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Titel
Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen


Herausgeber
Karafyllis, Nicole C.
Erschienen
Paderborn 2003: Mentis Verlag
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hajo Greif, Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society(IAS-STS), Graz

Die philosophische Anthropologie ist eine spätestens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts relativ in Vergessenheit geratene Spielart der Philosophie. Philosophische Anthropologie ist traditionell als die Lehre vom Wesen des Menschen zu verstehen, genauer als der Versuch, Kriterien für die Unterscheidung zwischen dem Menschen und anderen Wesen und Dingen in der Welt zu finden. Diese Kriterien werden in der Regel zuerst als natürliche verstanden, von denen aus kulturelle Phänomene wie Zeichen- und Werkzeuggebrauch erklärt werden können. Als explizites Programm unter diesem Titel wurde die philosophische Anthropologie vor allem im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Autoren wie Helmuth Plessner, Max Scheler, Arnold Gehlen und Ernst Cassirer betrieben. Die Gründe dafür, dass nicht nur dieses Programm, sondern auch die anthropologischen Fragestellungen der Philosophie im Allgemeinen so sehr an Einfluss verloren haben, mögen zahlreich sein und laden zu mancherlei Spekulation ein, doch einer der zentralen Auslöser war sicherlich der Zweifel daran, dass der Gebrauch einer vereinheitlichenden Kategorie namens „der Mensch“, Nominativ Singular, für die zahlreichen heterogenen und einander oft widerstreitenden menschlichen Daseinsformen und Lebensentwürfe angemessen ist, denen es in einer pluralistischen Gesellschaft Rechnung zu tragen gilt. Allenfalls eine dünne, biologische und zugleich möglichst wenig normative Bestimmung der Spezies homo sapiens scheint im Sinne dieser Kritik fortan noch plausibel zu sein. Normative Fragen des menschlichen Lebens gilt es auf anderem Wege zu beantworten.

Das Thema des von Nicole Karafyllis herausgegebenen Bandes nimmt an der Annahme seinen Ausgang, dass selbst solch eine scheinbar unverdächtige und anspruchslose biologische Bestimmung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, angesichts der sich abzeichnenden und der schon realen Möglichkeiten der biotechnologischen Veränderung auch der Speziesgrenzen den Boden unter den Füßen verliert. Doch verweigert sich die Haltung, die hier formuliert wird, genau der nahe liegenden Annahme, dass Bestimmungsversuche des Wesens des Menschen im Sinne einer philosophischen Anthropologie nunmehr ganz und gar obsolet geworden seien und neuen Konzepten und Kategorien Platz zu machen hätten, die sich um alte Grenzen nicht scheren. Ganz im Gegenteil ist dieser Band als ein Beitrag zur zeitgemäßen Widerbelebung jenes halb vergessenen Genres der philosophischen Anthropologie zu verstehen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen wird – versuchsweise, aber im Singular, wie uns der Untertitel des Bandes verrät – just unter dem Aspekt der technischen Modifizierbarkeit menschlicher Lebensformen bis in ihre biologischen Bestandteile hinein explizit neu gestellt, und zwar in kritischer Absicht.

Die konzeptuelle Klammer, unter der sich die Beiträge aus so verschiedenen Disziplinen wie Geschichte, Philosophie, Ökonomie, Rechtswissenschaften und Informatik versammeln sollen, ist der von Karafyllis eingeführte und titelgebende Begriff der Biofakte. Biofakte sind zu verstehen als Dinge, die teils Lebewesen, teils Artefakte sind. Der entscheidende Unterschied zwischen Lebewesen und Artefakten, auf den Karafyllis abhebt, ist, dass Lebewesen aus sich selbst heraus wachsen, Artefakte jedoch von außen gestaltet und gesteuert werden (S. 11). Biofakte erlauben diese eindeutige Unterscheidung nicht mehr. Sie sind, so Karafyllis’ Definition, „phänomenologisch betrachtet Lebewesen, weil man sie wachsen sieht und sie wie traditionelle Bekannte aussehen, aber sie sind in ihrem Wachsen und Werden nicht autonom, d.h. eigengesetzlich. Der Kern ihrer Wesenhaftigkeit, die ersten Wachstumsbedingungen, wurde verändert.“ (S. 15f.) Biofakte können nach dieser Definition gentechnisch modifizierte Organismen, Klone, aber letztlich auch halb organische, halb technische Cyborgs sein, so diese phänomenologisch nicht hinreichend von echten Menschen oder anderen natürlichen Lebewesen unterschieden werden können (S. 19).

