Kann die Untersuchung von Einstellungen gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus und deren Wandel zwischen den Generationen Aufschluss „über die Bedingungen und Faktoren von Partizipationsbereitschaft oder politischer Passivität“ geben (S.17f.)? Nina Leonhard bettet ihre Studie in die demokratietheoretische Debatte über die Bedeutung der politischen Kultur für politische Partizipation und Legitimation ein und will damit einen Beitrag zur politischen Kulturforschung leisten (S. 16f.). Diese Perspektive erweitert die Frage nach der Politisiertheit von Vergangenheitsbezügen (etwa in den Debatten um Geschichtspolitik) um die Frage nach der Politisierung durch Vergangenheitsbezüge. Es geht Leonhard zum einen darum, den Zusammenhang der Vorstellungen von Politik und der nationalsozialistischen Vergangenheit in unterschiedlichen Generationen in den Blick zu nehmen; zum anderen arbeitet sie ost- und westdeutsche Besonderheiten heraus. Hierbei grenzt sie sich ausdrücklich von psychoanalytischen oder normativ-pädagogischen Ansätzen ab, die von unbewältigten Schuldgefühlen in der ersten Generation und deren unbewusster Übertragung auf die nachfolgenden Generationen ausgehen. Stattdessen will sie anhand ihres Materials (Einzelinterviews mit Angehörigen von drei verschiedenen Generationen in je sechs ost- und westdeutschen Familien) untersuchen, „ob und aus welchen Gründen persönliche Betroffenheit hinsichtlich des Nationalsozialismus [...] vorliegt, wobei insbesondere die jüngeren Generationen interessieren“ (S. 21). Damit soll die Vorstellung von der Verankerung demokratischer Werte über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf den Prüfstand gestellt werden.
Zunächst entwickelt Leonhard einen Begriff von Politikbewusstsein, der an den von Rüsen und Jeismann geprägten Geschichtsbewusstseins-Begriff anschließt. Dieser lasse sich als „subjektbezogen (und nicht kollektiv), funktional (und nicht normativ) und basal (und nicht reflexiv) charakterisieren“ (S. 30). Politikbewusstsein bezeichnet hier die grundsätzliche Haltung, welche die Subjekte zum Politischen einnehmen, jenseits von konkreten Auffassungen und Meinungen. Es geht in der vorliegenden Untersuchung somit um eine Bestandsaufnahme hinsichtlich dem Politischen zu- oder abgewandter Haltungen, nicht jedoch darum, ob bestimmte – möglicherweise hoch politisierte und dennoch zuweilen nicht „der Politik“ zugerechnete – Haltungen, ideologische Versatzstücke und Bedeutungsverknüpfungen des Nationalsozialismus im intergenerationellen Gespräch weitergegeben und transformiert werden. Ein Einwand gegen diesen Zugang ergibt sich meines Erachtens, wenn man das Politische als ein Feld betrachtet, dessen Gegenstände durch diskursive und soziale Praxis stets neu konstituiert werden und sich somit im historischen Wandel befinden. Unter dieser Voraussetzung sollte die Frage nach der Weitergabe von „Haltungen“ gegenüber dem Politischen auch die Untersuchung seiner jeweiligen Gegenstände und Inhalte umfassen.
Leonhard beginnt mit einem ausführlichen und informativen, dadurch aber auch sehr langen und durch die Einstreuung unübersetzter französischer Zitate nicht immer leicht lesbaren Theorie- und Methodenteil. Zum Verständnis der nachfolgenden Analyse des empirischen Materials wäre es ohne weiteres möglich gewesen, auf Teile des Durchlaufs durch Erinnerungs- und Gedächtnistheorien oder auf die umfangreiche Darstellung der Theorieangebote hinsichtlich des Generationenbegriffs zu verzichten.1 Das entscheidende Ergebnis der theoretisch-methodischen Einordnungen besteht darin, dass Leonhard ihre InterviewpartnerInnen einerseits als Angehörige einer „Generation“ betrachtet, die an bestimmten, sozial generierten Kollektiverfahrungen teilhaben, und andererseits als Angehörige des Erinnerungskollektivs „Familie“. Sie geht somit davon aus, dass in dem Material stets eine „allgemeine“ und eine „Familiengeschichte“ wirksam und präsent ist. Ziel der Untersuchung ist es, das Verhältnis und der wechselseitige Beeinflussung dieser beiden Felder zu bestimmen. Leonhard kommt zu dem Schluss, dass die familiäre Dimension ein entscheidender, zumeist unterschätzter Faktor bei der Entstehung von Geschichts- und Politikbewusstsein sei.
Doch zunächst zu Leonhards Typologie. Die Autorin unterscheidet zwei Grundtypen: das „integrative“ und das „separative“ Verhältnis zu Politik und NS-Vergangenheit (S. 112f.). Zusätzlich führt sie eine zeitlich strukturierte Dimension ein, nämlich diejenige von Kontinuität und Wandel innerhalb der Generationenfolge. Zum einen soll mithin herausgearbeitet werden, in welchem Verhältnis eine der Politik zu- oder abgewandte Haltung zur Thematisierung und Verarbeitung der NS-Vergangenheit steht; zum anderen, ob und unter welchen Bedingungen dieses Verhältnis über Generationen hinweg konstant bleibt oder sich ändert. Die Darstellung liefert eine recht genaue Vorstellung der Kommunikationsstrukturen innerhalb der untersuchten Familien sowie der Positionierung der einzelnen Familienmitglieder, so dass sich die Leser im Hinblick auf die daraus abgeleiteten Thesen durchaus ein „informiertes“ Urteil bilden können. Dies ist eine deutliche Stärke des Buches.
