Eine Geschichte der Deutschen auf 300 Seiten, die „das gesamte 20. Jahrhundert durchschreitet“, dabei „wissenschaftliche Standards erfüllt“ und zugleich „für ein breiteres Lesepublikum verfasst“ ist (S. IXf.), verdient Respekt vor dem Autor. Wer dieser wagemutige Verfasser aber ist, erschließt sich dem Leser nur auf Umwegen: Die Titelseite erhebt Edgar Wolfrum zum Alleinautor; der Innentitel stuft ihn zum Herausgeber herab, während die eigentlichen Autoren hier wie auch im Inhaltsverzeichnis namenlos bleiben und nur über ihren jeweiligen Abschnitten im Text bzw. im abschließenden Autorenverzeichnis genannt werden – eine schlechte Sitte des Verlages, der aus der Not der schwer verkäuflichen Sammelbände die Untugend einer Monografie als Mogelpackung gemacht hat.
Von Wolfrum selbst stammt die Einführung, die die Multiperspektivität des historischen Geschehens hervorhebt. Gegen die mitunter behauptete Geschlossenheit des 20. Jahrhunderts hält er das Konzept einer pluralen Parallelerzählung, die je nach Blickwinkel und Zugriff unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Jeweils ein Autor ist für die mit Weimarer Republik, NS-Zeit, DDR und Bundesrepublik bezeichneten Zeitabschnitte zuständig; die Darstellung selbst aber folgt einem systematischen Aufbau nach den Hauptabschnitten „Grundzüge der Politik“, „Kulturelle Trends“, „Wirtschaft und Konsum“ und „Mentalitätswandel“. In vier Anläufen führt sie die Beiträge der verschiedenen Autoren zusammen; ein fünfter Hauptabschnitt diskutiert zeitlich übergreifend die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert.
Eine weitere Vorentscheidung gilt dem Zeitrahmen: Das 20. Jahrhundert dieses Buches ist ein kurzes Jahrhundert, das mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg einsetzt und mit der deutschen (Wieder-)Vereinigung 1989/90 abschließt. Darstellungspragmatisch ist eine solche Eingrenzung nur zu begrüßen, aber sie verengt den Blick doch beträchtlich: Ist die Krisengeschichte Weimars ohne den engen Bezug zum Wilhelminischen Kaiserreich zu verstehen, das als Hypothek und Projektion das kurze Leben der ersten Demokratie begleitete, und ist der eigentliche Beginn der Krise der klassischen Moderne nicht eher 1914 oder 1916 als erst mit der Kriegsniederlage 1918 anzusetzen? Ebenso scheint in Bezug auf das Ende des 20. Jahrhunderts mit wachsendem Abstand immer weniger ausgemacht, ob der Untergang der SED-Diktatur die eigentliche Zäsur markierte oder ob sich das Jahr 1989 letztlich in die übergreifende Infragestellung und Krise des Sozialstaatskonzepts seit den 1970er-Jahren einfügt.
Ungeachtet solcher Rückfragen bleiben 1918 und 1989 natürlich plausible Eckdaten einer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zäsuren sind historiografische Hilfsmittel, und ihre Setzung ergibt sich aus den übergreifenden Fragestellungen, die die historische Erzählung leiten. Genau hier aber bleibt Wolfrums Einführung eine klare Antwort schuldig. Immerhin gibt der Titel des Buches eine markante Linie vor: Es geht den Autoren um die Deutschen, und die Geschichte, die sie schreiben, ist die eines erst in zwei Weltkriegen übersteigerten, dann auf vier Jahrzehnte mit Teilung geschlagenen und am Ende wiedervereinten Nationalstaats. Aus dieser Perspektive markiert die staatliche Vereinigung von 1989/90 in der Tat den versöhnenden Abschluss eines Jahrhunderts der Gegensätze. Aber inwieweit genügt diese Fixierung auf ein nationalstaatliches Modell den modernen Ansätzen der Geschichtswissenschaft, an die das vorliegende Werk anschließen will? Tatsächlich bleiben „Die Deutschen im 20. Jahrhundert“ von Europa und dem Prozess der europäischen Einigung auch in den der zweiten Jahrhunderthälfte gewidmeten Abschnitten weitgehend unberührt. Komparatistische Betrachtungen finden sich nur vereinzelt, und die Frage, was im Zeitalter von Massenmigration und Multikulturalismus eigentlich „die Deutschen“ definiert, bleibt ungestellt.
