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Titel
Peenemünde. Mythos und Geschichte der Rakete 1923-1989


Herausgeber
Erichsen, Johannes; Hoppe, Bernhard M.
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eisfeld, Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück

Kernstück des Bandes (S. 114-334) ist der Katalog der 2001 eröffneten Ausstellung des Museums Peenemünde. Er wird ergänzt durch einen Aufsatz- und einen Dokumententeil (S. 11-109 bzw. S. 337-379) sowie eine Auswahlbibliografie (S. 380-384). Verfasser der neun Aufsätze sind die beiden Herausgeber, ferner Michael Neufeld (U.S. National Air and Space Museum) – mit zwei Beiträgen vertreten –, Jens-Christian Wagner (KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora), Dirk Zache (Museum Peenemünde), Matthias Uhl (Institut für Zeitgeschichte, Abt. Berlin) sowie schließlich Thomas Stamm-Kuhlmann und Reinhard Wolf, Historiker bzw. Politologe an der Universität Greifswald. Sechs der zehn abgedruckten Dokumente stammen von Walter Dornberger, je eines von Hermann Oberth, Godomar Schubert (Ministerialrat beim Heereswaffenamt, zuständig für den Aufbau des Peenemünder Versuchsserienwerks) sowie den polnischen bzw. französischen KZ-Häftlingen Leon Dropek und Michel Fliecx.

Mythenbildung kann verstanden werden als gezielte Strategie von Einzelnen oder Gruppen, sich Ansehen und Einfluss zu verschaffen durch eine zunächst schlüssig wirkende Selbstdarstellung, die Wahrheiten mit Entstellungen verknüpft. Die beiden Elemente des „Mythos Peenemünde“, welche archivgestützte Forschungen während der letzten anderthalb Jahrzehnte herausgearbeitet haben, fasst Neufeld noch einmal bündig zusammen (S. 41): erstens „Abwälzung der Verantwortung“ (die Konstrukteure definieren sich als „unpolitische Techniker“), zweitens „Neudefinition der Zielsetzung“ (an die Stelle „reale[r] Verknüpfung mit der Welt der Waffen“ tritt die Betonung der „Perspektive [...] künftige[r] Raumfahrt“).

Sein Leben „endgültig ausgehaucht“ hatte der Mythos, wie Neufeld anderen Orts einprägsam formulierte1, spätestens 1992: zum einen mit dem Erscheinen der letzten geschönten Biografie Wernher von Brauns2 – darauf bezog sich Neufeld –; zum anderen, wie Hoppe hervorhebt (S. 11f.)3, mit der durch die öffentliche Debatte erzwungenen Absage der geplanten Feier zum 50. Jahrestag des V 2-Erstflugs. In Peenemünde freilich bemühte man sich nach Kräften, dem Mythos weiter zu huldigen: mit jener ersten, 1991 eröffneten Ausstellung, die Hoppe als „Kuriosum“ einstuft (S. 19) – ein Kuriosum allerdings, das „schnell ein großer Publikumserfolg“ wurde (eine Million Besucher binnen fünf Jahren!).

Im Gegensatz zur akribischen Veranschaulichung aller übrigen Etappen des Raketenprogramms fanden sich dort noch 1996 lediglich vier Exponate zur V 2-Fertigung durch KZ-Insassen – ein gestreifter Häftlingsanzug, eine Büchervitrine mit Literatur zu Konzentrationslagern sowie zwei Dokumente über den geplanten Einsatz von KZ-Häftlingen in Peenemünde, jedoch ohne jegliche Erläuterung, die es dem Betrachter erlaubt hätte, sie in das Gesamtbild der Entwicklung und Herstellung der A 4/V 2 einzuordnen. Ich habe diesen Ausstellungsteil seinerzeit als „Alibi-Ecke“ bezeichnet. Freilich machte man im Kreis der „historisch interessierte[n] Bürger“ und „ehemalige[n] Mitarbeiter des NVA-Standortes“ (S. 19), die hinter der Ausstellung standen, gar kein Hehl daraus, dass man sich am liebsten eine „Arbeitsteilung“ gewünscht hätte: Für die „heile Welt der Fachleute“ sollte das Informationszentrum Peenemünde zuständig sein, für den Sklavenstaat der Zwangsarbeit die Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Mit einem solchen „dichotomische[n] Bild“ vom „sauberen Peenemünde einerseits und der Hölle im fernen Mittelwerk andererseits“ (S. 43) hat die neue Ausstellung – deren Erarbeitung auf eine Koalitionsvereinbarung der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns zurückgeht – schon vom Ansatz her aufgeräumt: Ausdrücklich zielt sie auf Erschließung der „Janusköpfigkeit Peenemündes“ (S. 7). Die dem Katalog vorangestellten Aufsätze resümieren den aktuellen Forschungsstand. Ihre systematisch aufbereiteten Informationen dienen der Hinführung auf die einzelnen Ausstellungsteile. Sie lassen sich ebenso nachträglich zur Vertiefung der gewonnenen Eindrücke nutzen und können hier nur stichwortartig genannt werden.

Raketenphantasien in der Weimarer Republik: Lange vor 1933 träumten „Romanautoren und Raketenfreunde“ (Oberth, Valier, Nebel, Gail, Laffert) von imaginären „Superwaffen“ als „Mittel[n] der Macht“ wie „der Kriegsvermeidung“ (S. 23f.).

Peenemünde und das „Dritte Reich“: Der Nachkriegsmythos „nährte sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, die hässliche Wahrheit von der vollständigen Integration der leitenden Kräfte Peenemündes in das NS-System zu verschleiern“ (S. 39).

