Titel
Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924


Autor(en)
Geyer, Martin H.
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 128
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
451 S., 3 Abb., 14 Tab., 1 Schaubild
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Rauh-Kühne, Historisches Seminar, Neuere Abteilung, Universität Tübingen

Die umfangreiche historische Forschung zur Frühphase der Weimarer Republik hat sich den sozio-kulturellen Begleiterscheinungen und Folgen von Krieg, Inflation und Revolution erst spät zugewandt. Lange dominierte einerseits das primär politikgeschichtliche Interesse an der Zusammensetzung der Räte- und Revolutionsbewegung und an ihren Zielen, während andererseits von wirtschaftsgeschichtlicher Seite vor allem nach den ökonomischen Folgen der Inflation gefragt wurde. Unter Revision älterer Forschungsmeinungen entstand ein Revolutions- und Inflationsbild, das auffallend von den dramatischen Erinnerungen der Zeitzeugen absticht, welche zugleich bis in die 1960er Jahre den Tenor der frühen Weimar-Forschung geprägt haben. Bewußt überspitzt könnte man das die 1970/80er Jahre prägende 'revisionistische' Bild von der Frühphase der Weimarer Republik auf die Formel bringen: 'alles war nur halb so schlimm!': Dem politischen Radikalismus fehlte es nach Auffassung der Revisionisten 1918/19 an sozialer Reichweite ebenso wie an politischer und organisatorischer Schlagkraft, während nur 'leider' die politischen Akteure die vorhandenen Handlungsspielräume unzureichend nutzten und die institutionelle Fundierung der parlamentarischen Demokratie versäumten.

Den Finanz- und Wirtschaftspolitikern der ersten Reichskabinette wurden dagegen von revisionistischen Historikern überraschend 'gute Noten' erteilt: Glaubt man den in den 1980er Jahren publizierten, allerdings primär mit wirtschaftspolitischen und finanzwissenschaftlichen Argumenten begründeten Neuinterpretationen, so war die Inflation ein klug gewähltes Instrument, die Kriegslasten zu verteilen und letztlich die Republik politisch zu stabilisieren. Bis Ende 1922 habe die Politik der fortgesetzten Geldentwertung zu Vollbeschäftigung bei steigenden Löhnen, blühender Konjunktur und Abwälzung von Reparationslasten auf das Ausland, gar zur partiellen "Normalisierung" des privaten und öffentlichen Lebens geführt. Erst die Hyperinflation habe jene chaotischen Auswirkungen gezeitigt, die retrospektiv die Erinnerung der Zeitgenossen 'trübten', welche jedoch nur vermeintlich den gesamten Zeitraum zwischen Kriegsende und Währungsstabilisierung charakterisierten.1

Erst gegen Ende der 1980er Jahre erschien eine Reihe von Regional- und Lokalstudien, die Krieg, Revolution und Inflation auch aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive beleuchteten und zeigen konnten, daß die durch Geldentwertung und Mangelversorgung verursachten Alltagsnöte rasch zur Delegitimierung der neuen politischen Ordnung führten. Das schränkte die Handlungsmöglichkeiten der politischen Akteure subjektiv wie objektiv ein, denn nur die rasche Wiederherstellung von Ordnung schien die unabdingbare effiziente Versorgung zu garantieren.

Gleichzeitig entstanden sozialgeschichtliche Analysen, die Auswirkungen von Krieg, Revolution und Inflation auf die Geschlechter, auf einzelne soziale Schichten, Milieus und Altersgruppen untersuchten und zeigten, daß Krieg und Inflation neue gesellschaftliche Spannungen verursachten, welche die neue politische Ordnung fundamental in Frage stellten. Das Jahrzehnt zwischen 1914 und 1924 beschleunigte die vor allem im Bürgertum bereits vor dem Krieg als krisenhaft empfundene Modernisierung der Gesellschaft.