Dennoch bieten die einzelnen Beiträge des Buches eine insgesamt sehr anregende Lektüre. In seinem Auftaktkapitel des Abschnitts zu den Grundzügen der Politik im 20. Jahrhundert zeichnet Siegfried Weichlein die strukturelle Legitimationskrise nach, die zum Auftakt der Jahrhundertauseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie die Weimarer Republik scheitern ließ. Zu Recht betont er, dass die politische Identität der Republik immer prekär blieb, die konkurrierenden politischen Sozialmilieus gemeinsam auf Ab- und Ausschließung statt auf Integration bedacht waren und das Konzept des politischen Pluralismus seit 1930 keinen Rückhalt mehr besaß. Dieser einleuchtende Interpretationsansatz steht allerdings nicht ganz in Einklang mit Weichleins akteurszentriertem Gesamturteil, dass die Weimarer Republik „nicht an der inneren Widersprüchlichkeit irgendwelcher Ismen gescheitert [sei], sondern an benennbaren Interessen und Strategien“ (S. 13).
Den Eindruck der Uneinheitlichkeit verstärkt der Anschlussbeitrag von Daniela Münkel, der die von Weichlein entwickelte Fragestellung verlässt und die innere Verfassung der plebiszitären NS-Diktatur zwischen „Gewalt und Verführung“ (Hans-Ulrich Thamer) oder „Schauder und Idylle“ (Gudrun Brockhaus) ganz übergeht, um so die Analyse von Herrschaft und Integration im NS-Staat auf die einzelnen Spielarten seiner Ablehnung zu reduzieren. Die Herrschaftsebene kommt erst wieder mit Julia Angsters Beitrag über die Bundesrepublik ins Bild, der die einzelnen Schritte des Wegs in den Westen nachzeichnet: Der virulente Antikommunismus und Adenauers patriarchalisches Politikverständnis leiteten von einer nationalsozialistisch imprägnierten Gesellschaft in die Bundesrepublik über, die dann nicht erst „1968“, sondern schon ein knappes Jahrzehnt vorher in Bewegung geriet.
Der folgende Großabschnitt befasst sich mit kulturellen Trends des 20. Jahrhunderts. Auch hier sind die einzelnen Beiträge durchweg lesenswert, und sie führen gerade den fachlich nicht einschlägig bewanderten Leser zu einer differenzierenden Sicht. Aber die einzelnen Anläufe vergeben infolge der Anlage des Bandes die Chance der wechselseitigen Erhellung von Problemkonstellationen. So thematisiert Angster ausführlich (und leider ohne begriffliche Abgrenzung zu „Verwestlichung“ und „Modernisierung“) die kulturelle Amerikanisierung der Bundesrepublik, aber Wolles Folgebeitrag spart die nahe liegende Gegenfrage nach Anspruch und Wirklichkeit einer Sowjetisierung der DDR aus.
Ein weiterer Durchgang behandelt die Wirtschafts- und Konsumgeschichte des 20. Jahrhunderts vom „Inflationskonsens“ der frühen 1920er-Jahre über das vermeintliche „Rüstungswunder“ der NS-Zeit bis zur bundesdeutschen Wohlfahrtsgesellschaft, der dann reichlich plakativ der Weg der sozialistischen Ökonomie von der planberauschten Illusionswirtschaft in den betrügerischen Bankrott gegenübergestellt wird. Man muss kein Wirtschaftshistoriker sein, um hier etwas eingehendere Ausführungen zur komplementären Wirtschaftslage in Ost und West bis in die Mitte der 1950er-Jahre oder zu den scheiternden Reformansätzen der 1960er-Jahre zu vermissen. Auch die von Stefan Wolle vertretene Auffassung, dass der Untergang des SED-Staates sich primär aus der Unabwendbarkeit der ökonomischen Katastrophe herleite, wird dem heutigen Forschungsstand nicht gerecht.
