W. Wüst (Hg.): Geistliche Staaten in Oberdeutschland

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Titel
Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung. Kultur - Verfassung - Wirtschaft - Gesellschaft. Ansätze zu einer Neubewertung


Herausgeber
Wüst, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid von Schlachta, Insitut für Geschichte, Universität Innsbruck

Beschäftigt man sich mit der Geschichte der geistlichen Staaten bis 1802/03, so stößt man schnell auf die äußerst präsente Kritik der Aufklärer, wonach diese Gebiete veraltet und reformunwillig, unbeweglich und in ökonomischer, kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht rückständig seien. Diese Sicht beherrschte lange das historiografische Bild über jene Territorien des Deutschen Reichs, denen ein Bischof oder Abt, ein Domkapitel oder Konvent vorstand. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes unternehmen eine Differenzierung oder Korrektur dieses negativen Bildes und legen die Interpretation der Geschichte der geistlichen Staaten auf einer breiten Basis an, unter den Aspekten Kultur, Verfassung, Geschichte und Gesellschaft. Der Untertitel „Ansätze zu einer Neubewertung“ gibt das Programm des Sammelbandes vor, der 16 Beiträge einer im Jahr 2001 abgehaltenen Tagung der „Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur“ in schriftlicher Form zugänglich macht. Schon der Einführungsartikel von Bettina Braun über den Stand der Forschung zeigt zahlreiche Desiderate auf, die aufgrund der bisher nur unzureichenden Beschäftigung mit der Thematik „Geistlicher Staat“ bestehen. Dabei kann der vorliegende Band einige der genannten Desiderate beheben.

Die in theoretischen Schriften über die Verfassung des Reiches und in der historischen Forschung über die Rolle der geistlichen Staaten immer wieder in die Diskussion gebrachte Kritik an deren „Rückständigkeit“ kreist häufig um die Doppelfunktion des Landesfürsten als Bischof und Fürst und die daraus resultierende Frage der Loyalität gegenüber Kaiser oder Papst. Während in der Reformdebatte des Spätmittelalters den geistlichen Staaten, so Wolfgang E.J. Weber in seinem Beitrag, noch eine „aktive Reformrolle“ und ein fester Platz im heilsgeschichtlich orientierten Weltbild zugewiesen wurde – etwa in den Schriften des Nikolaus von Kues –, stellten der aufkommende Absolutismus und der Gedanke der Staatsräson sowie die Reichspublizistik des 17. Jahrhunderts die Legitimität konfessioneller Staaten entscheidend in Frage. So begründete beispielsweise Samuel Pufendorf „die schwerste Krankheit“ des Deutschen Reiches damit, dass ein großer Teil der Bürger einen „Ausländer“, nämlich den Papst, zum Oberherrn habe (S. 77). Die Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts nahm jedoch die Kritik an den geistlichen Staaten wieder etwas zurück, um den Zusammenhalt des Reiches nicht zu gefährden.

Von zentraler Bedeutung für den im vorliegenden Sammelband gewählten geografischen Raum sind die Beziehungen zum Kaiser beziehungsweise zum Haus Österreich. In den oberdeutschen Gebieten lassen sich auf engstem Raum die Beziehungen der geistlichen Staaten zu Institutionen des Reichs und deren Versuche, auf Strukturen und Ämterbestellungen in den geistlichen Staaten Einfluss zu nehmen, untersuchen. Auch konfessionelle Konflikte fanden hier aufgrund der Lage zwischen dem protestantischen Württemberg und den katholischen Gebieten der Habsburgermonarchie eine besondere Ausprägung. Vor allem kleinere Territorien suchten bei Streitigkeiten über die Durchsetzung von Territorial- oder Hoheitsrechten Schutz beim Kaiser. Möglichkeiten boten sich etwa über die Kommissionen im Reichshofrat, wie Sabine Ullmann am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen dem Kloster Elchingen und der Stadt Ulm zeigt. Auch der Mainzer Kurfürst konnte über seine reichspolitischen Funktionen als Reichserzkanzler und Direktorium des Reichstages im Sinne geistlicher Territorien Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen und kleineren Gebieten einen gewissen Schutz bieten (Peter Claus Hartmann). Für das Haus Österreich wiederum war der Südwesten des Reiches, besonders Schwaben, ein Gebiet, in dem wichtige Klientel saß und das habsburgische Patronage- und Klientelsystem eine starke Ausprägung fand. Angriffen ausgesetzt war dieses System in Schwaben durch den östlichen Nachbarn, die bayerischen Wittelsbacher, die sich zunehmend am Spiel um Einfluss und Macht beteiligten (Thomas Hölz). Die Loyalität zum Kaiser und damit die Abwendung vom Landesherrn drückte sich in einigen Klöstern in einer gezielten politisch-ideologischen Aussage des Bildprogramms in Kaisersälen aus. Auf diese Weise wurde, wie Rainer A. Müller am Beispiel der oberschwäbischen Reichsabteien zeigt, nicht nur die Treue zum Kaiser, sondern, da vor allem in den habsburgischen Territorien umstritten, die Reichsunmittelbarkeit untermauert.

