Gegenstand der vorliegenden Berner Dissertation ist die diplomatische Karriere des Jean-Pierre de Chambrier d’Oleyres (1753–1822) aus Neuchâtel. Er hat seine Standeserziehung unter anderem an der Academia Reale in Turin erhalten, reiste anschließend mit dem Ziel einer diplomatischen Karriere nach Berlin und wurde 1779 von Friedrich II. von Preußen zum envoyé extraordinaire in Turin ernannt, der Residenzstadt der Könige von Piemont-Sardinien. Dieser Gesandtschaftsdienst dauerte bis zur Besetzung Turins durch napoleonische Truppen im Jahr 1798. 1805 wurde er als preußischer Gesandter in die Eidgenossenschaft entsandt, hatte in dieser Zeit den Verlust Neuchâtels an Frankreich mitzuerleben, aber auch dessen Rückgewinnung im Jahr 1814 für Preußen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1822 bekleidete er in seiner Heimatstadt den Posten des preußischen Gouverneurs dieser Provinz.
Chambrier d’Oleyres hat seit seinem Berlinbesuch im Jahr 1779 bis zu seinem Tod ein Tagebuch geführt, das innerhalb von 43 Jahren auf 51 Bände mit zusammen über 20.000 Seiten angewachsen war. Dieses Journal ist Ackermanns bevorzugte Quelle. Sie fragt danach, was Chambrier d’Oleyres dazu veranlasste, in den Fürstendienst zu treten und als Diplomat Karriere zu machen, und welche Motive sich mit dem Schreiben des Journals verbanden, das zugleich als Denkrahmen sowie als Ausdruck seines Selbstverständnisses und seiner Selbstthematisierung in den Blick gerät. Besonders reizvoll ist das Exempel von Chambrier d’Oleyres auch deshalb, da seine im Tagebuch festgehaltene Diplomatenkarriere in der Sattelzeit angesiedelt ist. Ackermann legt in der Einleitung überzeugend dar, dass in der Diplomatiegeschichte keine Einigkeit darüber besteht, ob man die Sattelzeit auch als eine Zeitspanne beschleunigter Professionalisierung des diplomatischen Korps ansehen müsse, oder sich gerade unter den Gesandten standesspezifische Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen des Ancien Régime länger halten konnten als in anderen Bereichen staatlicher Administration. Auch diese Frage kann anhand des umfangreichen Journals von Chambrier d’Oleyres diskutiert werden.
Zunächst richtet sich Ackermanns Blick auf die Schreibpraxis Chambrier d’Oleyres. Neben dem umfangreichen Tagebuch schrieb er im Laufe seines Lebens noch eine Art Universalchronik der Weltgeschichte in 74 Bänden, um das historische Geschehen als Verkettung kausaler Zusammenhänge zu verdeutlichen. Und er verfasste eine Geschichte der eigenen Familie im 18. Jahrhundert, um als familiäres Leitmotiv den Fürstendienst für die preußischen Könige und Landesherrn herauszustellen. Diese Familiengeschichte, verfasst im Jahr 1812, verlieh zugleich auch dem Journal, also den Tagebüchern, eine neue Funktion. Diente das Tagebuch mit seinen stichwortartigen Einträgen zunächst vor allem als Mittel der Rationalisierung des eigenen Lebens, als Überblick über Ereignisse und Begegnungen, über Korrespondenzen und amtliche Aufzeichnungen, auch um sich später retrospektiv dem eigenen Leben zuwenden zu können, so wies die Familiengeschichte, die insbesondere die Zeit von 1707 bis 1770 in den Blick nahm, dem Tagebuch nun die Funktion einer Fortsetzung dieser Familiengeschichte zu. Dabei folgte die Erzählstrategie, wie Ackermann es formuliert, einer „Ökonomie der doppelten Distinktion“ (Kap. 2.3.). Zum einen ging es darum, die eigene Familie insgesamt in dessen Bedeutung für die preußische Monarchie herauszustellen – in Konkurrenz zu den anderen Familien Neuchâtels – zum anderen ging es darum, seine persönlichen Leistungen im Vergleich zu den übrigen Familienmitgliedern besonders leuchtend herauszustellen.
