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Titel
Golo Mann - Instanz und Außenseiter. Eine Biographie


Autor(en)
Bitterli, Urs
Erschienen
Hamburg 2004: Kindler Verlag
Anzahl Seiten
708 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Stunz, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Golo Mann ließ sich nie auf die Rolle des Fachhistorikers festlegen; er war gleichzeitig auch Publizist, literarischer Schriftsteller und eine öffentliche Figur in Funk, Fernsehen und auf den Podien. Der emeritierte Zürcher Neuzeithistoriker Urs Bitterli hat nun eine voluminöse Monografie zu Golo Manns Leben vorgelegt, die im Wesentlichen Werkmonografie ist. Das Buch wendet sich an ein breites Publikum und schwimmt unwillkürlich auf der Medienwelle um die Familie Mann mit. Lohnt sich die Lektüre auch für Fachhistoriker?

Während im Feuilleton bereits moniert worden ist, dass Bitterlis Buch als Lebensbeschreibung Manns blass bleibe1, darf sich der Historiker darüber freuen, dass er sämtliche wichtigen Themenfelder von Golo Manns Schaffen vorgestellt und breit referiert bekommt – und dies mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat. Bitterli fasst Monografien, Sammelbände, Artikel und Kolumnen zusammen, erwähnt Briefwechsel und Auftragsarbeiten. Er gibt somit einen denkbar differenzierten Überblick über Manns Werk. Den Quellen, aus denen Mann schöpfte, ist Bitterli hingegen fast nie auf die Spur gegangen. Golo Mann bleibt auch hier scheinbar solitär. Die Stärke des Buches liegt demgegenüber in seiner fast buchhalterischen Fülle an Themen und Personen, die mit Leben und Schaffen Golo Manns verknüpft sind. Jede zweite Seite könnte man – „Kommentare zu dem und jenem“ (S. 537) – überschreiben mit: Golo Mann und Karl Marx, Heinrich Heine, Ricarda Huch, Henry Kissinger, Rolf Hochhuth, Friedrich Schiller, Arnold Toynbee, Konrad Adenauer, Adolf Hitler. Oder auch: Golo Mann und die Schweiz, die Europaidee, die Hessischen Rahmenrichtlinien, die APO, die Wiedervereinigung, der Kalte Krieg, die Oder-Neiße-Grenze, der Historikerstreit – die Liste ließe sich gleichsam ins Unendliche fortsetzen. Oft leitet Bitterli derlei Exkurse ein mit Wendungen wie: „Hier noch ein Wort zu [...]“ (S. 74). Dabei bleibt undurchsichtig, warum dieser Schlenker für das Verständnis nötig gewesen ist oder ob er nur „der lieben Ordnung halber“ (S. 285) geschah.

„Aber kehren wir zu Golo Mann zurück“ (S. 79): Die Biografie bekommt streckenweise Handbuchcharakter. Ein gründliches Lektorat und der Mut zur Lücke hätten gut getan, zumal sich mitunter wörtliche Wiederholungen einschleichen (S. 475, 501, 503, 508, 515) und Bitterli zahllose Absätze mit „wir erinnern uns“ beginnt. Bei denjenigen Themen, die nicht einfach durch Publikationen Golo Manns zu rekonstruieren sind, fasst sich Bitterli dagegen kurz: Kindheit, Jugend, Studium, hohes Alter. Über den jungen Heidelberger Studenten und dessen sozialistisches Engagement weiß er wenig zu sagen; auch weite Teile des Exils bleiben im Dunkeln. Dem Biografen ist es nicht gelungen, hier neue Quellen in anderen Überlieferungsrichtungen aufzuspüren. Golo Mann wird uns nicht anhand der wichtigsten Linien seiner intellektuellen Entwicklung nahe gebracht, sondern über die jeweiligen Texte und Korpora – was angesichts der schieren Masse dieser primären Quellen ermüdend ist und zu dem außergewöhnlichen Volumen des Buches geführt hat. Reflexion und Zuspitzung, brevitas im besten Sinne, kamen bei diesem Ansatz nicht zum Zug, und zwar auch deshalb nicht, weil Bitterli offenbar keinen methodischen Zugang zur Biografie als historiografischer Gattung gefunden hat, der eine höhere Argumentationsdichte ermöglicht hätte.

Bitterli hat versucht, Golo Manns Lebensweg nicht unter dem Paradigma des übermächtigen Vaters Thomas Mann zu schreiben; dies hat sich der Sohn selbst immer gewünscht, bestand er doch auf der Eigenständigkeit seines Schaffens. Bitterli blendet die Familiengeschichte zwar nicht aus, erwähnt sie aber arg beiläufig (S. 435-444). In dieser Biografie liebt Golo Mann nicht, pflegt keine Hobbys, besitzt kein Geld, kommt als Mensch nicht recht zum Vorschein. Seine homosexuellen Neigungen werden im Stil der 1950er-Jahre bagatellisiert (S. 19f.). Bitterli beraubt sich zudem wichtiger Perspektiven, wenn er Freundschaften wie zu Kai Köster oder den lateinamerikanischen Studenten unterschlägt und die Rückzugsräume der öffentlichen Person nicht ausleuchtet. Nur an einer Stelle erwähnt er kurz, dass auch Eitelkeit und Narzissmus (S. 237) hinter der Fassade des gravitätisch-griesgrämigen Golo Mann eine eminente Triebfeder für dessen Arbeiten waren. Wegen des Buchumfangs geht dem Leser das Verständnis dafür verloren, aus welchen biografischen Konstellationen heraus Mann sich der Geschichte zuwandte; er war ja ausgebildeter Philosoph und jahrelang mit dem Leben eines Collegelehrers in den USA zufrieden. Der Schritt zurück nach Europa und der Beginn von Manns eigentlichem Engagement – das mitnichten nur mit dem Tod des Vaters erklärt werden kann – erscheinen nicht recht nachvollziehbar. Dagegen ist Manns Verhältnis zu den USA sehr facettenreich dargestellt.

