T. Kaufmann: Das Ende der Reformation

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Titel
Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548-1551/2)


Autor(en)
Kaufmann, Thomas
Erschienen
Tübingen 2003: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
662 S.
Preis
€ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Bremer, Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück

Große Bücher müssen nicht dick sein. Bernd Moellers ‚Reichsstadt und Reformation’ ist ein Beispiel dafür. 1 Auf ursprünglich nicht mehr als 79 Seiten hat Moeller 1962 programmatisch die Aus- und Verbreitung der Reformation in den Reichsstädten ausgeführt. Zahlreiche Einzeluntersuchungen schlossen sich an, einmal eher sozialgeschichtlich, einmal dogmengeschichtlich ausgerichtet. Einige Studien widersprachen Moellers Thesen im Detail, weitgehend aber wurde sein Buch immer wieder bestätigt. Heute finden an deutschen Universitäten sogar mündliche Prüfungen statt mit dem Titel „Reformationsforschung seit Moellers ‚Reichsstadt und Reformation’“.

Es ist deswegen auf den ersten Blick erstaunlich, dass der Reichsstadt Magdeburg bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit von Seiten der Reformationsforschung geschenkt wurde. Dabei ist neben Magdeburgs Weg in die Reformation, den Thomas Kaufmann in seinem Buch knapp umreißt (S. 13-38), besonders die Zeit des Interims und der Belagerung der Stadt 1548-1551/52 von reformationshistorischem Interesse, weil von hier aus der publizistisch-propagandistische Widerstand gegen Kaiser und Reich durch die Publikationen der „Herrgotts Kanzlei“ formuliert wurde. Dieser Begriff (ursprünglich „officina libraria Jesu Christi“ oder „Cantzley unsers herrn Jhesu Christi“) geht auf eine Schöpfung der Magdeburger Theologen aus dem Frühjahr 1550 zurück, mit der die gesamte Druckproduktion der Stadt im besagten Zeitraum umschrieben wird. Durch sie wurde Magdeburg zu einem „Erinnerungsort des deutschen Protestantismus“ (S. 1).

Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt: Auf das schöne Vorwort und die Einleitung folgen eine Vorstellung des Projekts „Herrgotts Kanzlei“ (Kap. I, S. 41-118), eine Darstellung der Ratspropaganda als Form städtischer Selbstdarstellung (Kap. II, S. 119-155) und eine Übersicht über die Gemeinschaftsproduktionen der Magdeburger Prediger, in deren Zentrum die Confessio Magdeburgensis (1550) steht (Kap. III, S. 157-207). Daran schließt sich das umfangreiche Kapitel mit der Analyse von exemplarischen Schriften an (Kap. IV, S. 209-428). Auf diese Ausbreitung des Quellenkorpus folgt abschließend eine kulturgeschichtliche Rekonstruktion des Projekts „Herrgotts Kanzlei“ (Kap. V, S. 429-484). Grundlage für diese Arbeit ist eine erschöpfende bibliografische Rekonstruktion der Magdeburger Buchproduktion der Jahre 1548-1552, die im Anhang vorbildlich beigefügt ist und durch statistische Zusätze und Register ergänzt wird.

Nach einer Einführung in die Geschichte der Reformation in Magdeburg stellt Kaufmann zunächst die Drucker der Stadt vor, allen voran die zentrale Offizin Michael Lotters. Dem Lotterschen Stammhaus in Leipzig wurde bereits 1519 die Eröffnung einer Filiale in Wittenberg gestattet, die fortan zu einer wichtigen reformatorischen Druckerei avancierte. Infolge diverser Konflikte übersiedelte Michael Lotter gegen Ende des Jahres 1528 nach Magdeburg. Im Jahr 1550 sind dann, bedingt durch die Magdeburger Publikationsoffensive, in keiner Druckerei des Reiches mehr Einzeltitel publiziert worden als bei Lotter. Im Folgenden rekonstruiert Kaufmann verschiedene Aspekte des Phänomens „Herrgotts Kanzlei“, so den Anteil und die Bedeutung von Flacius für die Buchproduktion, das Verhältnis der lateinischen zur deutschen Buchproduktion und die Außenwahrnehmung der „Herrgotts Kanzlei“. Ergänzt wird dieses auch buchkundlich wichtige Kapitel durch den Anhang 3, in dem Kaufmann die statistische Auswertung der Magdeburger Buchproduktion im untersuchten Zeitraum grafisch verdeutlicht.

