Titel
Fruehe Neuzeit.


Herausgeber
Voelker-Rasor, Anette
Reihe
Oldenbourg Geschichte Lehrbuch
Erschienen
Muenchen 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 34,80
Hilke Günther-Arndt

Um es vorweg zu sagen: Die Arbeit mit und an diesem Buch kann allen Studierenden empfohlen werden, ebenso Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern, aber auch Lehrenden an Universitaeten, die von hochschuldidaktisch reflektierten Erfahrungen Anderer profitieren moechten.

Der Band "Fruehe Neuzeit" eroeffnet eine neue Reihe des Oldenbourg Verlages, die sich programmatisch "Geschichte Lehrbuch" nennt. Schon seine aeussere Gestaltung hebt es von den ueblichen Einfuehrungen ab: Ein grosses Format mit einem robusten Einband, fuer haeufiges Nachschlagen also geeignet, der Druck ist zweispaltig, in die Texte sind Spalten oder Seiten integriert, die der Information dienen (z. B. Zeittafeln, Schemata, Karten) oder den Autorentext erweitern (z. B. Bildinterpretationen, Kurzbiografien, Forschungsstimmen oder als "Detailskizzen" bezeichnete Erlaeuterungen zu Strukturen oder Begriffen). Es gibt keine Fussnoten, dafuer aber zu jedem Abschnitt gut ausgewaehlte Hinweise auf Literatur, in der Regel auf solche aus den neunziger Jahren. Konzeption und Layout gleichen bis auf den Schwarz-Weiss-Druck und die Papiersorte in vieler Hinsicht amerikanischen textbooks oder neueren Lehrbuechern fuer die Sekundarstufe II. Dazu passt, dass unter einer Herausgeberin eine Reihe von Autorinnen und Autoren die Texte geschrieben hat. Dieses Autorenteam von ueberwiegend juengeren Historikerinnen und Historikern eint offensichtlich dreierlei: fachliche Kompetenz fuer die Fruehe Neuzeit, Interesse an einer guten Hochschullehre sowie die Ueberzeugung, dass auch das Geschichtsstudium internationalisiert werden muss.

Der Band gliedert sich in vier grosse Kapitel. In einem ersten Durchgang (13-124) wird die Geschichte der Zeit zwischen etwa 1500 und 1800 unter einem chronologischen Zugriff dargestellt, und zwar in zwei Schritten: Zunaechst im "Europa-", dann im "Welt-Massstab". Im Mittelpunkt steht allerdings nicht die Vermittlung ereignisgeschichtlicher Grundkenntnisse. Die jeweils drei Unterabschnitte orientieren sich vielmehr an der Herausbildung neuer Strukturen, z. B. der "Begegnung der Kulturen" seit 1492 oder der "Verdichtung von Herrschaft" nach 1648. Alle Unterabschnitte sind durch Spitzmarken nur noch sparsam gegliedert. Einleitend wird das Thema in einen begrifflichen und strukturellen Zusammenhang gestellt, der die Formung der prinzipiell unbegrenzten Stoffmasse erlaubt. Der Abschnitt "Um 1776/91: Atlantische Revolution" schaerft so zunaechst den Blick fuer die Begriffe "atlantische Geschichte" und "transatlantische Geschichte" mit den dahinter liegenden Denkkonzepten und arbeitet das Besondere der Amerikanischen Revolution heraus, bevor ein Ueberblick zu den Anfaengen der USA einsetzt. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, setzt aber ereignisgeschichtlich gut informierte Leserinnen und Leser voraus.

Das zweite Kapitel "Zugaenge zur fruehen Neuzeit" (143-254) erschliesst die Epoche unter ausgewaehlten systematischen Gesichtspunkten und zwar wieder in einem Doppelschritt. Der erste Teil behandelt Fragen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Mentalitaetengeschichte und der Geschlechtergeschichte in der Fruehen Neuzeit, im zweiten Teil geht es um die Kooperation mit anderen Faechern: mit der Volkskunde, mit der Literaturwissenschaft und mit der Kunstgeschichte. Hier tritt staerker als im ersten Kapitel hervor, dass sich das Autorenteam, wenn auch moderat, der neuen Kulturgeschichte verpflichtet fuehlt. Die theoriefoermigen Textelemente wirken aber an keiner Stelle aufgesetzt, sie werden plausibel und in der Regel anschaulich aus dem historischen Material abgeleitet.

