Cover
Titel
White Freedom. The Racial History of an Idea


Autor(en)
Stovall, Tyler
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
£ 25.00; $ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Finzsch, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Die Erstürmung des Kapitols durch weiße Rassist:innen am 6. Januar 2021 und die vor und nach diesem Ereignis stattfindenden Proteste von Black Lives Matter (BLM) wurden kontrovers und polemisch kommentiert. In beiden Fällen ging es um Freiheit, aber was diese bedeutete, wurde sehr unterschiedlich ausgelegt. Im Falle von BLM wurden Parallelen zu Terrorismus gezogen und die Polizei ging gegen Demonstrant:innen mit äußerster Härte vor. Vor dem Kapitol erlebten wir eine Kapitulation des Rechtsstaats und eine zurückhaltende Strafverfolgung von weißen Kriminellen.

In der Dialektik der Aufklärung haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die These formuliert, dass sich mit der Aufklärung eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt, die die institutionalisierte Herrschaft von Menschen über Menschen ermöglicht habe. Die Dialektik der Aufklärung war weitgehend „farbenblind“ und erst die postcolonial studies haben die Texte der Aufklärung als Rechtfertigung der Herrschaft von weißen Menschen über people of color verstanden. Tyler Stovall geht noch einen Schritt weiter. Weiße Freiheit, so schreibt er, ist der Glaube und die Praxis, dass Freiheit zentral für die weiße Identität sei, und dass nur weiße Menschen frei sein könnten oder sollten. Stovalls Projekt ist es zu zeigen, wie die Ideen von Freiheit und „Rasse“ in Funktion und Entwicklung miteinander verwoben sind. Stovall erforscht die Geschichte von Freiheit und Rassismus in Frankreich und den Vereinigten Staaten – zwei Nationen, die die Freiheit zum Zentrum ihrer Identität gemacht haben. Freiheit ist, so Stovall, alles andere als farbenblind, und wenn wir in der Geschichte der westlichen liberalen Demokratie über Freiheit sprechen, dann sprechen wir über weiße Freiheit.

White Freedom ist klar geschrieben und argumentiert einnehmend. Stovall kennt die internationale Forschung in beeindruckender Weise. Sein Buch bietet einen frischen Einblick in die Idee der Freiheit – eine Idee, die immer mehr in den Vordergrund des gesellschaftlichen Interesses rückt. Stovall predigt nicht; er versucht nicht, jemanden zu überzeugen, auf seine Seite zu kommen. Er bietet einen wichtigen Kontext zur Geschichte der Entwicklung der Freiheit und eine fesselnde Analyse, die durch sorgfältig recherchierte Belege unterstützt wird.

Das Buch umfasst sechs Kapitel, die durch eine knappe Einleitung und eine konzise Zusammenfassung eingerahmt werden. Schon das erste Kapitel vermag zu überraschen, denn Stovall beginnt seine Untersuchung mit der Geschichte der Piraterie. Die Piraterie repräsentierte eine Ablehnung der Integrität und der Gesetze des liberalen Nationalstaates, symbolisierte jedoch gleichzeitig die romantische Vorstellung von Freiheit (freedom). Im Versuch, die Piraterie einzudämmen, entstand der liberale Rechtsstaat mit seinen Freiheiten (liberty). Das goldene Zeitalter der Piraterie symbolisierte eine exotische, ungezähmte Welt, in der Fantasie und Realität noch nebeneinander existierten.

Das größte Verbrechen der Piraterie liegt in ihrem Angriff auf das Eigentum. Der liberale Freiheitsgedanke sieht die Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Privateigentum als oberstes Gebot an. Piraten widersprachen beidem. Viele entlaufene Sklaven wurden zu Piraten, so dass Piraterie als eine Art wilder Freiheit verstanden werden konnte, die der weißen Freiheit gegenüberstand und deshalb zerstört werden musste. Immanuel Kant stellte diese Form der wilden Freiheit der weißen Freiheit gegenüber und begründete den Untergang der ersteren. Stovall vergleicht dann die Piraterie mit der Kindheit. Die Kindheit gilt seit der Aufklärung als eine Phase menschlicher Existenz, in der Freiheit ausgelebt werden kann. „The romantic idea of children as free and carefree has gone hand in hand with increasing regulation of childhood in the modern era, creating a fascinating dichotomy between ideas of liberty and authoritarian realities” (S. 25). Stovall erläutert seine Auffassung, Kindheit und Piraterie stellten eine Abkehr von der rassifizierten Idee der Freiheit dar und seien daher systemisch dysfunktional. Beide Gruppen, Piraten und Kinder, seien vom hegemonialen Diskurs als „Wilde“ angesehen worden, die man entweder eliminieren oder zähmen musste. Stovall vergleicht diesen Diskurs ausdrücklich mit dem um die Piratenpartei in Europa und Deutschland und ihrer Interpretation von der Freiheit des Internets (S. 40f.).