All diese Arbeiten wecken Zweifel, ob das skizzierte revisionistische Bild von der frühen Weimarer Republik einer kritischen - die Alltags- und Erfahrungsperspektive breiter Schichten einbeziehenden - Überprüfung standhält. Martin H. Geyers ebenso anregende wie gut lesbar geschriebene Kölner Habilitationsschrift über München im Inflationsjahrzehnt macht die Notwendigkeit einer 'Revision der Revision' zur Gewißheit. Der Autor untersucht anhand der für München vorliegenden Daten jene tiefgreifenden Strukturveränderungen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens, die sensible Zeitgenossen z. T. schon vor der Jahrhundertwende erahnten, die sich dann aber in den Jahren 1914 bis 1924 rapide beschleunigten. Doch bleibt das Buch nicht bei der Darstellung sozialer Veränderungsprozesse stehen. In erster Linie handelt Geyers Studie "von der Konfrontation und Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit Krisenphänomenen, die sie mit Weltkrieg, Revolution und Inflation verbanden" (13). Schon ihr - eine zeitgenössische Metapher aufgreifender - Titel, "Verkehrte Welt", signalisiert, daß Geyer Revolution und Inflation als tiefgreifende, keineswegs nur punktuell krisenhaft empfundene Veränderung aller Lebensbereiche interpretiert, als "Verlust von Ordnungen, Werten und Orientierungen im privaten, öffentlichen wie politischen Leben". Die Zeitgenossen, so Geyer, sahen sich "mit radikalen Entwertungs- und Neubewertungsvorgängen" konfrontiert, die zentrale Begriffe des Denkens und Handelns wie jene von Staat und Nation betrafen. Die Zeit vom November 1918 bis zur Niederschlagung der Münchener Räterepublik wurde für viele zum Inbegriff der "verkehrten Welt".

Der Autor analysiert die Verschiebungen in den sozialen Beziehungen und der Ordnung der Gesellschaft, stellt die veränderten industriellen Beziehungen, das konfliktreiche Verhältnis von Konsumenten und Produzenten dar, das Mißtrauen gegenüber dem Staat, der traditionellen Ordnungsfunktionen nicht mehr nachkommen konnte, und den rasch um sich greifenden Trend zur "Selbsthilfegesellschaft", der ebenso zur Bildung von Einwohnerwehren wie zur Organisierung der Konsumenten, Produzenten und Hausbesitzer führte.

Geyer beschreibt die Krise des Rechtsstaates am Beispiel der veränderten Relation von Gläubigern und Schuldnern, die kritischen Beziehungen von Hausbesitzern und Mietern, die Debatten über "Inflationsgewinnler" und -verlierer, Recht und Gerechtigkeit, Luxus und Konsum, d. h. den erbitterten Diskurs über eine "aus den Fugen geratene Ordnung" (25). Gleichzeitig werden populistische Integrationsversuche politischer Revisionisten vorgestellt, die von der feierlichen Inszenierung der Nation über die Anti-Versailles-Bewegung, Wucherrhetorik, Antisemitismus bis hin zu nationalbolschewistische Bestrebungen führten. Auch die Verbreitung von Erlösungssehnsüchten und politischen "Propheten" wird angesprochen.

Um diese früh verspürbaren, alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche tangierenden Folgen der Inflation verständlich zu machen und um Rückwirkungen der Geldentwertung auf politische wie soziale Bewegungen der Jahre 1918-1923 darzustellen, greift der Autor soziologische Erkenntnisse über die Funktion des Geldes auf. Da dem Geldsystem in modernen Gesellschaften eine grundlegende Bedeutung für das soziale Ordnungssystem zukommt, mußte der 1914 in Gang gesetzte monetäre Entwertungsvorgang zwangsläufig die wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung verändern. Die Folgen der Inflation waren - aus der subjektiven Perspektive der Zeitgenossen wie objektiv - "revolutionär", "weil sie wesentliche Elemente eines komplexen Systems von Institutionen und sozialen Beziehungen, und zwar formeller wie informeller Art, unterminierten. Die Hyperinflation des Jahres 1923 war daher, so Geyer, "nur ein dramatischer Höhepunkt, der sich keineswegs von den vorangegangenen Jahren abkoppeln läßt." (23)

