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Titel
Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region


Autor(en)
Csáky, Moritz
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Techet, Institut für Staatswissenschaften und Rechtsphilosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Moritz Csáky, der Doyen der österreichischen Geschichtswissenschaft – oder: der viel breiter gefassten Austrian Studies – führte schon vor Jahrzehnten den Begriff „Zentraleuropa“ als Gegenkonzept sowohl zum deutsch-imperialistischen „Mitteleuropa“ als auch zum starren, engen „Ost(mittel)europa“ in die Diskussion ein.1 Csáky strebt eine „‘Entprovinzialisierung‘ Zentraleuropas“ an (S. 349). Er wendet dabei postmoderne, poststrukturalistische und postkoloniale Ansätze sowie literatur- oder sprachwissenschaftliche Methoden an, weswegen seine Historiographie – trotz ihrer Deutschsprachigkeit – nicht nur internationaler, globaler, sondern auch perspektivischer wirkt. Somit sprengt er interdisziplinär die Grenzen der klassischen Geschichtswissenschaft. Zugleich stellt er an sich infrage, Räume statisch festlegen zu können.

Csáky blieb uns allerdings ein Werk schuldig, in dem er sein Vorhaben monographisch erörtert hätte. Diesem Ansatz kommt er in seinem neuesten Buch über das Gedächtnis Zentraleuropas am nächsten, in dem er sein Konzept anhand kultureller und literarischer Projektionen auf diese Region erläutert. Theoretische Teile (Kapitel I, VII, VIII) über „Zentraleuropa“, Plurikulturalität, Hybridität werden mit Studien darüber ergänzt, wie sich die dynamische Pluralität dieses Raumes in den Werken einiger Autoren (Franz Kafka, Hermann Bahr, Joseph Roth, Miroslav Krleža, Wilma von Vukelich, Carl Techet, Hugo von Hofmannstahl, Fritz Mauthner, Robert Musil, Rainer Maria Rilke usw.) nachspüren, nachweisen lässt. In seinem Buch folgt Csáky eindeutig einem kulturwissenschaftlichen Ansatz, er begreift dabei Kultur „als ein Gewebe, ein[en] ‚Text‘, der immer wieder neu und unterschiedlich entziffert, ‚gelesen‘, interpretiert, analysiert werden will“ (S. 58).

In den theoretischen Kapiteln erprobt Csáky einige den allgemeinen Kultur- und Literaturwissenschaften entliehene Konzepte an thematisch wie zeitlich unterschiedlichen Fragen aus der (ehemaligen) Habsburgermonarchie – von der historischen Mehrsprachigkeit des habsburgischen Wien (und dessen musikalischen Ausdrücken) über das „Kronprinzenwerk“, in dem auf Initiative des Thronfolgers Rudolf die Vielfalt Österreichs (nicht zuletzt auch staatslegitimierend) dargestellt und gepriesen wurde, bis hin zur Mimikry als Ausdruck selbstauferlegter „innerer Kolonisierung“. Die Themen sind „kakanisch“ bunt und gewollt heuristisch – einen Zusammenhang gewinnen sie erst durch die Erklärungsfolie „Zentraleuropa“. Kritisch lässt sich anmerken, dass die theoretischen Grundlagen redundant erörtert werden – eine straffere Struktur würde das innovative Potential des Buches noch mehr hervorheben.

In den Kapiteln II bis VII stehen nicht die theoretischen Ansätze im Vordergrund, sondern einzelne Lebenswege und Lebenswerke werden kontextualisiert – freilich aus der Perspektive, ob und wie sich das „Zentraleuropäische“ an ihnen erkennen lässt. Warum gerade die besprochenen Autoren – und warum nur eine einzige Autorin (Wilma von Vukelich) – als „Beweismaterial“ ausgewählt wurden, erklärt Csáky nicht. Sein Vorhaben, „Zentraleuropa“ als eine fluide Kategorie zu denken, würde allerdings eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich (etwa eben aufgrund des Geschlechts) marginalisierten Autor/innen nahelegen.

Die einzelnen Lebenswege und Lebenswerke werden nicht isoliert dargestellt, sondern stets als Ausdrücke dessen, was Csáky als „Zentraleuropa“ erfassen will: Fluidität, Heterogenität, multiple Identitäten, gelebte Mehrsprachigkeit, Identitätskonflikte. Dabei stellt er dem historiographisch bis heute nachwirkenden Missverständnis, die Habsburgermonarchie als ein „national“ durch und durch gespaltenes Gebilde wahrzunehmen, die pluralen, mehrdeutigen, dynamischen, hybriden Alltagspraxen entgegen, welche sich unter dem Radar einer politikgeschichtlich fokussierten Historiographie befinden: „Es ist also gerade das aus dem geläufigen historischen Narrativ Ausgeblendete, Vernachlässigte, Liegengebliebene oder Besiegte […], das die Tradition auch, oder: eigentlich beinhalten würde“ (S. 88). Es ist jedenfalls anzumerken, dass literarische und publizistische Werke, welche Csáky als Primärquellen heranzieht, doch nur einen Teilaspekt der gesellschaftlichen Realitäten (nicht selten einen elitären Diskurs) widerspiegeln.