Unmenschliche Fabriken in Peenemünde, im Harz und anderswo: Weil Zwangsarbeit „auch in Peenemünde eine zentrale Rolle spielte“, wurden bereits die Heeres- und Luftwaffeneinrichtungen auf Usedom „zum Leidens- und Todesort Tausender“, und später wurden nicht nur im Mittelwerk, sondern auch an zahlreichen weiteren Standorten (z.B. Ebensee, Lehesten, Redl-Zipf) „mindestens 40.000 Häftlinge unmittelbar für das A 4-Programm zur Zwangsarbeit herangezogen“ (S. 43, 50).

Präsenz „von Kontrasten“, Präsenz „von Geschichte“ in Peenemünde: Auch das ehemalige Kraftwerk, das heute die Ausstellung beherbergt, wurde „unter massivem Einsatz von Zwangsarbeitern gebaut, um den enormen Strombedarf zu decken, den vor allem die Flüssigsauerstoff-Produktion für den Raketenantrieb benötigte“ (S. 62).

Nachkriegswettlauf um atomare Fernraketen: Peenemünder Technologie hat „die amerikanische Raketenentwicklung“, nicht anders als in der Sowjetunion, „verkürzt [...] und beschleunigt“ (S. 85, 75, 90).

Problem „gerechter Kriege“ im Sinne der Kriterien katholischer Morallehre: Nuklear bestückte Fernwaffen haben die Vermeidung „ungerechter“ Kriege weiter erschwert. Die von Peenemünde ausgehende Mahnung lautet, auf politischen Wegen darauf hinzuarbeiten, „dass gewaltbereite Gruppen und Regime [...] keine Chance erhalten, ihre aggressiven Pläne zu verfolgen“ (S. 107f.).

Der entsprechende Katalogteil, der auch die Friedensbewegungen der 1970er und 1980er-Jahre vorstellt (vgl. S. 289-293), liefert eines von zahlreichen Beispielen für die differenzierte Gestaltung der Ausstellung, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen erörtert werden kann. Ihren facettenreichen Ansatz, der „beunruhigen“ und „herausfordern“ soll (S. 21), verdeutlicht abschließend die Gegenüberstellung exemplarischer Lebensläufe: hier Opposition und Widerstand – dort die bestehende Kommandostruktur; hier englische Gegner – dort deutsche Ingenieure; hier Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge – dort zivile Vor- und Mitarbeiter (S. 296-304).

Der Dokumententeil allerdings wird solchem Facettenreichtum nicht durchweg gerecht. Er leidet an der übermäßigen Wiedergabe von Texten und Reden Walter Dornbergers. Mindestens das Dokument Dornberger III („Betr.: Panne A 4“, S. 348f.) könnte ohne Erkenntnisverlust entfallen. Es sollte ersetzt werden durch den Brief Wernher von Brauns an Albin Sawatzki (erwähnt – aber nicht abgebildet – auf S. 233), in dem von Braun seinen Besuch im KZ Buchenwald zur Auswahl weiterer „geeigneter“ Häftlinge beschreibt.

Die Schwachstelle des Buchs stellt die Bibliografie von viereinhalb Seiten dar, deren Kriterien unverständlich bleiben. Verzichtet wurde auf Häftlingsberichte – beispielsweise Jean Michels „Dora“ (Paris 1975/London 1979) oder Yves Béons „Planet Dora“ (Gerlingen 1999). Stattdessen wurden Titel unkommentiert aufgenommen, deren Inhalt den Zielen der Ausstellung diametral widerspricht. Vier Beispiele:

Julius Mader war „OibE“ (Offizier im besonderen Einsatz, d.h. Desinformationsspezialist) des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Sein „Geheimnis von Huntsville“ ([Ost-]Berlin 1963) ist entsprechend einzustufen. Manfred Bornemanns „Aktiver und passiver Widerstand im KZ Dora und im Mittelwerk“ (Berlin 1994) missachtet die Forschungslage zu Möglichkeiten und Grenzen des Häftlingswiderstands. Positionen des Holocaust-Leugners Paul Rassinier wurden in der Broschüre unkritisch übernommen (als dies 1998 viel zu spät auffiel, wurde ihr Verkauf in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora eingestellt). Marsha Freemans „Hin zu neuen Welten“ (Wiesbaden 1996), im ideologischen Umfeld der La Rouche-Organisation entstanden und in einem zu dieser Gruppe gehörenden Verlag erschienen, streitet jede Mitverantwortung der Peenemünder Konstrukteure für den Einsatz von KZ-Häftlingen ab. Thomas Franklins „An American in Exile“ (Huntsville 1987) schließlich lebt von gutgläubiger Wiedergabe der Lügen Arthur Rudolphs.

Eine hoffentlich in absehbarer Zeit erscheinende 2. Auflage des besprochenen Buchs sollte eine annotierte Bibliografie enthalten, die dem sonstigen Standard des Werkes entspricht.

Anmerkungen:
1 Neufeld, Michael J., Introduction. Mittelbau-Dora – Secret Weapons and Slave Labor, in: Béon, Yves, Planet Dora, Boulder 1997, S. IX-XXVIII, hier S. XXVII Anm. 3.
2 Stuhlinger, Ernst; Ordway, Frederick I., Wernher von Braun. Aufbruch in den Weltraum, Esslingen 1992.
3 Vgl. auch Eisfeld, Rainer, Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek 1996, S. 11.

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