Dabei betont Geyer jedoch, daß der allgemeine Krisentopos nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, daß viele Veränderungsprozesse zwiespältig wahrgenommen wurden. Manche Neuerung, wie etwa Massenkonsum und Kommerzialisierung der Freizeit oder auch die Ausbreitung kapitalistischer Verhaltensweisen wurden gleichermaßen abgelehnt und bekämpft wie von anderen akzeptiert und übernommen, wenn nicht gar begrüßt. Schon die Frühphase der Republik erwies sich daher als eine "verblüffend 'moderne' Gesellschaft, die nach einer Sprache suchte, diese 'Modernität' und die Erfahrungen zu beschreiben und zum Ausdruck zu bringen"(27).

All diese Befunde sind nicht vollkommen neu, werden jedoch überzeugend in den zeitgenössischen Diskurs eingeordnet und zu einer anregenden Gesamtdarstellung der Inflationszeit kombiniert. Daß diese sich "nur" auf die Großstadt München bezieht, entgeht einem als Leser(in) mitunter. Da der Verfasser seine lokalen Quellen stets in allgemeiner Absicht analysiert und nur mit äußerster Zurückhaltung lokale Befunde politischer Kultur ausbreitet, liest sich Geyers Buch stellenweise eher wie eine Synthese zur (urbanen) deutschen Gesellschaft der Inflationszeit denn wie eine Lokalstudie. Das ist gewollt. Geyer ist überzeugt, ähnlich wie Berlin habe München im Modernisierungsprozeß der Weimarer Gesellschaft "als Synekdoche fungiert", könne also gewissermaßen als pars pro toto gesehen werden. Denn die "politische und kulturelle Semantik, mit der München seit den zwanziger Jahren thematisiert wurde", weise in spezifischer Weise immer auch auf generelle Entwicklungen. In der Geschichte dieser Großstadt seien konkurrierende politische und kulturelle Ordnungsvorstellungen ebenso angelegt wie "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur der Stadt, sondern Deutschlands" (13).

Das ist ein origineller Zugriff, der jedoch aufgrund seiner methodischen und darstellerischen Implikationen eine unbewiesene Prämisse bleibt. In Geyers "politisch-sozialer Mikroanalyse" (13) dominiert das Interesse an allgemeinen Wandlungsprozessen und Wahrnehmungsweisen derart, daß das politische und soziale Substrat seiner stadtgeschichtlichen Untersuchung wenig Kontur gewinnt. Soziale Strukturveränderungen können immerhin den abgedruckten Tabellen entnommen werden, in einzelnen Kapiteln werden sie auch ausführlicher behandelt, hätten hier und da jedoch eine eingehendere Würdigung und einen Vergleich mit anderen Städten verdient gehabt. Dazu hätte sich die von Geyer nicht herangezogene, methodisch anregende und viele seiner Ergebnisse vorwegnehmende Studie von Dieter Schott über die Konstanzer Gesellschaft 1914-1924 gut geeignet.2 Im Unterschied zur vorgenannten Arbeit bleiben bei Geyer lokale und parochiale sozio-kulturelle Traditionen - abgesehen vom bezeichnenden Ausnahmefall des Literatenviertels Schwabing - fast völlig unberücksichtigt. Da diese Traditionen die Entstehung kollektiver Erfahrungen, Deutungsmuster und politischer Identitäten jedoch in entscheidender Weise prägten, läßt sich zumindest der Wandel des öffentlichen Lebens unter Außerachtlassung dieser Dimension nicht zufriedenstellend beschreiben.

Anmerkungen:
1 Zitat: Richard Bessel: Germany after the First World War, Oxford 1993; zur Forschungsentwicklung: Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 16), 4. durchges. u. erw. Aufl. München/Wien 1998.
2 Dieter Schott: Die Konstanzer Gesellschaft 1918-1924. Der Kampf um Hegemonie zwischen Novemberrevolution und Inflation, (Schriftenreihe des Arbeitskreises für Regionalgeschichte Bodensee e. V., 10), Konstanz 1989.

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