J. Cañizares Esguerra: How to write the History of the New World

Titel
How to write the History of the New World. Histories, Epistemologies, and Identities in the Eighteenth-Century Atlantic World


Autor(en)
Cañizares Esguerra, Jorge
Erschienen
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
$ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Haußer, Stuttgart

Zu den beständigsten Forschungsgegenständen der europäisch-amerikanischen Geschichte gehört die Verarbeitung der amerikanischen Erfahrung. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die geistige Auseinandersetzung mit dem Doppelkontinent den Prozess der oftmals gewaltsamen Inbesitznahme Amerikas von Anfang an begleitet hat. Seit der Landung von Spaniern und Portugiesen war eine Flut von Amerika-Literatur entstanden, die von den neu entdeckten Gebieten berichtete. Literarische Darstellungen Amerikas hatten das Ziel, dem europäischen Leser bislang Unbekanntes zu vermitteln, damit aber zugleich auch den Grundstein für eine anhaltende Kontroverse um die richtige Deutung der neuen Erfahrung gelegt. In der frühen Kolonialzeit waren Amerika und seine Bewohner eine Herausforderung, der im Modus imperialer Aneignung begegnet wurde. Erst im 18. Jahrhundert wurden Amerika und Europa zunehmend einander gegenüber gestellt und ihr Verhältnis überhaupt zu einem Problem. Wie auch immer dieses Verhältnis gedeutet wurde, so hatte doch die Bestimmung der einen Seite des Atlantiks in der jeweils anderen Seite ihren Bezugspunkt. Antonello Gerbis großangelegte Studie zur Verortung Amerikas im 18. und 19. Jahrhundert hat diesen ‚Streit um die Neue Welt‘, dessen gemeinsame Grundlage ein europäisch geprägter geistiger Horizont war, detailliert nachvollzogen. Ohne bisher die gebührende Beachtung zu finden, kam in diesem Streit der Geschichtsschreibung eine prominente Rolle zu. Hier setzt die gedankenreiche, von der Vereinigung amerikanischer Historiker zweifach ausgezeichnete Studie von Jorge Cañizares-Esguerra ein.

Allein schon mit der Wahl seines Gegenstandes weist Cañizares-Esguerra darauf hin, dass hier Pionierarbeit geleistet wird. Die Forschung zur spanischsprachigen Geschichtsschreibung hat sich bislang auf die Rolle der Geschichte im Kontext der entstehenden Nationalstaaten in Spanien und Hispanoamerika in der Kolonialzeit, besonders aber im 19. Jahrhundert, konzentriert. Die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor bestehende Vernachlässigung der spanischsprachigen Historiografiegeschichte im 18. Jahrhundert kontrastiert dabei, wie der Autor in seiner Einleitung treffend fest stellt, mit dem Wert, welcher von den Zeitgenossen einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden historiografischen Darstellung der amerikanischen Besitzungen beigemessen wurde. In diesen Werken ist nicht zuletzt das Ergebnis einer ausführlichen Verständigung über die methodischen Grundlagen der Geschichtsschreibung zu sehen, sodass Cañizares-Esguerra in der Frage: How to write the history of the New World?, die dem Buch seinen Titel gibt, die wissenschaftsgeschichtliche Ebene mit der Polemik um die Neue Welt im 18. Jahrhundert verknüpft.

Die von ihm gestellte Frage beantwortet der Autor in fünf Kapiteln. Das erste Kapitel beschreibt, wie vor den Ansprüchen der Aufklärung mit ihrem kritischem Vermögen die bis dahin gültigen Grundlagen der spanischen Geschichtschreibung erodierten. Die Schriften aus spanischer Feder, die bis ins 17. Jahrhundert von der Neuen Welt und ihren Bewohnern handelten, entsprachen nicht mehr einer aufgeklärten Zeit, deren wissenschaftliche Ansprüche im Begriff der ‚Philosophie‘ zum Maß auch der Geschichtsschreibung wurde. Cañizares-Esguerra erklärt den Autoritätsverlust der ersten Berichte aus der Neuen Welt, von denen viele aus dem Spanischen auch in andere europäische Sprachen übertragen worden waren, mit den neuartigen Anforderungen an die innere Konsistenz von Quellen und an ihre Vereinbarkeit mit dem neuesten Wissensstand. Das zweite Kapitel fährt fort zu zeigen, wie die Glaubwürdigkeit jener Quellen, welche bis dahin die unbestrittene Grundlage historischer Darstellungen bildeten, wie etwa die Schriftzeichen der mittelamerikanischen Hochkulturen oder die von den Spaniern aufgezeichneten mündlichen Berichte der Indianer, zunehmend in Zweifel gezogen wurden. Hierzu trugen vor allem Erörterungen zur Schriftlichkeit des Menschen bei, in der der Höhepunkt der Geistesentwicklung gesehen wurde und zu der Symbole oder mündliche Überlieferungen allenfalls eine wenig glaubwürdige Vorstufe bildeten. Dies führte letztendlich dazu, dass mit den Quellen auch die Darstellungen, die auf ihnen aufbauten, in Frage gestellt wurden.

