J. Kloosterhuis (Bearb.): Legendäre "lange Kerls"

Titel
Legendäre "lange Kerls". Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713-1740


Herausgeber
Kloosterhuis, Jürgen
Anzahl Seiten
XLVI, 706 S., koloriertes Frontispiz, 48 s/w Abb.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hochedlinger, Österreichisches Staatsarchiv Wien

Jürgen Kloosterhuis, Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, hat schon einmal mit einem monumentalen Regestenwerk („Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713-1803“, 2 Bde., Münster 1992) einen bis dahin zwar viel diskutierten, dabei aber bei näherem Hinsehen erstaunlich schlecht ausgeleuchteten Mythos der preußischen Militärgeschichte auf den harten Boden archivgestützter Tatsachenforschung zurückgeholt und so der zunehmenden Relativierung der seit Otto Büsch vorherrschenden These von der „sozialen Militarisierung“ Brandenburg-Preußens durch das „Kantonsystem“ reiche Quellennahrung gegeben.

Etwas mehr als ein Jahrzehnt später liegt nun ein weiterer, nicht minder gewaltiger Regestenband vor. Wieder ist es ein legenden- und anekdotenumwittertes Kapitel preußischer Heeresgeschichte, dem Kloosterhuis mit atemberaubender wissenschaftlicher Akribie zu Leibe rückt: das Königsregiment (Nr. 6) Friedrich Wilhelms I. von Preußen, insbesondere dessen I. Bataillon, die so genannten „Königsgrenadiere“, also die legendären „Langen Kerls“, wegen ihrer roten Hosen, roten Kamisole und roten Grenadiermützen auch als „Rotes Leibgrenadierbataillon“ bezeichnet.

Was gemeinhin als (militärisch wertloses) Spiegelbild der gerne parodierten marottenhaft-versponnenen Militärverliebtheit des Soldatenkönigs gilt, der bekanntlich horrende Handgeldsummen, ja wertvollstes Porzellan für gut gewachsene und große Rekruten hingab und bei Bedarf, dem Zeitstil folgend, auch zu unlauteren Werbemethoden greifen ließ, wird man unter der unbestechlichen Lupe Kloosterhuisischer Quellenforschung kaum noch als „Potsdamer Wachparade“ und bloße Soldatenspielerei abtun dürfen. Die „Potsdamer Riesengarde“ war beileibe keine Operetteneinheit, sondern vielmehr militärische Elite- und Experimentiertruppe, vom König als Regimentschef und Dauerträger der Regimentsuniform höchstselbst kritisch beäugt und liebevoll betreut.

Das Königsregiment (Nr. 6) entstand 1717 aus der Verschmelzung des Regiments zu Fuß Kronprinz mit den seit 1709 bestehenden Roten Grenadieren, wobei letztere das I. Bataillon, erstere die Bataillone II und III bildeten, und löste die luxuriösen Hofgarden König Friedrichs I. ab. Auch das neue Garderegiment, 1739 immerhin 3.669 Mann, verschlang freilich horrende Summen, die Friedrich Wilhelm nicht aus der Generalkriegskasse, sondern aus der Generaldomänenkasse bezahlte “weil ich doch in der Welt in nichts mehr Plaisir finde alß in einer guten Armée“. An die Stelle des glitterigen höfischen Luxus aus der Zeit des ersten Preußenkönigs trat nach 1713 die Körpergröße als geldverschlingendes Kriterium. Das rechte „Maß“ war keineswegs bloße Schrulle, sondern hatte – in allen Armeen der Zeit – einen durchaus praktischen Hintergrund: Von großgewachsenen Männern erwartete man eine bessere Handhabung der langen Feuergewehre.

Die Grenadiere des Königsregiments hatten wenigstens 6 Fuß (rheinländisches Maß), also etwas über 1,88 Meter, zu messen, in der Praxis musste man sich auch mit deutlich kleineren Rekruten bescheiden. Die echten „Riesen“ mit auch heute noch Eindruck gebietenden Körpergrößen von bis zu 2,17 Meter waren viel bestaunte Ausnahmen und fanden sich im 1. Glied der Leibkompanie des Königs bzw. unter den so genannten „Großen Unrangierten“ konzentriert. Spezialbeauftragte hielten europaweit die Augen nach solchen Hünen offen, und ausländische Potentaten wussten, dass sie sich bei Friedrich Wilhelm I. durch Überlassung ungewöhnlich großer Rekruten Liebkind machen konnten. Auf diese Weise kamen 1739 sogar im Russisch-Türkischen Krieg von 1736-1739 in russische Kriegsgefangenschaft geratene Türken in das Königsregiment.

