Opposition, parlamentarischem Minderheitenschutz und realer Machtwechselchance schließen sich wechselseitig aus.“ (S. 89) Was in den Ohren heutiger liberaler Demokrat/innen banal klingen mag, war in der Rechtswissenschaft und den politischen Diskussionen der deutschen und österreichischen Zwischenkriegszeit keinesfalls die Mehrheitsmeinung. Kelsen schrieb gegen eine allgemein verbreitete, links- wie rechtsgerichtete Parlamentarismuskritik an, indem er immer wieder betonte, dass die Demokratie die gesellschaftlichen und persönlichen Interessenkonflikte nicht aufheben, sondern in einem Kompromiss zur Geltung bringen solle.
Kelsens Demokratielehre ist eine logische Folge seiner Reinen Rechtslehre – aber er befasste sich nicht aus purem theoretischem Interesse heraus mit der Frage der Demokratie. In Österreich war er antiliberalen Angriffen ausgesetzt, er musste Wien schon 1930 (acht Jahre vor dem „Anschluss“!) verlassen. Kelsen war nicht nur Begründer der Reinen Rechtslehre, ein anerkannter Verfassungs- und Völkerrechtler, sondern besonders in der Ersten Republik (also im Österreich der Zwischenkriegszeit) ein kreativ (politisch) interpretierender Verfassungsrichter und ein den Sozialdemokraten nahestehender public intellectual.
Dreiers Studien leisten einen wichtigen Beitrag in der Kelsen-resistenten deutschen Rechtswissenschaft. Der Österreicher Kelsen ist nun zumindest in der deutschen Rechtstheorie – wenn auch noch nicht in der Rechtspraxis (siehe die europarechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) – endlich angekommen. Davon zeugt etwa das groß angelegte Editionsprojekt seiner Schriften durch eine Kooperation zwischen Freiburg und Wien. Zu verdanken ist das nicht zuletzt Dreiers Pionierarbeiten, die in diesem Buch gesammelt vorliegen.
Anmerkungen:
1 Während Schmitts Faschismus oder seine Nähe an das NS-Regime vielfach erörtert wurden, sind die faschistischen Elemente der Smend‘schen Integrationslehre, welche in der Bundesrepublik sogar als sozialdemokratische Alternative zu Schmitt angesehen wurde, weniger aufgearbeitet; siehe dazu etwa Robert Christian van Ooyen, Integration. Die antidemokratische Staatstheorie von Rudolf Smend im politischen System der Bundesrepublik, Wiesbaden 2014.
2 William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938, Berkeley 1972, S. 95ff.
3 Manfred Baldus, Hapsburgian Multiethnicity and the “Unity of the State”. On the Structural Setting of Kelsen’s Legal Thought, in: Dan Diner / Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999, S. 18ff.
4 Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: ders., Werke. Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hrsg. von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen 2007, S. 60.
5 Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen 2020.
6 Matthias Jestaedt, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis. Sonderpublikation anläßlich des 125. Geburtstages von Hans Kelsen am 11. Oktober 2006, Tübingen 2006, S. 2.