Der ehemalige Bundesverfassungsrichter, Staatsrechtler und Verfassungshistoriker Ernst Wolfgang Böckenförde hat als engagierter Katholik in Aufsätzen vielfach zum Verhältnis von Staat und Kirche Stellung genommen. Der vorliegende Band bietet eine Auswahl hiervon zur erneuten Lektüre und Diskussion. Aufgenommen wurden 21 Beiträge, darunter ein Originalbeitrag und zwei Beträge in ergänzter bzw. überarbeiteter Fassung. Die Aufsätze wollen in ihrer Gesamtschau eine politisch-theologische Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland liefern. Alle Kapitel wurden von Böckenförde mit einer zeitgeschichtlich situierenden Einleitung versehen. Will man die Beiträge auf einen gemeinsamen Nenner bringen, so ist es die Frage nach dem Verhältnis von katholischer Kirche und neuzeitlichem demokratischen Rechtsstaat. Die Artikel wurden in einem Zeitraum von 45 Jahren aus kritischer Zeitgenossenschaft heraus geschrieben und können in ihrer Gesamtheit durchaus als Beiträge zur angestrebten politisch-theologischen Verfassungsgeschichte gelten. Gleichwohl fehlt den bloßen Nachdrucken aus heutiger Sicht mitunter die weiterführende Perspektive.
Hinter allen Aufsätzen steht die Frage, inwieweit sich eine Religionsgemeinschaft mit absolutem Wahrheitsanspruch wie die katholische Kirche in ein Gemeinwesen einfügt, das sich für die religiöse Wahrheitsfrage nicht interessiert. In seinem berühmten Aufsatz „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ von 1967 zeigt Böckenförde, wie sich der neuzeitliche Staat als Friedens- und Freiheitsordnung gerade durch die Ausklammerung der religiösen Wahrheitsfrage als Staatszweck konstituiert hat. Einen solchen Staat konnte die katholische Kirche nur schwer akzeptieren. Nach überkommener katholischer Lehre ist ein idealer Staat auch ein religiös geeinter, mit anderen Worten ein katholischer Staat. Hintergrund dieses Denkens ist die Vorstellung, dass nur die religiöse Wahrheit ein Existenzrecht habe, dem Irrtum und Unglauben aber kein Recht auf Dasein und Propaganda zustehe. Daher lehnte die Kirche alle bürgerlichen Freiheitsrechte ab, die auch der Unwahrheit Raum geben, allen voran die Meinungs- und besonders die Religionsfreiheit.
Diese Ansicht wurde erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) korrigiert: In der Erklärung „Dignitatis humanae“ hat das Konzil ein in der menschlichen Personenwürde wurzelndes Recht auf Religionsfreiheit anerkannt. Die alte Lehre, dass nur die Wahrheit ein Recht auf Existenz habe, wurde auf den Bereich der Moral begrenzt und galt jetzt nur noch für den einzelnen Menschen als sittliche, nicht aber als rechtliche Forderung. Diesem bedeutenden Vorgang sind die Beiträge „Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen“ und „Einleitung zur Textausgabe der Erklärung über die Religionsfreiheit“ gewidmet. Sie sind gerade für jüngere Leser eine erstaunliche Lektüre, da angesichts des heutigen Eintretens der Kirche für Demokratie und Menschenrechte eine früher ganz andere kirchliche Haltung kaum vermutet wird.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Wandlung in der kirchlichen Lehre ergeben sich drei Phasen des Staat-Kirche-Verhältnisses, denen sich Böckenfördes Aufsätze zuordnen lassen. Die erste Phase ist von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der konkreten Staatsform gekennzeichnet und reicht bis in die 1960er-Jahre hinein. Hier interessierte die Kirche nur, inwieweit der Staat für die Kirche wichtige und unaufgebbare Forderungen akzeptierte. Vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ Hitlers im Jahre 1933 zeigt Böckenförde eindrucksvoll, in welchem Ausmaß die Kirche das neue Regime offiziell begrüßt hat, da es nach kirchlicher Lehre naturrechtlich fundierte Forderungen kirchlich-religiösen Wirkens vor allem im Bereich der Schule zunächst bereitwilliger aufnahm als die demokratisch verfasste Weimarer Republik. Böckenfördes in der katholischen Zeitschrift „Hochland“ 1961 erschienener Aufsatz „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“ hat damals starke Reaktionen im kirchlichen Bereich ausgelöst, doch haben sich die sachlich vorgetragenen Fakten als historisch haltbar und richtig erwiesen. Die Fokussierung auf einige wenige kirchliche Forderungen, die der unbedingten Durchsetzung einer naturrechtlich fundierten Wahrheit entsprachen, hatte der Kirche zu Beginn des „Dritten Reiches“ den Blick auf das Ganze des Staatswesens verstellt.