Csáky interessiert sich allerdings nicht für die repräsentative, institutionalisierte Kultur, welche schon zu Zeiten der Habsburgermonarchie immer mehr national(istisch) gespalten und organisiert war (S. 91, S. 343f.), sondern er nimmt sich auch non-verbaler Praxen an. Während die sprachliche Vielfalt in Zentraleuropa trennend zu sein schien (S. 211ff.), „bot und begünstigte [der Gesamtstaat der Monarchie] politische, institutionelle und ökonomische Rahmenbedingungen, die sich vor allem auf die gesamtregionale non-verbale Kommunikation, die auch weit über die Monarchie hinausreichte, auswirkten“ (S. 225). Csáky erfasst diese Praxen nicht, um ein eindeutiges Merkmal Zentraleuropas auszumachen. Dementsprechend bietet er in seinem ausführlichen Buch tatsächlich keine Definition von „Zentraleuropa“ an. Vielmehr stellt „Zentraleuropa“ für ihn eine Denkweise dar: „Zentraleuropas Alleinstellungsmerkmal könnte […] darin bestehen, daß es als ein besonders geeignetes und vorbildliches Paradigma für andere, durchaus vergleichbare europäische und außereuropäische kulturell komplexe Regionen angesehen werden kann“ (S. 320). Auch Pieter Judson spricht angesichts der theoretischen und begriffsbildenden Kapazitäten und Leistungen der Habsburg Studies von einem „laboratory for creative innovation in historical studies“.2

In der deutschen Geschichtswissenschaft konnte Csákys Ansatz aber kaum Fuß fassen, insofern wird der (post)habsburgische Raum – der die historische Konkretisierung von „Zentraleuropa“ ist (S. 38) – weiterhin meistens im Fach der Ost(mittel)europageschichte verortet.3 Diese Zuordnung bedeutet praktisch die Negation einer mehr als 500-jährigen Geschichte, in welcher diese zentraleuropäische Region unter der Herrschaft der Habsburger politisch zusammengehörte und kulturell immer mehr zusammenwuchs. Das Interesse der deutschen Wissenschaft an dieser Region war lange herrschaftspolitisch-imperialistisch bestimmt („Mitteleuropa“).4 Der heutige Name der Subdisziplin stellt allerdings vielmehr ein Überbleibsel des Kalten Krieges und des getrennten Europas dar: Anders lässt sich nämlich nicht erklären, warum etwa Slowenien oder Tschechien nicht im gleichen Atemzug mit Österreich und Norditalien, stattdessen aber öfters mit Russland oder Kasachstan (als Teil „Osteuropas“) genannt werden. Die Tendenz, den Raum der ehemaligen Habsburgermonarchie gespalten darzustellen, betrifft besonders Österreich und die österreichische Geschichte negativ: In der „Ostmitteleuropageschichte“ ist das Land abwesend, in der „Westeuropageschichte“ marginalisiert und unbedeutend. Der Wiener Historiker Johannes Feichtinger stellt diesbezüglich fest, „wie wenig Intellektuelle nördlich von Salzburg auf historische Entwicklungen, auf Codes, Verhaltensweisen und Wertigkeiten dieses Kulturraums [nämlich Österreich und Zentraleuropa – P.T.] einzugehen vermochten“.5

Csákys „Zentraleuropa“ lässt sich in diesem Sinne nicht nur als eine bloß semantische Alternative zum „deutschen“ „Osteuropa“, „Ostmitteleuropa“ lesen, sondern er ist zugleich bestrebt, „Zentraleuropa als einen nicht essentialistischen, relationalen, gesellschaftlich stets neu verhandelbaren Raum aufzufassen“ (S. 11). Das vorliegende Buch bietet die bis jetzt umfassendste Darstellung dieses Ansatzes und krönt damit Csákys langes Forschungsleben. Gleichzeitig nimmt er die Leser/innen auf eine literarische (teilweise auch gastronomische und musikalische) Reise nach „Zentraleuropa“ mit, ohne zu versprechen, bei irgendwelcher „Identität“ jemals ankommen zu können. „Zentraleuropa“, wie Csáky es versteht, löst nämlich alle Identitäten, Grenzen, Substanzen auf – inbegriffen seiner eigenen.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Moritz Csáky, Historische Reflexionen über das Problem einer österreichischen Identität, in: Herwig Wolfram / Walter Pohl (Hrsg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, S. 29–47; ders., Ideologie der Operette und Wiener Moderne, Wien 1996; ders., Die Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa. Moderne und/oder postmoderne Befindlichkeit, in: ders. / Klaus Zeyringer (Hrsg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck 2000, S. 27–49; ders., Paradigma Zentraleuropa, Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes. Religion – Mythos – Nation. Einführende Überlegungen, in: ders. / Klaus Zeyringer (Hrsg.), Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes. Religion – Mythos – Nation, Innsbruck 2001, S. 9–17; ders., Mitteleuropa / Zentraleuropa. Ein komplexes kulturelles System, in: Österreichische Musikzeitschrift 60 (2005), S. 9–16.
2 Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge 2016, S. 11.
3 Zur Frage der historiographischen Verortung von „Ostmitteleuropa“ siehe u.a. Philipp Ther, Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa. Kulturgeschichte als Area Studies, in: Clio-Online. Themenportal Europäische Geschichte, 2006, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1377 (15.07.2020); zu den Verortungsproblemen des „ostmitteleuropäischen“ „Zentraleuropas“ siehe u.a. Catherine Horel, Cette Europe qu´on dit centrale. Des Habsbourg à l´intégration européenne 1815–2004, Paris 2009, S. 13f., S. 262ff.
4 Pars pro toto siehe Klaus Thörner, „Der ganze Südosten ist unser Hinterland“. Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Freiburg 2008.
5 Johannes Feichtinger, Die zunehmende Germanisierung, in: Neue Vorarlberger Tageszeitung, 02.01.2020.

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