Im anschließenden vierten Hauptabschnitt kommen unter dem Stichwort „Mentalitäten“ abermals Fragen der politischen Kultur in den Blick. Weichlein und Münkel lenken den Blick auf den „Hunger nach Sinn“ (S. 155), der von der Fragmentierung der Weimarer Gesellschaft geradewegs in die Ideologie und partielle Realität der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ führte. Der Folgebeitrag springt unvermittelt in den Wertewandel der mit der Chiffre „1968“ verbundenen bundesdeutschen Fundamentalliberalisierung, während Wolle mit der sozialistischen Utopie, dem gesamtdeutschen Anspruch und dem Westen als Feind- und Leitbild verschiedene Integrationsstrategien der DDR durchmustert.
Den Kontrapunkt zur unumgänglichen Sprunghaftigkeit dieser Einzelbetrachtungen setzt Winfried Speitkamp in einem fünften Abschnitt zur deutschen Erinnerungskultur im kurzen 20. Jahrhundert. Hier endlich ist das Format gegeben, um die übergreifenden diachronen und synchronen Perspektiven zum Tragen zu bringen, die die vorangegangenen Abschnitte von ihrer Anlage her nicht abbilden konnten. Allerdings nutzt auch Speitkamp diese Chance nicht konsequent. Er zeigt, wie die Erinnerungskultur der Weimarer Republik die Fragmentierung der Gesellschaft spiegelte und so eine negative Integrationsfunktion wahrnahm, indem sie sich wechselseitig ausschließende Erinnerungswelten schuf, während nach 1933 eine ideologische Versöhnung von Geschichte und Gegenwartspolitik stattfand, die den Kult der „Volksgemeinschaft“ mit historischen Versatzstücken anreicherte. Danach diskutiert Speitkamp aus allein bundesdeutscher Sicht die Nachkriegsentwicklung der NS-bezogenen Gedenkkultur, während die parallele Entwicklung im ostdeutschen Teilstaat hier nicht thematisiert wird. Der im doppelten Sinne geteilten Vergangenheit widmet sich dafür sehr erhellend ein eigenes Kapitel, das in eine Schlussbetrachtung zum Gegenwartswandel der deutschen Erinnerungskultur mündet.
Unvermeidlich unterlaufen bei einer so breit angelegten Darstellung Ungenauigkeiten und Irrtümer, erscheinen Auswahlentscheidungen unplausibel und Gewichtungen problematisch. Dass in der Weimarer Republik Ossietzky mit seiner „Weltbühne“ „die äußerste Linke“ und der Rapallovertrag den deutlichsten Ausdruck der deutschen Machtpolitik im Osten verkörpert hätten (S. 8, 6), wird man ebensowenig unterschreiben wollen wie die Behauptung, dass die bundesdeutsche Architektur in ihrer Abgrenzung von einem bombastischen NS-Stil nicht auf Weimarer Vorbilder zurückgegriffen habe (S. 81). Die beigefügte Chronologie wirkt mitunter etwas eigenwillig – wenn beispielsweise der Amtsantritt Gorbatschows 1985 aufgeführt wird, aber der Tod Stalins 1953 fehlt, oder wenn für 1997 allein die Berliner Love-Parade und für 2000 nur das Erscheinen von Norman Finkelsteins Buch „Die Holocaust-Industrie“ für erwähnenswert gehalten werden (S. 291ff.).
Wesentlicher als solche Details ist die Frage nach dem Gesamtcharakter der behandelten Epoche. Die gewählte Darstellungsform, die den Gegenstand in zahlreiche einzelne Anläufe auf unterschiedlichen Ebenen zerlegt, wird dem von Wolfrum formulierten Anspruch gerecht, statt einer einheitlichen Meistererzählung lieber ein „anschauliches, weit aufgefächertes, mannigfaches Gesamtbild“ zu bieten (S. X). Aber damit verschenkt das Buch auch zu einem Gutteil die Möglichkeit, große Linien zu markieren und das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in säkularer Perspektive zu diskutieren.