Angesichts der jungen bundesrepublikanischen Demokratie fragt Böckenförde daher in seinem 1957 erschienenen Aufsatz „Das Ethos der modernen Demokratie“ nach dem Verhältnis der Kirche zu dieser neuen Staatsform, die als solche Frieden und Freiheit garantiert, wegen der politischen Willensbildung im Wege der Mehrheitsentscheidung aber die Durchsetzung für unabdingbar gehaltener kirchlicher Positionen manchmal unmöglich macht. Ist hier nun der einzelne Gläubige verpflichtet, eine bestimmte Partei zu meiden, bloß weil sie einzelne, kirchlicherseits abgelehnte Positionen vertritt, auch wenn sie in der Gesamtheit ihrer Politik für das Gemeinwesen eine bessere Politik zu machen verspricht, als eine Partei, die in besagten Fragen dem kirchlichen Standpunkt folgt? Böckenförde arbeitet in seinen Beiträgen die Problematik einer starren kirchlichen Lehre heraus, die letztlich unfähig ist, in einer Demokratie zu bestehen. Sie entmündigt zudem den einzelnen Gläubigen als politisches Subjekt und macht ihn zum bloßen Sprachrohr kirchlicher Positionen.
Dieses Problem war aber auch nach Anerkennung des neuzeitlichen Staates durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht behoben. Am Beispiel der Ende der 1960er-Jahre aufkommenden „(neuen) politischen Theologie“ diskutiert Böckenförde nun die zweite Möglichkeit, wie die Kirche dem Staat gegenüberstehen kann. Hier werden aus dem Glauben heraus konkrete politische Forderungen erhoben, und die Kirche wird selbst zu einer politischen Kraft gemacht. In den Beiträgen „Politisches Mandat der Kirche?“, „Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln“ sowie „Politische Theorie und politische Theologie“ hinterfragt Böckenförde den Versuch, aus der Offenbarung konkrete Politik abzuleiten. Wie schon in der früheren Phase der starren naturrechtlichen Wahrheitsdoktrin, so ist auch hier die Position der Kirche und des einzelnen Gläubigen im demokratischen Staat fraglich. Auch hier geht es darum, den Einzelnen nicht zum Vollstrecker einer theologischen Lehre im politischen Leben zu machen, sondern die Kirche auf ihren Verkündigungsauftrag zu beschränken und den einzelnen politisch handelnden Christen in seiner individuellen Verantwortung zu stärken. War in der ersten Phase ein „zu wenig“ an Einmischung in Staat und Politik zum Problem geworden, war es nun ein „zu viel“.
Schließlich beleuchtet Böckenförde die ab den 1980er-Jahren verstärkt zu beobachtende, weitgehend unkritische Identifizierung mit der geltenden Staats- und Gesellschaftsordnung im deutschen Katholizismus. Hier erörtert er vor dem Hintergrund der Verfassung die Rolle, die Religion im säkularen Staat spielen kann und soll, etwa in den Beiträgen „Ist der deutsche Katholizismus systemkonform?“ oder „Religion im säkularen Staat“. Böckenförde betont die Differenz zwischen Religionsgemeinschaft und Staat, die durch den Einzelnen, nicht aber durch die Religionsgemeinschaft als solche überwunden werden soll.
Böckenfördes Aufsätze entwerfen ein eindrucksvolles Panorama des Verhältnisses von Kirche und modernem Staat. Sie zeigen, wie wichtig ein ausgewogenes Verhältnis von beiden für den freiheitlichen Staat ist. Der Autor unterstreicht dabei die Notwendigkeit des Engagements von religiösen Menschen im Staat, vor allem zu dem Zweck, die im freiheitlichen Staat problematische Wertebasis zu sichern. Böckenförde hat dies in seinem wohl bekanntesten und am meisten zitierten Satz prägnant formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (S. 229) Hier darf und soll der Platz der Kirche sein. Abgelehnt wird aber die apodiktische Verordnung von konkretem politischem Verhalten durch die Amtskirche. Vielmehr soll das Problem der Wertebasis um der Freiheit willen im demokratischen Prozess selbst durch die Gläubigen als mündige Glieder der Kirche ausgehandelt werden.
Für jeden, der sich mit der Stellung von Religion im freiheitlichen Staat beschäftigt, bietet der Sammelband eine lohnende Lektüre, wenn auch die Aufsätze mitunter redundant sind (bis in die Belegstellen der Fußnoten). Eine stärkere Konzentration auf weniger Aufsätze wäre daher förderlich gewesen. In der gegenwärtigen Diskussion um die Verfassungskonformität des Islam verdienen Böckenfördes Arbeiten eine besondere Beachtung. Am Beispiel der katholischen Kirche werden diejenigen Kriterien deutlich, an denen eine Religionsgemeinschaft im demokratischen Gemeinwesen gemessen werden muss, wenn Friede und Freiheit gewahrt werden sollen. War diese Aufgabe in der Vergangenheit im Verhältnis der Konfessionen schon nicht einfach, so wird sie im Verhältnis zu einer anderen Religion wie dem Islam nicht einfacher.