Historiker setzen voraus, was erst zu beweisen wäre. Henri Pirennes schöner Satz weist darauf hin, das Historiker ihre Dokumente zumeist als Symptome dessen auffassen, was sie produziert haben soll (die Nation, die Klasse, der Zeitgeist, die Religion und dergleichen), und in jenem kleinen Essay, den er 1918 in deutscher Kriegsgefangenschaft schrieb, plädiert Pirenne für die Überwindung dieser Selbstbeschränkung entlang des Königswegs des interkulturellen Vergleichs 1:
Die omnipräsente (und um so weniger eingelöste) Beteuerung der Interpretationsabhängigkeit einer vielfältig vorinterpretierten historischen Wirklichkeit darf nicht dazu verleiten, diese als historischen Faktor und historiografisches Instrumentarium gering zu schätzen: Die Sprache als historisches Konstruktions- und Repräsentationssystem der Wirklichkeit steht im Zentrum der Œuvres Quentin Skinners und Reinhart Kosellecks, die der finnische Politologe Kari Palonen in einer Monografie Die Entzauberung der Begriffe untersucht.
Dieser weberianisch inspirierte, ambitiöse und materialreiche Band verdeutlicht alle Meriten und Unzulänglichkeiten einer textimmanenten und internalistischen ideengeschichtlichen Studie. Palonens Instrument ist das close reading, “man muss imstande sein, die Werke anderer Exegeten beiseite zu schieben, um die Originale ungestört lesen zu können”(S. 310). Diese Ideengeschichte in unverbrüchlichster Manier bietet keinerlei Aufschluss über die Institutionen und Kulturgeschichte der Theoriebildung, im Gegenzug aber mitunter äußerst erhellende Skizzen von intellektuellen “Einflüssen”: Die Passagen des Bands über Collingwoods Theorie historischer Erklärung und die Rückbezüge auf Skinners Auffassung der situativen Zeitlichkeit politischer Sprache zählen zu den Glanzstücken in Palonens Arbeit.
Die enorme Materialfülle, die Palonen verarbeitet, ist erstaunlich: Jede Miszelle Skinners und Kosellecks (auch dessen kaum bekannte Studie zu Daumier wird berücksichtigt 2) scheint in dem voluminösen Primärquellenregister auf, das freilich auch den zentralen Mangel des vorliegenden Buchs kennzeichnet: Die Stationendramen zweier getrennt voneinander verfolgter Theorieentwicklungen ergeben eigentlich zwei Kurzmonografien: Die ersten ihrer Art über Skinner 3 und – erstaunlicherweise – Koselleck 4, die freilich ohne Verschränkung nebeneinander gestellt werden.
Eine anspruchsvolle Historiografiegeschichte als politische Kulturhistorie darf freilich nicht auf diffuse Wechselwirkungen und Begleiterscheinungen als Interpretamente vertrauen: Es käme aber auch darauf an, nicht bloß die Ähnlichkeiten, sondern auch die Unterschiede wahrzunehmen, die Geschichtszeichen retroaktiver Kohärenz, die Palonen am Leitfaden identischer Wörter fixiert, sind irreführend. 5
Tritt im ersten, Skinner gewidmeten Teil des Buchs, die Kontextualisierung zugunsten einer recht vereinheitlichten Werkbiografie zurück, so ist der Koselleck-Abschnitt noch stärker durch Paraphrasen und werkimmanente Akzentverschiebungen gekennzeichnet: Die unerlässlichen Korrespondenzen wirken dadurch verwischt oder unerklärlich; auf Carl Schmitt, Kosellecks Mentor der Heidelberger Jahre, wird kurz Bezug genommen, Heidegger, Gadamer, Johannes Kühn, Victor von Weizsäcker und andere Lehrer Kosellecks kommen kaum oder gar nicht vor. Ob zwischen Kosellecks prononciert illiberalen Aufklärungskritik und einer hermeneutischen Historik tatsächlich eine Transformation liegt, das ist hier nicht der Ort zu entscheiden, Palonens Arbeit aber huldigt zu sehr geistiger Einförmigkeit. So erscheint Kosellecks Geschichtstheorie einer Historik möglicher Geschichten im ideengeschichtlichen Vakuum als notwendiges und folgerichtiges Produkt seiner “Funktionsanalyse der politischen Weltbilder” in Kritik und Krise. Palonens Arbeit bietet also eine unerreicht detaillierte Materialsammlung zu Skinner und Koselleck, lässt aber geistige Eigenständigkeit vermissen. Das ist schade; ein faszinierendes Thema wird so vergeben. In der Geschichte, und dies gilt auch für die Ideengeschichte, ist mit einem Wort Kosellecks schließlich nichts deswegen mehr eingetreten, “weil es als notwendig definiert wird”. 6
Anmerkungen:
1 Pirenne, Henri, Réflexions d’un solitaire, ed. by Bryce Lyon, Mary Lyon et Jaques-Henri Pirenne in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 160 (1994), pp. 191-194, 191, zit. nach Peter Schöttlers kommentierter Edition: Henri Pirennes Kritik an der deutschen Geschichtswissenschaft und seine Neubegründung des Komparatismus im Ersten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 2 (2004).
2 Koselleck, Reinhart, Daumier und der Tod, in: Boehm, Gottfried; Stierle, Karlheinz; Winter, Gundolf (Hgg.), Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl, München 1985, S. 163-178.
3 Fast gleichzeitig mit dem vorliegenden Band erschien Palonens, Kari, Quentin Skinner. History, Politics, Rhetoric, Cambridge 2003.
4 Zu Koselleck liegen nur einige wenige Aufsätze vor, repräsentativ dafür sind Bestandsaufnahmen wie Schwartz, Michael, Leviathan oder Lucifer. Reinhart Kosellecks Kritik und Krise revisited in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 (1993), S. 33-57.
5 Palonen zeigt damit den methodischen Spielraum der internationalen History of Political and Social Concepts Group [www.jyu.fi/yhtfil/hpscg/ ] auf, zu deren aktivsten Mitgliedern er zählt. Diese Gruppe, die 2003 auch eine inoffizielle Koselleck-Festschrift vorgelegt hat – Kurunmäki, Jussi; Palonen, Kari (Hgg.) Zeit, Geschichte und Politik. Time, History and Politics. Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck – versteht sich als internationale Plattform begriffsgeschichtlicher und politiktheoretischer Arbeit inspiriert von der deutschen begriffsgeschichtlichen Tradition.
6 Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 89, vgl. Torsten Bathmanns Rezension für H-Soz-Kult: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/REZENSIO/buecher/2000/BaTo0900.htm