Man muss Karafyllis’ nicht ganz unproblematischer Pointe nicht unbedingt folgen, dass das, was ein Lebewesen ausmacht, zuallererst in seinen ursprünglichen Wachstumsbedingungen, also den natürlichen Voraussetzungen seiner Entstehung (und weniger seiner weiteren Entwicklung oder seinen wahrnehmbaren Eigenschaften) bestehe, und dass folglich alles, dessen Entstehung nicht in konventionellen natürlichen, sondern technisch modifizierten Bahnen erfolgt, nicht ohne weiteres ein Lebewesen sei (S. 16). Im Reagenzglas gezeugte Menschen etwa gehören für Karafyllis zu den Biofakten und scheitern damit an einer von ihr aus der grundlegenden Unterscheidung zwischen Lebewesen und Artefakten abgeleiteten Bedingung der Möglichkeit eines gelingenden menschlichen Lebens: ein natürliches Lebewesen zu sein und dies an sich selbst zu erkennen (S. 20). Es könne sogar bezweifelt werden, dass sie „Autoren ihrer eigenen Biographie“ seien (S. 16). Damit tritt Karafyllis für eine naturalistische Definition anthropologischer Konstanten ein – naturalistisch jedoch nicht im Sinne der Naturwissenschaften, sondern im Sinne einer Erfahrung der eigenen Natur, die sich just einem technisch-naturwissenschaftlichen Zugriff entzieht. Sehr pointiert in diese Richtung argumentiert auch Hille Haker in ihrem Essay zum menschlichen Selbstverhältnis.

Allerdings folgen nicht alle Beiträge dieser starken Annahme. Silke Schicktanz etwa argumentiert in ihrem Text über die Transplantationsmedizin und deren Überschreitung von Körpergrenzen dafür, dass die Grenzziehung zwischen natürlichen und künstlichen Dingen nicht von Natur aus feststeht, sondern konventioneller Art und damit kulturell und historisch veränderlich ist – ein Einwand, der jede moderne Anthropologie betreffe (S. 189). Das Menschenbild im Allgemeinen sei von den konkreten Selbstbildern von Menschen im besonderen (und zwar im Plural) abhängig (S. 192). Ob dieses Selbstbild starke Annahmen hinsichtlich der menschlichen Natur beinhaltet oder gar beinhalten sollte, ist, folgt man diesem Argument, nicht festgelegt und soll auch nicht festgelegt werden.

Auf diesem Wege wird die konzeptuelle Klammer der Biofakte-Definition in anthropologischer Absicht selbst zum Gegenstand einer Diskussion, die allerdings, trotz häufiger wechselseitiger Bezugnahmen der Texte aufeinander, nur implizit stattfindet. Gregor Schiemann und Hans Werner Ingensiep einerseits etwa argumentieren für einen aristotelisch gewendeten Naturalismus im Sinne von dessen „Seelenlehre“, um Natürliches von Künstlichem zu unterscheiden. Martina M. Keitsch stellt eine Reihe von auf den menschlichen Leib als unmittelbar erfahrene Natur rekurrierenden naturästhetischen Theorien als kritische Ressource gegenüber der technischen Zurichtung des Lebens vor. Peter Wehling bezieht sich eher implizit auf eine normativ aufgeladene Unterscheidung zwischen Natürlichem und Künstlichem, wenn er das Phänomen des Doping im Leistungssport als technische Modifikation der Körper der SportlerInnen analysiert. Auf der anderen Seite macht sich Malte-Christian Gruber Gedanken über den möglichen rechtlichen Status biofaktischer Lebensformen, die sich eher an den möglichen Zuständen dieser Lebensformen als an ihrer Herkunft orientieren. Rudolf Kötter weist den Versuch einer naturalistischen Grundlegung einer Kritik der Biotechnologien als ‚widernatürlich’ aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen heraus explizit zurück (S. 113). Und Paul B. Baltes argumentiert dafür, dass die technisch induzierte Verlängerung der menschlichen Lebenszeit unweigerlich Probleme aufwirft, denen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften auf eine Weise stellen sollten, die für die Erkenntnisse und Techniken der Biowissenschaften prinzipiell offen ist (S. 268f.).

Es ist so interessant wie merkwürdig, dass genau solch einander entgegengesetzte Herangehensweisen in diesem Band nicht als solche thematisiert werden. Möchte man sich an einer Anthropologie versuchen, die gerade von der Feststellung motiviert ist, dass die Grenze zwischen menschlicher Natur und menschengemachter Technik aufgrund der Eingriffsmöglichkeiten letzterer undeutlich wird, ist die Frage nach der Natur des Menschen ein Teil des Erkenntnisproblems. Schließlich geben die Biowissenschaften und -technologien eine Antwort auf diese Frage – und zeigen damit de facto, wie durchlässig, veränderlich und anfechtbar Grenzziehungen solcher Art sind. Damit werfen sie die Frage auf, ob die Unterscheidungen, die man macht, Unterschiede einfach nur abbilden, die es, unabhängig von dem, was man tut, in der Welt gibt. Als (normativ) kritische Ressource gegenüber der Technik und den Naturwissenschaften das Konzept einer menschlichen Natur zu bemühen, auf welche diese keinen Zugriff haben, anstatt derlei Grenzziehungen zum Gegenstand der (Erkenntnis-) Kritik zu machen, ist ein problematisches argumentatives Manöver und wird von einigen hier vertretenen AutorInnen auch als problematisch erkannt. Dass eine offene Diskussion darüber in diesem Band nicht stattfindet, tut den bisweilen sehr interessanten und nur in wenigen Fällen dürftig argumentierten Beiträgen zum Thema „Biofakte“ als solchen jedoch keinen Abbruch. Gerade ihre Vielfalt macht sie interessant.

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