Nachdem der Autor in den ersten beiden Kapiteln in aller Breite jene Konstellation vorstellt hat, die den historiografischen Wandel in Europa und damit auch in Spanien vorbereitet hat, nimmt das Werk im Folgenden an Fahrt auf. In einem dritten Schritt zeigt Cañizares-Esguerra, wie sehr die Diskussion, die einer neuartigen, erst noch anzufertigenden Geschichte der amerikanischen Besitzungen voraus ging, von den neuartigen Anforderungen geprägt war. Der dem Indienrat unterbreitete Vorschlag von Lorenzo Boturini Benaduci, eine neue Geschichte Spanisch-Amerikas zu schreiben, wurde wohlwollend aufgenommen. Dass die anvisierte Geschichte trotzdem nie das Licht der Welt erblickte, lag aber nicht an einem spanischen Obskurantismus, sondern an einem vermeintlichen Nebenschauplatz, nämlich an Benaducis These von dem mond- und nicht sonnenbasierten Kalender der Inka. Benaducis Beharren auf dieser als absurd angesehenen Behauptung zog letztlich seine wissenschaftliche Seriosität in Zweifel und ließ ihn die offizielle Unterstützung verlieren. Die Anfertigung einer Geschichte der überseeischen Besitzungen ging bald in die Hände der hierfür gegründeten Königlichen Akademie der Geschichte über. In ihren Methodendiskussionen waren sich die Mitglieder der Akademie weitgehend darüber einig, dass diese Geschichte von Grund auf neu sein musste und sich nicht mehr auf die Chronisten vergangener Jahrhunderte und noch weniger auf fragwürdige und schwierig zu deutende indianische Quellen verlassen sollte. Weil viele andere Quellen nach wie vor kaum erfasst und zugänglich waren, stellten die Akademiemitglieder als Grundlage für drei naturgeschichtliche Werke und die Geschichten der vier Reichsteile der Karibik, Mexikos, Perus und der Philippinen einen umfangreichen Katalog aller zu sammelnden Dokumente zusammen.

Bald zeigte sich aber, dass die Akademie sich mit dieser Herkulesaufgabe übernommen hatte, zumal sie nicht auf die Unterstützung des Indienrates, in dessen Archiv das Wissen über die überseeischen Besitzungen gespeichert war, zählen konnte. Auch der Plan, Robertsons ‚Geschichte Amerikas‘ aus dem Englischen ins Spanische zu übersetzen, scheiterte, nachdem eine Rezension des Werkes dessen schwache empirische Fundierung und antispanische Grundhaltung aufgezeigt hatte. Nachdem das ersehnte Geschichtswerk auf der Grundlage eines methodischen und damit auch interpretatorischen Neuansatzes immer noch nicht vorlag, wurde auf Betreiben von Juan Bautista Muñoz das Indienarchiv gegründet. Erst durch die Veröffentlichung umfangreicher Dokumentenbestände und deren kritische Begutachtung sei es möglich, eine wahre und zugleich patriotische Geschichte zu schreiben, die die Anfeindungen der Gegner Spaniens ein für allemal widerlegen konnte. Dass Amerikaspanier zu einer solchen Geschichte die wichtigsten Beiträge geleistet haben, zeigt das vierte Kapitel. Cañizares-Esguerra schließt sich hier gängigen Interpretationen an, die in den Arbeiten amerikaspanischer Autoren ein Bewusstsein amerikanischer Eigenständigkeit wirksam sahen, das trotz seiner vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts abweichenden politischen Vorstellungen die Bildung unabhängiger Nationen bereits angekündigt hätte. In diesem Sinne stellt er die wichtigsten Quellensammlungen und Geschichten der späten Kolonialzeit aus der Feder von Eguren, Veytia, Gálvez (ein Verwandter des Indienministers und Reformers), Clavijero, Velasco, und Molina vor. Mit der Aufwertung der von ihnen beschriebenen Regionen und ihrer Vergangenheit ging ein gesteigertes methodisches Bewusstsein einher, welches ältere Quellen und Darstellungen zwar nicht grundsätzlich ablehnte, aber den Umgang mit ihnen einer strengen Prüfung unterzog und zugleich zeigt, dass der Streit um die Neue Welt von hispanoamerikanischer Seite auf einem höheren theoretischen Niveau geführt wurde, als von nordamerikanischen Gesinnungsgenossen wie Jefferson, Hamilton oder Franklin. Eine Vorstellung der Kontroversen zur Deutung und Verlässlichkeit indianischer Schriftzeichen und Ruinen veranschaulichen im abschließenden Kapitel noch einmal die These von einer, wie der Autor es nennt, „patriotischen Epistemologie“.