Die Ergebnisse, die Leonhard aus ihrer Analyse ableitet, sind vielschichtig: Zum einen betont sie die Generationenspezifik des Verhältnisses zur NS-Vergangenheit und zum Politischen. Nur in der ersten Generation geben die Auffassungen über den Nationalsozialismus zugleich auch Aufschluss über politische Haltungen und über die Haltung zur Politik insgesamt. In der zweiten und dritten Generation wird die Interpretation des Nationalsozialismus zusehends eine familiär und – insbesondere bei der dritten Generation – schulisch und medial vermittelte Angelegenheit, über die man sprechen kann, ohne damit etwas über eigene politische Auffassungen zu sagen (S. 314). In Bezug auf die innerfamiliäre Kommunikation arbeitet Leonhard jedoch auch heraus, dass weder eine politikzugewandte Haltung noch ein allgemeines Interesse für den Nationalsozialismus in der zweiten und dritten Generation zwangsläufig auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte implizieren (S. 315): „[B]eruht das Interesse für den Nationalsozialismus also vor allem auf seiner gegenwärtigen politischen Bedeutung, bleibt die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit weitgehend abstrakt.“
Ein daran anknüpfendes Ergebnis besteht darin, dass es keinen eindeutigen oder zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem in Familien tradierten Geschichts- und Politikbewusstsein gibt. Wer sich für (NS-)Geschichte interessiert, interessiert sich nicht automatisch für Politik – es kann geradewegs umgekehrt sein (S. 332): „Geschichtliche Erfahrungen oder deren Vermittlung können sowohl den Zugang zur Politik fördern und zu aktivem Engagement führen als auch Distanz zur Politik schaffen oder vergrößern.“ Hierdurch wird auch klar, dass eine Ablehnung des Nationalsozialismus keineswegs mit bestimmten politischen Einstellungen oder gar politischem Engagement korrespondiert.
In der Dynamik, die sich hinsichtlich der Kontinuitäten und Brüche innerhalb von Familien oder auch bezüglich der Divergenzen von Geschichtsbewusstsein und Haltung gegenüber dem Politischen abzeichnet, spielt die innerfamiliäre Kommunikation eine zentrale Rolle. Leonhard beschreibt das innerfamiliäre Beziehungssystem als „einen Filter […], der den Einfluss der gesellschaftlichen Vergangenheitsinterpretationen auf die Auseinandersetzung mit den Familiengeschichten kanalisiert“ (S. 334). Ob in Familien überhaupt eine Kommunikation über den Nationalsozialismus stattfindet, stellt eine erste und entscheidende Weiche in Bezug auf die Verknüpfung von Vergangenheitsinterpretationen und politischen Haltungen.
Zuletzt sei noch etwas über die Ergebnisse gesagt, die Leonhard hinsichtlich der je spezifischen Interaktion zwischen den Generationen in Ost- und Westdeutschland herausarbeitet. In den ostdeutschen Familien herrsche vor dem Hintergrund einer Verknüpfung von NS- und DDR-Vergangenheit ein größeres Verständnis der Generationen untereinander, und das Verhalten der ersten Generation im Nationalsozialismus werde von den nachfolgenden Generationen nachsichtiger beurteilt (S. 326). Stärker noch als in den westdeutschen Beispielen zeichne sich ein Primat des familiären vor dem öffentlich-staatlichen Bezugsrahmen der Erinnerung ab (S. 327): „Die innerfamiliäre Kommunikation (oder Nicht-Kommunikation) über den Nationalsozialismus hängt weniger von der öffentlichen Geschichtserinnerung […] ab als vielmehr von der Art des familalen Zusammenhalts sowie von der entsprechenden Familiengeschichte.“
Nina Leonhards Studie bietet sehr interessante und wichtige Einsichten in das Zusammenspiel familiärer Kommunikation über die NS-Vergangenheit, öffentlicher bzw. pädagogisch vermittelter Vergangenheitsdiskurse und biografischer Faktoren. Sie beleuchtet Zusammenhänge zwischen dem Verhältnis zur NS-Vergangenheit und vorhandener oder fehlender „Partizipationsbereitschaft“. Es wäre vielversprechend, das hier entwickelte Instrumentarium auf den Wandel von Politikverständnissen sowie auf die Tradierung von Inhalten politischer und politisierter Auffassungen, Haltungen und Bedeutungsverknüpfungen anzuwenden – die zumeist auch hinter der Selbstbeschreibung, vollkommen unpolitisch zu sein, vorhanden und wirksam sind.
Anmerkung:
1 Dabei wäre ein sorgfältiges Lektorat hilfreich gewesen, für das sich der Verlag jedoch offenbar nicht zuständig zeigt.