Was Chambrier d’Oleyres diplomatische Amtszeit selbst angeht, so entspricht sie in vielen Aspekten den allgemeinen Strukturmerkmalen der Lebenswelt von Diplomaten des „type ancien“.1 Seine formal definierten Amtsaufgaben hielten sich am Hof in Turin in engen Grenzen. Seine Beauftragung verdankte er unter anderem seinen bereits vorhandenen Kontakten zu einflussreichen Familien des Turiner Hofes, und als Gesandter verbrachte Chambrier d’Oleyres ein Gutteil seiner Zeit damit, dieses Kontaktnetzwerk zu pflegen und weiter auszubauen. Dabei war die Kontaktpflege zu einflussreichen Personen am preußischen Hof in Berlin wie dem Grafen Ewald Friedrich von Hertzberg für die Distinktionsstrategie des Gesandten mindestens ebenso wichtig wie zu Personen in Turin. Insbesondere ging es dem preußischen Gesandten darum, Dinge nach Berlin zu vermitteln, die dort auf besonderes Wohlgefallen stießen, seien es Konzepte zu einer besseren Vermarktung der Erzeugnisse der preußischen Porzellanmanufaktur im Mittelmeerraum oder die Beschaffung von Konstruktionsplänen piemontesischer Seidenspinnmühlen für den Aufbau einer preußischen Seidenproduktion.
Chambrier d’Oleyres dabei erworbene Verdienste veranlassten Friedrich II. von Preußen dazu, ihn im Jahr 1785 aus Turin abzuberufen und mit der ungleich bedeutsameren Gesandtschaft in Wien zu beauftragen. Der preußische Gesandte sah sich indes außerstande, dieses Angebot anzunehmen, da er nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte, um sich die in Wien zu erwartenden Repräsentationskosten leisten zu können. Es gehörte zu diplomatischen Ämtern dazu, dass die hierbei zu erbringenden Kosten zu einem großen Teil von den Diplomaten selbst getragen werden mussten. Die Einkünfte des Patriziers aus Neuenburg reichten zwar für die Kosten seiner Gesandtschaft in Turin, nicht aber für die kaiserliche Residenzstadt.
Ackermann zeigt in ihrer Arbeit die Logik des Gabentauschs auf, nach der die langjährigen Investitionen des Gesandten sich am Ende seiner Laufbahn zum Wohle seiner Familie insgesamt auszahlen konnten, z.B. indem ein Verwandter von Chambrier d’Oleyres gleichfalls ein diplomatisches Amt zugestanden wurde, Chambrier d’Oleyres selbst im Jahre 1780 zum Kämmerer des Königs ernannt und die Güter der Familie in Neuchâtel unter Friedrich Wilhelm II. zur Freiherrschaft erhoben wurden, was der Familie den Adelstitel sicherte. Zwar scheiterte der Gesandte mit seinen Versuchen zur Aufnahme im Johanniterorden, er durfte sich aber dafür mit der Aufnahme in den roten Adlerorden trösten.
Mit ihrer quellengesättigten Untersuchung eines einzelnen Akteurs auf der diplomatischen Bühne zum Ausgang des 18. Jahrhunderts legt Ackermann eine sehr gut lesbare und überzeugend argumentierende Studie vor, die man zugleich als Relativierung des Konzepts von der Sattelzeit als einer Epoche des beschleunigten Wandels verstehen kann. Ackermann bemüht sich in ihrem Fazit zwar um eine vermittelnde Position zwischen den Fürsprechern eines Fortlebens traditioneller Vorstellungen und Praktiken im Bereich der Diplomatie bis weit in das 19. Jahrhundert und den Anhängern eines Modernisierungsparadigmas für die Zeit um 1800. Insgesamt gesehen scheinen mir in ihrer Konzeption einer doppelten Distinktionsstrategie des Chambrier d’Oleyres jedoch die traditionellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bei weitem zu überwiegen. Auch im diplomatischen Geschäft des Ancien Régime ist man eben mit Strukturen langer Dauer konfrontiert.
Anmerkung:
1 Hillard von Thiessen, Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, in: Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa, 1), Köln / Weimar / Wien 2010, S. 471–503.