Die Tendenz der geistlichen Staaten, moderne Instrumente zu installieren, ihre Fähigkeit zur Reform und ihre Offenheit für Neuerungen im Bereich von Politik und Verwaltung werden im vorliegenden Band anhand einiger Fallbeispiele über innenpolitische Strukturen verdeutlicht. So konnte das Domkapital in Konstanz ab dem 16. Jahrhundert bei der Wahl eines neuen Bischofs durchsetzen, dass Komplementärverträge zu bereits bestehenden Wahlgesetzen abgeschlossen wurden, um Missstände zu thematisieren und deren Behebung zu fordern. Der Passus „nach altem Herkommen“ wurde vom Domkapital als nicht mehr ausreichend angesehen, um seinen Einfluss zu sichern (Konstantin Maier). Personalunionen hatten vor allem auf die Verwaltungsstrukturen des geistlichen Nebenlandes verändernde und modernisierende Auswirkungen. Am Beispiel der Befugnisse der Statthalterei, den Funktionen des Geheimen Rates und der Besetzung verschiedener Ämter zeigt Wolfgang Wüst, dass die Umsetzung von Verwaltungsreformen, die sich in administrativer Zentralisierung und der Schaffung rationaler Strukturen konkretisierte, „in einem engen Zusammenhang“ mit Personalunionen stand.

Die Offizialate, die bischöflichen Gerichte, wurden bis ins 17. Jahrhundert wegen ihrer Besetzung mit wissenschaftlich gebildeten Geistlichen bevorzugt auch von Laien angerufen (Ulrich Eisenhardt). Allerdings ist für den Bereich der Gerichtshoheit generell festzustellen, dass die geistlichen Landesfürsten nicht über eine größere Gerichtsgewalt verfügten als ihre weltlichen Pendants. In ökonomischer Hinsicht waren die geistlichen Staaten – Frank Göttmann untersucht in seinem Beitrag Oberschwaben – bis ins 18. Jahrhundert weitgehend auf Einnahmen aus dem agrarischen Sektor angewiesen; proto-industrielle Unternehmen finden sich hauptsächlich in den Reichsstädten. In diesem Punkt, wie allgemein im Wirtschaftsstil, unterschieden sich die geistlichen Staaten nicht in großem Maße von weltlichen Territorien. Für den Teilbereich der Weinwirtschaft lässt sich jedoch erkennen, dass die schwäbischen und bayerischen Klöster mit ihrer Wirtschaftsweise vor allem auf ihren Besitzungen in Südtirol durch die Bündelung des Produktionsablaufs in einer Hand und die Schaffung größerer Produktionseinheiten Strukturen geschaffen haben, die noch heute Bestand haben (Andreas Otto Weber).

Für die aktuellen Diskussionen über die Ausformung des Absolutismus und die Konfessionalisierung sind zwei Beiträge von Bedeutung, die sich mit dem Fürststift Kempten und dem Hochstift Bamberg beschäftigen. Im Fürststift Kempten verfügten die Stände bei Fragen der Policey und in Wirtschaftsangelegenheiten im 18. Jahrhundert über umfangreiche Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten (Peter Kissling). Religiöse Toleranz ist für die Zeit um 1600 im Hochstift Bamberg festzustellen, in dem eine starke evangelische Reichsritterschaft in die politische Verwaltung eingebunden war. Familien- und Standesbewusstsein standen hier vor konfessionellen Fragen (Richard Ninness).

Die Themenstellung des vorliegenden Sammelbandes runden Beiträge über Identitätsbildung und Erinnerungskultur ab. Volker Laube untersucht am Beispiel der Abtei Kempten den Funktionswandel der Chronistik. Besonders ab dem 16. Jahrhundert ist eine stärkere Politisierung der Geschichtsschreibung zu beobachten; Privilegien und Rechtstitel wurden hervorgehoben, „ein gemeinsamer Fundus an Vorstellungen über Identität und Wesen der Abtei Kempten“ geschaffen (S. 286). Für die gemeinsame Identität in Klöstern und Stiften war zudem das Feiern von Jubiläen, etwa Ordens- und Stiftungsjubiläen, die besonders ab dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zunahmen, von zentraler Bedeutung (Ralph Schuller).

Der Band arbeitet die Problematik „Geistliche Staaten“ in sehr umfassender Art und Weise unter den verschiedensten Gesichtspunkten auf. Das entworfene Gesamtbild zeigt die Leistung der geistlichen Staaten in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft zwar manchmal als ambivalent, stellt jedoch eine Aufwertung und Differenzierung gegenüber älteren, bislang vorherrschenden Meinungen dar. Peter Hersche fasst diese Ambivalenz in seinem Beitrag über die südwestdeutschen Klosterterritorien zusammen, indem er diese auf den bereits früher in die Diskussion eingebrachten Terminus der „intendierten Rückständigkeit“ hin untersucht.

Generell fällt auf, dass sich alle Beiträge gerade im Punkt „Gesellschaft“ sehr stark auf die oberen Schichten beschränken. Ein Blick auf die bäuerlichen und städtischen Untertanen in den geistlichen Territorien und ein Vergleich mit weltlichen Staaten hätte hier sicher noch das eine oder andere interessante Ergebnis hervorbringen können. Alles in allem wird jedoch die Situation der oberdeutschen geistlichen Staaten in der frühen Neuzeit, ihre Lage innerhalb des Reichssystems, aber auch ihre aufgrund der geografischen Lage besondere Stellung sehr umfassend dargestellt. Sehr lobenswert ist hervorzuheben, dass der Sammelband eine Gesamtbibliografie sowie ein Personen- und Ortsregister umfasst, was für Tagungsbände nicht selbstverständlich ist, die Benutzbarkeit und den Wert des Werkes jedoch entscheidend erhöht.