Das dritte (Doppel)Kapitel widmet sich dem "Vorgehen der Forschung" (273-380). Noch mehr als in den anderen Kapiteln bewaehrt sich hier die hochschuldidaktische Erfahrung der Autorinnen und Autoren, gelingt es ihnen doch, das, was traditionell "Historik" genannt wird, im ersten Teil ("Erkenntnis gewinnen und wiedergeben") in drei Schritten zu vermitteln, die den Prozess historischer Forschung nachzeichnen: Erkenntnis, Deutung und Darstellung. Der Text ueber "Das Schreiben der Geschichte" erlaeutert das Problem der Darstellung so konkret und gleichzeitig so theoretisch reflektiert, dass die Leserinnen und Leser der Argumentation des Autors fast muehelos folgen koennen. Der zweite Teil wendet sich der Praxis der Forschung zu und behandelt nacheinander fruehneuzeitspezifische Quellengattungen sowie zentrale Untersuchungsgebiete mit ihrem Kategoriengeruest. Beides wird an konkreten historischen Ereignissen und Entwicklungen erlaeutert. Als letzter Schritt folgen die "Instrumente" der Forschung: "Historische Arbeit im Zeitalter des Computers". Die Erlaeuterungen zu den Anwendungsgebieten Textverarbeitung, Literaturverwaltung mit Datenbanken, Informationsverarbeitung durch Datenbanken und Internet sind - wie alle Teile dieses Kapitels - auf andere Epochen der Geschichte uebertragbar.

Spaetestens beim vierten Kapitel wird deutlich, dass dieses "Lehrbuch" keine uebliche Einfuehrung fuer Studienanfaenger ist. Es behandelt die "Einrichtungen der Forschung" in drei konzentrischen Kreisen: Deutschland, Europa, Welt. Besonders spannend sind die Ausfuehrungen zu Asien und Afrika, weil sie den Blick auf ganz andere Wahrnehmungen und Deutungen von Zeit und Geschichte lenken, auch wenn die Autoren bewusst den Zusammenhang der geschichtswissenschaftlichen Forschung in aller Welt betonen. Dieses Kapitel werden "Fortgeschrittene" mit ebenso grossem Gewinn lesen wie "Anfaenger", nicht nur wegen der nuetzlichen Informationen. Ueberhaupt ist zu fragen, ob nicht die uebliche Arbeitsteilung zwischen Grund- und Hauptstudium, die teilweise auch noch dieses Lehrbuch praegt, revidiert werden sollte. Didaktisch setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass Lernen auf "Vorrat" im Vergleich mit dem Lernen an "Stationen" relativ unproduktiv ist. Manches, was heute in Proseminaren gelernt und mangels Anwendungsmoeglichkeiten vergessen wird, koennte sinnvoll auch im Hauptstudium erarbeitet werden. Das Lehrbuch "Fruehe Neuzeit" bietet dafuer die Moeglichkeiten - zumindest Studierende duerften damit in allen Phasen ihres Studiums arbeiten.

Zwischen den vier Hauptkapiteln finden sich drei Exkurse zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens im Fach Geschichte: wissenschaftliches Lesen, Arbeit mit Quellen und Praesentation eines Themas. Die Sonderstellung dieser Abschnitte aeussert sich auch in der Sprache: Hier werden die Leser direkt angesprochen, und damit werden auch die Autoren als Personen sichtbar. Etwas enttaeuschend ist der geringe Bezug zwischen den Abschnitten zur "Arbeit mit den Quellen" und "Quellen als Texte gelesen". Am besten gelungen ist der Beitrag der Herausgeberin Anette Voelker-Rasor zum hochschuldidaktischen Stiefkind "Wie praesentiere ich die Ergebnisse meiner Arbeit?". Ihrer Feststellung, die Geschichtswissenschaft sei hinsichtlich der Praesentation ihrer Ergebnisse ziemlich traditionell und koenne von anderen Fachgebieten (Wirtschaftswissenschaften, Paedagogik, Psychologie, Philologien) manches lernen, kann kaum widersprochen werden. Die Autorin geht das Thema weder rezeptologisch nach dem Muster "Mit einem Witz beginnen und dann alle drei Minuten eine Folie" noch theoretisch an. Sie beschreibt vielmehr praezise im Zusammenhang der Lesekenntnisse aus anderen Kapiteln, welche Aufgaben bei der Praesentation eines Themas bewaeltigt werden muessen und wie man sich mental und praktisch darauf einstellt, etwa bei der Organisation des Materials und der sprachlichen Praesentation. Besonderen Nachdruck legt sie dabei auf die "Beteiligung von Geist und Koerper" und nimmt damit neuere Erkenntnisse der Lernpsychologie auf. Wenn sie zusammenfassend hervorhebt, dass oft erst die Praesentation Maengel in der theoretischen Durchdringung des Themas offenbart, stellt sie diese gewoehnlich als "Praesentationstechnik" vernachlaessigte Dimension des Geschichtsstudiums in den richtigen Zusammenhang von Erkenntnis, Deutung und Darstellung.

Um es abschliessend zu wiederholen: Dies ist ein gelungenes Werk fuer das Studium der Geschichte, das neue Herausforderungen wie veraenderte Studierende oder Internationalisierung ernst nimmt. Die Konzeption und deren Ausfuehrung kann gewiss in manchen Punkten noch verbessert werden. Gerade deshalb ist dem Werk eine breite Rezeption zu wuenschen: Es koennte die bisher nur am Rand, nicht im Zentrum des Faches gefuehrte Diskussion ueber eine Reform des Geschichtsstudiums voranbringen.

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