Dem Biografen ist es auch nicht ganz gelungen, Golo Mann in den Kontext seiner Zeit zu stellen und zu fragen, welche Bedürfnisse er mit seinen Publikationen und als Person des öffentlichen Lebens bedient hat: Die Rezeptionsgeschichte bleibt außen vor. Bitterli bietet jede Menge Hintergrundinformationen, allerdings ohne analytische Vertiefung. Beispielsweise fehlen Gedanken zum Verhältnis zwischen Mann und Sebastian Haffner, deren Lebensläufe als Emigranten sich trotz aller politischen Divergenz in vielen Punkten ähneln. Welche Rolle der Familienname als Legitimationschiffre spielte und wie sich Mann gerade durch Verweigerungsstrategien immer wieder ins Licht rückte, wird ebenfalls kaum deutlich. Warum verlangte die bundesdeutsche Öffentlichkeit in den 1960er- und 1970er-Jahren nach einem Golo Mann als „Instanz“? Welche Rolle spielte der Intellektuelle als Meinungsmacher und Impulsgeber, wer gab ihm ein Forum, welche Themen setzte er selbst? Dass Golo Mann trotz seines Engagements für Brandt und Strauß kein genuin politisch agierender Mensch war, lässt sich erahnen, wenn man die im Berner Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrten Tagebücher liest, in denen Unentschlossenheit und Zweifel dominieren.

Ein weiteres heikles Thema ist Golo Manns Verhältnis zur Geschichtswissenschaft. Sein „Wallenstein“ von 1971 stand als große und teilweise fiktionale Erzählung wie ein erratischer Block in der Disziplin, als die Sozialgeschichte ihre ersten Erfolge feierte. Eine eindeutige Stärke von Bitterlis Biografie liegt darin, dass er der Auseinandersetzung Manns mit der Fachdisziplin große Aufmerksamkeit schenkt (S. 244ff., 269-284 u.ö.). Golo Mann war auf mehreren Historikertagen geladen und in der öffentlichen Wahrnehmung laut einer Umfrage von 1978 „der bekannteste Historiker der Bundesrepublik“. Die Fachdisziplin hatte mit Mann dennoch ihre Probleme – er war nicht integrierbar, schlug die üblichen akademischen Regeln in den Wind und verfocht seine eigenen Zugriffe auf Geschichte: das Erzählen, die Biografie, die Geistesgeschichte (S. 182-200, 251-269). All das nahm sich wie eine Nachwirkung der Historiografie des 19. Jahrhunderts aus, von der sich Mann allerdings explizit distanzierte. Bitterli versäumt es auch nicht, die Kontroversen um Berufungen Manns auf Lehrstühle für Geschichte zu erläutern (S. 140-145).

Es wäre sicherlich der falsche Ansatz, aus der heutigen Perspektive zu fragen, wo die zukunftsweisenden Momente in Manns Art der Geschichtsschreibung lagen, wie dies jüngst im „SPIEGEL“ anklang.2 Stattdessen wäre es an der Zeit, die Geschichtsschreibung Golo Manns zu historisieren, seine Position in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu beschreiben (wie auf S. 285 angedeutet) und Kategorien zu finden, die diesen Erfolg erklären.3 Auf welche Resonanz konnten die oft auch ambivalenten und synthetischen Elemente in Manns Texten bauen? Bitterlis Andeutungen zur Medienpräsenz (S. 352f.) reichen hier nicht aus.

Der Biograf hält es mit Golo Mann und beurteilt seinen Gegenstand grundsätzlich wohlwollend – charakterisierende Adjektive wie „hübsch“ und „schön“ unterstreichen dies. Obwohl er mit seiner Kritik in vielen Einzelfragen nicht hinter dem Berg hält, mit Golo Mann auch ins Gericht geht und seinen eigenen Standpunkt en passant offen legt (S. 102, 332, 363, 374, 563 u.ö.), ist sein Ansatz kein historisch-kritischer, sondern eher ein chronistischer. Bitterli will „Informationen vorlegen und Kenntnisse vermitteln“, die „Spur des Lebens festhalten“ (S. 570f.). Gemessen an diesem Anspruch hat er seine Aufgabe erfüllt – sein Buch wird ein wichtiges Referenzwerk und ein nützlicher ‚Materiallieferant’ für die zukünftige Forschung sein.

Anmerkungen:
1 Kilb, Andreas, War nicht auch Helmut Schmidt musisch begabt?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2004, S. L 18.
2 Beyer, Susanne, Zauberers trotzig-treuer Erbe, in: SPIEGEL, 15.03.2004, S. 204ff.
3 Vgl. dazu auch die Rezension von Nolte, Paul, Der ewige Sohn, in: Literaturen Nr. 4/2004, S. 46f., sowie zur Rezeption generell: Stunz, Holger R.; Jonas, Klaus, Golo Mann. Leben und Werk. Chronik und Bibliographie (1929–2003), Wiesbaden 2004.

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