: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. Stuttgart 1999 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3-421-05285-9 396 S. € 22,00

: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Reinbek 1999 : Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-60796-4 415 S. € 10,50

: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft. München 2000 : Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 3-423-30757-9 267 S. € 10,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke, Humboldt-Universität zu Berlin

Ian Kershaws voluminöse zweibändige Hitler-Biographie hat in den letzten zwei Jahren den ungeteilten Respekt der Forschung gefunden. Kaum ein anderer Historiker schien zu diesem Großunternehmen durch frühere Arbeiten in ähnlicher Weise befähigt, wenngleich sich der bekennende "Funktionalist" Kershaw seinem Gegenstand seit Jahren über die Erforschung der strukturellen Bedingungen der NS-Herrschaft annäherte. Sein Portrait des Diktators setzt damit einen Kontrapunkt zu den "intentionalistischen" Deutungen von Alan Bullock, Eberhard Jäckel und Joachim Fest, die bis dato den Maßstab der Hitler-Interpretation setzten. Kershaws Werk zeigt aber auch, daß die ehemals polarisierende Debatte zwischen Intentionalisten und Strukturalisten seit langem obsolet geworden und nunmehr eine vermittelnde Position möglich ist. Es bedurfte nicht nur der zentralen Integrationsfigur des "Führers", sondern auch der Anerkennung einer im katastrophalen Sinne wegweisenden Weltanschauung, um dessen Zielen "entgegenzuarbeiten", wie Kershaws Synthese unterstreicht.

Den absehbaren Erfolg von Kershaws Werk nutzten seine deutschen Verleger, um zeitgleich Neuauflagen seiner bisherigen Arbeiten zu besorgen. Dies erscheint zwar aus konjunkturellen Gesichtspunkten verständlich, ist aber - um es vorwegzunehmen - an Ertrag und Notwendigkeit gemessen nicht immer einleuchtend, so daß die drei vorliegenden Bände in ihrer Aktualität stark auseinanderdriften. Den Anfang machte Kershaws derzeitiger Verlag, die Deutsche Verlags-Anstalt, mit der mittlerweile dritten Fassung des "Hitler-Mythos" - ein Buch, das ursprünglich im Rahmen des von Martin Broszat initiierten Projekts "Bayern in der NS-Zeit" entstand, also schon gut zwanzig Jahre alt ist. Was jetzt vorliegt, ist die Übersetzung einer englischen Fassung von 1987. Die damals formulierte These, daß die Bewunderung für Hitler "weniger auf den merkwürdigen und geheimnisvollen Grundsätzen der nationalsozialistischen Ideologie als auf den sozialen und politischen Werten" beruhte (22f.), ist heute Allgemeingut geworden. Kershaw zeichnet die Entstehung des Hitler-Mythos anhand von Zeugnissen der NS-Granden und vor allem mit Hilfe der Polizeiberichte und regionaler Zeitungen nach. Der blinde Glaube seiner engsten Gefolgschaft, aber auch das verbreitete Verlangen nach politschem "Führertum" und ein Kompensationsbedürfnis angesichts ideologischer Verwirrung bot die Grundlage für die Konstruktion einer alles überragenden Führerfigur. Ebenso wie die deutsche Bevölkerung dem Führer-Mythos in den Jahren von 1933 bis 1938 erlag, stellte sich bei Hitler selbst Realitätsverlust und Hybris ein - auch er wurde das "Opfer" des eigenen Mythos.

Kershaws Studie berücksichtigt sozialgeschichtlich solide die Verbreitung des Führerglaubens in den unterschiedlichen sozialen und konfessionellen Milieus und zeigt einmal mehr, daß keine gesellschaftliche Gruppe gegen die Attraktivität der "Erfolge" Hitlers vollständig immun war. In regimekritischen Kreisen prangerte man zwar Pfründewirtschaft, Korruption und Sittenlosigkeit der Parteibonzen an. Es herrschte aber eine große Bereitschaft, Hitlers Nichtwissen um diese Mißstände vorauszusetzen; die verbreitete Wendung "wenn das der Führer wüßte" gibt dieser Tendenz beredten Ausdruck. So entstand die paradoxe Situation, daß sich der Führer-Kult gerade auch gegen die Autorität der NSDAP profilieren konnte. Nach Überschreiten des Zenits seines militärischen Erfolges zog sich der "GröFaZ" aus der Öffentlichkeit zurück und trug damit zur Dekonstruktion des eigenen Mythos bei: "Die Images von Führer und Partei, die fast ein Jahrzehnt lang nach der Machtergreifung weitgehend getrennte Angelegenheiten und einander oftmals diametral entgegengesetzt waren, begannen nun im öffentlichen Bewußtsein miteinander zu verschwimmen." (243)