In der Arbeit von Cañizares-Esguerra ist Wissenschaftsgeschichte und Geistesgeschichte auf gelungene Weise miteinander verknüpft. Dabei werden beide Dimensionen nicht immer in dem gebotenen Maß ausgeleuchtet. Der neuzeitliche historiografische Wandel in Europa, der die Entwicklung hin zum aufklärerischen Geschichtsdenken und zu dessen methodischen Ansprüchen kennzeichnet und den Rahmen auch für den spanischsprachigen Raum abgibt, bleibt unscharf und allenfalls in wenig aussagekräftigen Epochenzuschreibungen und Namensnennungen präsent. Weil Cañizares-Esguerra auf diesen weiteren historiografiegeschichtlichen Hintergrund kaum eingeht und sich ganz auf den hispanischen Raum beschränkt, kann es auch nicht erstaunen, dass er die Verwendung schriftlicher Quellen als Grundlage der Geschichtsschreibung, die bereits im 17. Jahrhundert historiografisches Gemeingut geworden war, mit der historischen Forschung, wie sie das 19. Jahrhundert entworfen hatte, gleichsetzt und so zu dem Schluss kommt, die spanischsprachige Geschichtsschreibung habe bereits vor Ranke moderner Wissenschaftlichkeit gehuldigt. Die Geschichtsschreibung im spanischen Reich, wo aufklärerische Wissenschaftsanforderungen zu einer besonderen historiografischen Blüte geführt haben, war damit jedoch weder rückständig noch wissenschaftliche Vorhut, vielmehr, wie der Autor ja selbst überzeugend darlegt, ganz auf der Höhe ihrer Zeit. Ähnlich unklar bleibt auch das Verhältnis von Patriotismus und Quellenkritik. War es nun die Quellenkritik, die einer Neuinterpretation des spanischen Wirkens in Amerika vorgearbeitet hat oder umgekehrt die Abwehr gegen die Anfechtungen ausländischer Autoren, die zu einer wissenschaftlichen Erneuerung führte? Überhaupt scheint sich der Autor, was die Rolle des Patriotismus angeht, nicht ganz sicher zu sein. Die Behauptung, dass neue, vermeintlich aus Nordeuropa herangetragene Methoden die intensive historiografische Debatte in Spanien beeinflussten, trägt wenig zur Erhellung bei. Die hispanische Geschichtsschreibung war nicht nur offen für Einflüsse aus einem vage bestimmten Nordeuropa, sondern wendete sich darüber hinaus mit ihrer Kritik an vielen frühneuzeitlichen Quellen sowohl gegen deren spanische Verfasser, wie auch gegen die schwache empirische Grundlage spanischer und ausländischer Historiker, deren Darstellungen auf diesen Quellen aufbauten. Die Kritik ließe sich also nicht allein als eine bloß patriotisch motivierte lesen, sondern als eine an überholten wissenschaftlichen Standards. Auch auf der inhaltlichen Ebene lässt sich die historiografische Erwiderung antispanischer Anfeindungen mit Patriotismus keineswegs erschöpfend erklären. Hier war ein gemeinschaftliches, europa- und amerikaspanisches Bewusstsein am Werk, welches jedoch wiederum in den größeren, panamerikanischen Zusammenhang des auch innerhalb Europas selbst durchaus umstrittenen Problems des Verhältnisses von Alter und Neuer Welt gehört.

Gleichwohl ist Cañizares-Esguerra, indem er Historiografiegeschichte als Wissenschaftsgeschichte versteht, eine wichtige Arbeit gelungen, die als allererste Referenz nicht nur für die historiografiegeschichtliche Forschung und die Beschäftigung mit der Aufklärung im iberoamerikanischen Raum gelten muss. Das eigentliche Verdienst der Arbeit besteht im Verweis auf die Art und Weise, wie die Debatte um die Neue Welt von spanischer Seite aus geführt wurde. Indem Cañizares-Esguerra auf der wissenschaftsgeschichtlichen Ebene den hispanoamerikanischen Raum in einen größeren, gesamtatlantischen Horizont zurückholt, stellt er die Trennung Europas von Amerika, die im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend von der Gegenüberstellung von nordatlantischer Modernität und einem rückständigen iberischen oder lateinamerikanischen Raum überlagert wurde, auf überzeugende Weise in Frage. So ist dem Autor nicht nur eine sehr gute Studie über die herausragende Rolle der spanischsprachigen Geschichtsschreibung im Streit um die Neue Welt gelungen, sondern auch ein Beitrag zu diesem selbst. Man muss dabei dem Bekenntnis des Autors zu postkolonialen Theoremen nicht folgen, um die Grenzen, die bis heute noch vielfach die geistige Landschaft auch der Geschichtsforschung prägen, hinter sich zu lassen.

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