Das zweite Kapitel thematisiert die Freiheitsstatue als oft romantisierte Ikone. Konzipiert von Édouard de Laboulaye, nachdem Frankreich das Zweite Kaiserreich gestürzt hatte und wieder eine Republik wurde (wenn auch eine gemäßigtere, die manche bevorzugt hätten) und nach dem US-Bürgerkrieg, der das Ende der Sklaverei als Institution mit sich brachte, sollte die Freiheitsstatue eine geradlinige Repräsentation der Freiheit sein und eine Allianz der beiden großen Schwesterrepubliken bilden, die allen Völkern der Welt Freiheit und Erleuchtung bringen würde. Stovall zerschmettert dieses Ideologem, indem er zeigt, wie die Freiheitsstatue als „Symbol des Weißseins“ mit ihren europäischen Zügen und dem Fehlen jeglicher Identifikationsmerkmale, die sie mit Rebellen oder befreiten Sklaven in Verbindung bringen könnten, zu einem starken Signifikanten der weißen Identität aufsteigen konnte.

Das dritte Kapitel problematisiert den scheinbaren Gegensatz von weißer Freiheit und schwarzer Sklaverei. Stovall zeigt, wie die Idee der Freiheit im Zeitalter der Revolutionen signifikante Momente der Rassifizierung enthielt, sodass ein Oxymoron entstehen konnte: die Sklavenrepublik. „[T]he Age of Revolution had established […] that ideals of universal liberty could be […] circumscribed by racial difference.” (S. 133)

Im vierten Kapitel untersucht der Autor den Zusammenhang zwischen dem Empire und rassifizierter Zugehörigkeit zur liberalen Demokratie. Die Globalisierung des 19. Jahrhunderts koinzidierte mit der Ausweitung der Imperien und der Unterwerfung von Kolonien, die von people of color bevölkert wurden. Zwar verschwand nach und nach die Sklaverei vergangener Äonen, doch entstand mit dem wissenschaftlichen Rassismus eine Ideologie, die die Vorherrschaft der Weißen auf globalem Niveau absicherte.

Das folgende Kapitel setzt zu einem thematischen Weitsprung an, denn es analysiert das Verhältnis von Freiheit und „Rasse“ im Zeitalter der totalen Kriege. Hier kommt er auch auf die „Kontinuitätsthese“ zu sprechen, die Vorstellung, dass die deutsche Kolonialpolitik und speziell der Genozid an den Nama und Herero eine Kontinuität zum Holocaust aufweist. Stovall weicht diesem überdeterminierten Thema insofern geschickt aus, als er zeigt, dass auch im Falle Italiens eine solche Kontinuität konstruiert werden kann (S. 223f.). Der „Rassenkrieg“ war ein globales Phänomen der beiden Weltkriege, nicht nur in Deutschland und Italien. Die Niederlage der Faschisten auf der ganzen Linie öffnete allerdings die Möglichkeit, eine Freiheit zu denken, die nicht an Weißsein gebunden war.

Das sechste und letzte Kapitel thematisiert den Kalten Krieg als Epoche des vorübergehenden Falls und Wiederaufstiegs der weißen Freiheit. Auch wenn der Verlauf und das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Rassismus und weiße Freiheit in Frage gestellt hatten, so entstand in der zweiten Hälfte des Kalten Kriegs und der politischen Dekolonisierung eine Form des Neokolonialismus, der weitgehend ökonomisch strukturiert war. Die Ökonomisierung des Sozialen beendet auch die Bürgerrechtsbewegung und machte Platz für eine einflussreiche rechte Strömung, die persönliche (weiße) Freiheit und Zurückdrängung schwarzer Rechte miteinander verband.

White Freedom ist eine historische Analyse; es ist keine Polemik. Stovall ist nicht verpflichtet, eine Blaupause für einen Weg in die Zukunft zu liefern. Die Freiheit der Weißen war in vollem Umfang zu sehen, als Mr. Trump die Stimmen in Städten wie Detroit und Atlanta anzweifelte − Städte mit großen schwarzen Bevölkerungsanteilen. Bei einer Kundgebung in Georgia machte Mr. Trump Behauptungen über Wahlbetrug und Unterstützer hielten Schilder mit der Aufschrift „Save America“. Die Implikationen waren klar: Schwarze Stimmen sollten nicht gezählt werden, weil diese Menschen nicht zählen; sie sind nicht in der Lage, die „richtige“ Entscheidung zu treffen. Vielleicht ist die beste Art, Stovalls Geschichte zu lesen, indem wir unsere eigenen Erfahrungen mit der Freiheit untersuchen. White Freedom hat uns viel zu erzählen darüber, wie Rassismus in viele unserer Systeme und Institutionen eingebaut wurde und darüber, dass das, was wir als Freiheit sehen, nicht wirklich Freiheit für alle ist.

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