Gerade diesen Riesen winkten – durchaus vergleichbar den Spitzensportlern unserer Tage – attraktive Sonderkonditionen, von denen der Durchschnittsgemeine in weniger renommierten Einheiten nur träumen konnte: extrem hohes Handgeld, die Gewährung eines zeitlich beschränkten Dienstvertrags („Kapitulation“), verschiedene Dienstprivilegien und schließlich nach Auslaufen der Dienstzeit die Aussicht auf eine lukrative Zivilversorgung.

Im Schnitt aber wurde das Königsregiment mit den allgemein üblichen Ergänzungsmethoden der Zeit im In- und Ausland rekrutiert: aus dem Kantonsystems und der mehr oder minder freiwilligen Selbstverpflichtung. Echte Werbeexzesse – Entführung und Gewaltanwendung – dürften gerade bei dieser Eliteeinheit eher die Ausnahme gewesen sein. Alles in allem wurde auf „nationale“ und konfessionelle Homogenität nichts gegeben. In den 1730er-Jahren war zwar mehr als die Hälfte der Regimentsangehörigen protestantisch, aber immerhin 34 Prozent bekannten sich zum katholischen Glauben, 8 Prozent waren Orthodoxe. Selbst die aktive Regimentsseelsorge – und das war zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich – trug diesem Umstand Rechnung.

Friedrich II. löste das Regiment nach seiner Thronbesteigung auf, die Soldaten wurden auf andere Einheiten verteilt, die Gardefunktion übernahm sein eigenes Kronprinzenregiment (Nr. 15), in dem jetzt ebenfalls Männer des väterlichen Königsregiments Aufnahme fanden. Einige „Riesen“ kamen im fridericianischen Hofstaat als „Haiducken“ in hungarisierenden Uniformen unter.

Man mag zunächst, zumal angesichts des erfrischenden, feuerwerksartigen Schreibstils des Bearbeiters (Einleitung, S. VII-XLVI), bedauern, dass keine Darstellung, sondern ein Regestenwerk vorgelegt wurde. Kloosterhuis gelingt aber eben auf diese Weise mehr als „nur“ die minutiöse Aufarbeitung einer „Regimentsgeschichte“: Er stellt einer „neuen“, überwiegend sozial- und alltagsgeschichtlich orientierten Militärgeschichte“, die im Falle Preußens durch die Vernichtung des Heeresarchivs Potsdam im Jahre 1945 übel behindert wird, reiches Quellenmaterial zu weiterer Verarbeitung bereit und bietet – fundgrubenartig – selbst jenem vieles, der sich für die Geschicke des Königsregiment nicht erwärmen kann. Kloosterhuis erbringt damit auch den überzeugenden Beweis für die andwendungsneutrale Zeitlosigkeit von Editionen und Regestenwerken.

Die dramatischen Archivverluste des Zweiten Weltkriegs kompensiert der Bearbeiter hauptsächlich durch die so genannten „Minütenbücher“ im Geheimen Staatsarchiv (Rep. 96), in denen ab 1728 der Auslauf des königlichen Zivilkabinetts kopialüberliefert ist, pro Jahr etwa 6.000 ausgehende Kabinettschreiben. Immerhin jeder 20. Eintrag, so berechnet Kloosterhuis, war dem Königsregiment gewidmet. Hinzu treten noch einige wenige erhaltene Offiziersranglisten und Rangierrollen des kompletten Regiments, verstreute Archivalienfunde, bereits im Druck vorliegendes, im Original aber vernichtetes Material sowie versteckt publizierte erzählende Quellen.

Das Quellenmaterial wird in Gestalt von 750 handwerklich mustergültig gearbeiteten ausführlichen Regesten präsentiert, besonders Wichtiges oder Außergewöhnliches in Volltranskription, und zwar übersichtlich in fünf Themenblöcke gegliedert: 1. Anwerbung und Übernahme von Rekruten (länderweise untergliedert). 2. Regiments- und Garnisonsverwaltung (z.B. Uniformierung, Bewaffnung, Ausrüstung, Militärmusik, Sanitätswesen). 3 Militärdienstleistung (Exerzieren, Desertion usw.). 4. Sozialmilieu (Familien, Gnadenakte und Zivilversorgung). 5. Auflösung und Neuformierung 1740.

Abgerundet wird das dichte Bild nicht nur durch einige Teilstatistiken etwa zu Körpergröße, Herkunft, den konfessionellen Verhältnissen oder ehelichen und unehelichen Geburten aus Soldatenfamilien, sondern auch durch einen schönen Abbildungsteil, in dem Jürgen Kloosterhuis die ebenfalls durch Kriegsverluste arg dezimierten Bildquellen zum Königsregiment erstmals komplett vereinigen konnte. Neben den bekannten Porträts einiger Riesengrenadiere, die Friedrich Wilhelm wohl nur der Legende nach selbst „in tormentis“ gemalt haben soll, finden sich hier auch makabre Abbildungen von zwei erhalten gebliebenen Grenadierskeletten (2,04 und 2,19m), die der Soldatenkönig der Anatomie stiftete.

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