Mit dem ersten Kapitel sind die Grundlagen für die folgenden Kernkapitel II-IV gelegt, in denen Kaufmann im Detail die Bandbreite der Magdeburger Druckerzeugnisse darstellt und analysiert. Er geht dabei unterschiedlich vor: Im zweiten Kapitel, das der städtischen Ratspropaganda vorbehalten ist, wird die rechtliche Stellung der Stadt und ihr Verhältnis zu den brandenburgischen und sächsischen Nachbarn geschildert; außerdem werden die zentralen Organe innerstädtischer Herrschaft vorgestellt. Im Anschluss präsentiert Kaufmann die fünf Ausschreiben des Magdeburger Rates, die zwischen 1548 und 1550 erschienen sind. In diesen Ausschreiben wurden die rechtlichen und rechtstheologischen Argumente für den städtischen Widerstand formuliert. Außerdem dienten sie der innerstädtischen wie der reichsweiten publizistischen Selbstvergewisserung und Rechtfertigung, die deutlich religiös legitimiert war. So endet das letzte Ausschreiben mit dem Abdruck des ‚wehrhaften’ Psalmen 46 – der biblischen Grundlage für ‚Ein feste Burg‘.

Die Magdeburger Religionspublizistik wurde teilweise von den Predigern gemeinschaftlich verfasst, so vor allem die Confessio Magdeburgensis vom Frühjahr 1550, die „Geburtsurkunde der gnesiolutherischen Bewegung“ (Rudolf Keller, zitiert nach S. 176). Daneben erschienen zwei weitere Gemeinschaftsschreiben sowie ein Gebetsformular für die Magdeburger Gemeinde, die von Kaufmann jeweils in angemessener Weise auf wenigen Seiten vorgestellt werden.

Gewaltig ist Kaufmanns Darstellung einzelner Textsorten: Auf mehr als 200 Seiten präsentiert der Kirchenhistoriker insgesamt 16 Einzelanalysen, durch die sowohl die mediale als auch die argumentative Breite der Publizistik der „Herrgotts Kanzlei“ Profil gewinnt. Vorgestellt werden ein Dialog, eine Disputation, eine Gerichtsrede, eine Lehrbuchparodie, ein katechetisches Summarium, eine Predigt, eine Allegorie, eine Streitschrift, ein Sendbrief und eine Trostschrift mit jeweils aktuellem Bezug. Sodann drei Neudrucke von kirchenhistorischen Quellen aus der jüngeren Vergangenheit sowie Lutherflorilegien. Beendet wird dieses Kapitel mit einer Vorstellung von Liedern und illustrierten Flugblättern, die in einer umfangreichen Auswahl in guter Qualität abgedruckt sind (Anhang 4).

Hätte es Kaufmann nach dieser Ausbreitung des Materials bei einem kurzen Schlusswort und einer Zusammenfassung belassen, so wäre das völlig hinreichend gewesen. Darüber hinausgehend, legt er aber abschließend eine kulturgeschichtliche Synthese seiner Ausführungen vor, in der er eine „Konstruktion der prägenden Motive, der leitenden Grundannahmen, der Deutungsmatrix, die sich in der Magdeburger Publizistik ausspricht“ (S. 429), anstrebt. Er gruppiert das Schlusskapitel um die vier Themenfelder „Wirklichkeitshorizont“, „Selbstverständnis“, „Feinde“ und „Geschichte“. Dies resultiert in einer mentalitätsgeschichtlichen Analyse: „Die lutherische Reformation erscheint im Spiegel der mentalen Welt ihrer radikalen Erben in der Mitte des 16. Jahrhunderts als dezidiert apokalyptisches Phänomen. Die Reformation und ihr Ende waren für die Magdeburger nicht der Beginn einer ‚neuen Zeit’. Sie waren der Anfang vom Ende aller Zeit. Als widerstandsfähig hat sich der lutherische Protestantismus in Magdeburg erwiesen; geschichtsfähig aber konnte und wollte er eben aufgrund der Motive, die seine Widerstandsfähigkeit begründeten, nicht sein“ (S. 484).

Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel des Buches: Die zentrale Kategorie ist für Kaufmann die Selbstwahrnehmung der Magdeburger in ihrem Widerstand gegen Kaiser und Reich. Erst vor dem von Kaufmann ausgeführten apokalyptischen Horizont bekommt ihr Enthusiasmus seine sinnstiftende Dimension. Doch kann der Titel von Kaufmanns Buch auch in einer forschungsgeschichtlichen Perspektive interpretiert werden, denn mit dem Ende des Magdeburger Widerstands kommen die reichsstädtischen Reformationen zu einem Ende, so dass Kaufmanns Buch als ein umfangreiches Schlusswort zu einem schmalen Büchlein von 1962 gelesen werden kann. Auch dicke Bücher können groß sein.

Anmerkung:
1 Moeller, Bernd, Reichsstadt und Reformation, Gütersloh 1962; bearbeitete Neuausgabe Berlin 1987.

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