In welchem Maße der Mythos in den letzten Jahren des absoluten Führerstaates im Angesicht von Bombenangriffen, materieller Not und Terrorregiment noch benötigt wurde bzw. Erklärungskraft besitzt, vermag auch Kershaw nicht zu bestimmen. Der vielfach dokumentierte Durchhaltewillen der Bevölkerung bis in die letzten Kriegstage steht einer stetigen Erosion des Mythos gegenüber, wovon die Spitzel und Polizeiberichte Zeugnis ablegen. So kann der britische Historiker bei Kriegsende einerseits ein nahezu völliges Verschwinden Hitlers aus dem Alltagsbewußtsein konstatieren (das wohl besser mit Verdrängung umschrieben wäre), andererseits aber auf das zunächst erstaunlich positive Hitler-Bild im Nachkriegsdeutschland verweisen, das Erfolg und Dauer einer mythischen Kreation belegt. Dies weist auf einige methodische Defizite dieser quellengesättigten Arbeit hin, an welcher der Zahn der Zeit mittlerweile genagt hat. Weder leistet Kershaw eine tragfähige Definition des politischen Mythos, noch analysiert er genauer dessen propagandistische Konstruktion. Mißlich ist auch, daß quellenkritische Maßstäbe allenfalls en passant eingestreut werden: Briefzensur, SD-Berichte und Lokalpresse sind zu brisant, als daß in historistisch-hermeneutischer Methode lediglich "zwischen den Zeilen" (19) gelesen werden kann. Der Leser vermißt in Kershaws Frühwerk auch jeden Versuch, qualitative und quantive Wertungen oder regionale Differenzierungen (sei es zwischen Stadt/Land, Nord-/Süddeutschland etc.) vorzunehmen. Oft geht der Befund nicht darüber hinaus, daß es zu bestimmten Topoi sowohl Zustimmung als auch Ablehnung gegeben habe. Unverständlich ist, warum dieser nicht eben neue Aufguß von der DVA völlig überteuert angeboten wird; darüber hinaus hätte man sich ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht. Neben einigen ärgerlichen Druckfehlern muß der Leser registrieren, daß der Angriff auf Polen am 1. Januar 1939 begonnen habe (176). Das sollte nicht passieren.

Die bei dtv erschienen Neuauflage von "Hitlers Macht. Profil einer Herrschaft" (1992) hingegen präsentiert sich immer noch als ein überaus klar strukturierter Abstract der nachfolgend verfaßten großen Biographie und ist daher all denjenigen vorbehaltlos zu empfehlen, die sich die Lektüre von 2000 Seiten ersparen wollen, aber dennoch an den thesenhaft zugespitzten, bei Kershaw wesentlichen Interpretamenten Interesse zeigen. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine der didaktisch wertvollsten Einführungen zum Nationalsozialismus. Bereits hier wendet der Autor Max Webers Modell der charismatischen Herrschaft auf den NS-Staat an, beruhend auf der Wahrnehmung von Größe, Heldentum und Sendungsbewußtsein bei der Führergestalt und auf einer "charismatischen Gemeinschaft" engster Gefolgsleute, die den Transmissionsriemen für den Hitler umgebenden Personenkult bildete. Ebenfalls findet sich schon in diesem Band das von Kershaw popularisierte und seine Hitlerbiographie leitmotivisch begleitende Diktum eines Staatssekretärs im Reichsernährungsministerium, jeder habe die Pflicht, "zu versuchen, im Sinne des Führers ihm entgegen zu arbeiten" (23).

In überzeugender Weise gelingt es Kershaw, die NS-Bewegung, die gesellschaftlichen Eliten und die Masse der breiten Bevölkerung aufeinander zu beziehen. Da die Ereignisgeschichte so knapp wie möglich abgehandelt wird und vor allem Motivstrukturen der handelnden Gruppen sowie eine Machtanalytik des polykratischen NS-Staates im Vordergrund stehen, besitzt das Werk für den Studenten alle Vorteile eines anregenden Lehrbuchs. Auf die eigentlich unbeantwortbare Frage, wie Hitler möglich wurde, gibt es gutbegründete Hinweise. Der gesellschaftliche Konsens, der über revisionistische außenpolitische Ziele und in der antidemokratischen sowie nicht zuletzt in einer antisemitischen Grundhaltung bestand, trug ebenso zur Stabilisierung des NS-Regimes bei, wie die sträfliche Unterschätzung Hitlers durch die konservativen Eliten die Machtübertragung ermöglicht hatte. Erst die Zustimmung der Deutschen gab Hitler den Schlüssel für die Ausübung von Zwangsmitteln in die Hand, welche die dem NS-System inhärente destruktive Dynamik zu entfesseln in der Lage waren. Entscheidend wird für Kershaw die Zäsur des Jahres 1938, als sich die nationalsozialistische Politik "in einer ganzen Reihe von Bereichen zu radikalisieren" begann (145) - ökonomisch, militär- und außenpolitisch sowie hinsichtlich der "Judenfrage". Dies ist, so darf man Kershaws Argumentation implizit verstehen, nicht lediglich mit einer gleichsam mechanisch-transpersonalen "kumulativen Radikalisierung" gleichzusetzen, sondern weist auf die ideologischen Strukturelemente des Nationalsozialismus hin, der im Krieg seinen Wesenszug, sein wahres Gesicht zeigen sollte.

Ebenfalls zu begrüßen ist die überarbeitete Neuauflage von "Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick", das mittlerweile den Rang eines Standardwerkes beanspruchen kann und seit 15 Jahren aus keinem historischen Seminar zur NS-Zeit mehr wegzudenken ist. Kershaws 1985 erstmals erschienener Forschungsbericht zeichnet sich nicht nur durch außerordentlich souveräne Beherrschung des Stoffes aus, sondern besticht zudem durch ausgewogene Urteile und hohe Lesbarkeit. In die "harten" historischen Themenfelder Innen- und Außenpolitik, Wirtschaft, Bedeutung der Person Hitlers, Holocaust und Widerstand werden hier immer noch konzise Einführungen gegeben, wobei die Konzeption des Bandes in anderen Bereichen dessen Entstehungszeit nicht verdecken kann. Die damals erbittert geführten Debatten um Totalitarismus- und Faschismustheorien wecken heute überwiegend historiographiegeschichtliches Interesse, gleiches gilt für den Streit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten.

Kershaw hat für diesen Band die bis 1998 erschienene Literatur eingearbeitet und ein 50seitiges Schlußkapitel hinzugefügt, das die Perspektivverschiebungen der jüngeren Forschung darzustellen anstrebt. So verdienstvoll viele Passagen der Neuausgabe sind, wirkt das Schlußkapitel mit etwas zu heißer Nadel gestrickt. Kershaw geht darin überraschend ausführlich auf den geschichtspolitischen Umgang mit der NS-Vergangenheit ein, macht aber weniger den Versuch, die Forschungsleistungen der letzten Jahre zu diskutieren. Alles das, was nicht in das Raster seiner Gliederung paßt - und das gilt insbesondere für den Bereich der Mentalitäts- und Kulturgeschichte, entfällt. Aufhänger seiner sehr essayistisch geratenen Schlußbetrachtung sind der Nationalsozialismus und die nationale Identität der Deutschen, der Diktaturvergleich nach 1989 und vor allem die öffenlichkeitswirksamen Debatten der letzten Jahre, allen voran die Diskussion um Daniel Goldhagen. Im Gegensatz zu seiner eigenen Ansicht, daß Goldhagen "bei der wichtigen, das Thema weiter vertiefenden Holocaust-Forschung wohl kaum eine Rolle spielen" werde (391), widmet Kershaw der nun schon fast vergessenen Kontroverse viel Raum. Seine ausführlichen Beobachtungen dazu aus der Warte des eigenen Fernsehsessels wirken in diesem sonst sehr präzise strukturierten Band etwas deplaziert.

Den bedeutendsten Perspektivwechsel innerhalb der historischen Forschung sieht Kershaw darin - und davon zeugt natürlich auch seine jüngste Hitler-Biographie -, "daß die nationalsozialistische Rassenideologie jetzt ernsthaft als eine der Haupttriebkräfte betrachtet wird" (394). Damit verabschiedet er sich von einer lediglich untergeordneten, funktionalistischen Sicht der Ideologie und hebt den Widerspruch zwischen Instrumentalisierung und Motivationskraft von Ideen auf. Das jüngst sehr ausgiebig beackerte Forschungsfeld, das den Nährboden und die Verbreitung von völkischen und radikalnationalistischen Ideen innerhalb der gesellschaftlichen Eliten (Verwaltung, Hochschulen, Wirtschaft) weiter erhellt hat, findet bei Kershaw leider keine Berücksichtigung mehr. Wer sich zum aktuellen Stand der Forschung informieren will, kommt deshalb nicht darum herum, sich neuere Synthesen zum Thema anzusehen. Insofern haften den hier angezeigten Neuauflagen typische Schwächen an: Sie sind unzureichend aktualisiert und bleiben ihren nun überholten Schwerpunktsetzungen verpflichtet. Unter den drei besprochenen Bänden erweist sich "Hitlers Macht" als lohnendste Wiederveröffentlichung und verspricht neben Broszats "Der Staat Hitlers" über die Jahre einen didaktisch und konzeptionell gleichermaßen hohen Rang zu behaupten.

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