„Die Landwirtschaft gehört zu den Wirtschaftsbereichen, über die in der Öffentlichkeit am meisten gestritten wird.“ Mit diesem Satz eröffnet Ulrich Kluge seinen Abriss von mehr als einhundert Jahren ländlicher Geschichte und setzt damit zugleich den Rahmen für die weiteren Ausführungen. Tatsächlich befand sich die deutsche Agrarwirtschaft im 20. Jahrhundert in einem wachsenden Spannungsfeld zwischen betrieblicher Eigenverantwortung und staatlicher Intervention. Die Interessengegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Produzenten und Konsumenten waren keineswegs neu, doch sollten sie die Entwicklung wie kaum zuvor prägen. Mit offenkundiger Sympathie für das Thema und geschliffener Feder unternimmt es der Verfasser, die jeweils wesentlichen Entwicklungspfade herauszuarbeiten und so einen detaillierten Einblick in ein wechselvolles Kapitel deutscher Agrargeschichte zu gewähren. Hierin spiegelt sich nicht zuletzt das allgemein gestiegene Interesse an agrarhistorischen Fragestellungen, das in den letzten Jahren einen erfreulichen Aufschwung erlebt hat.1
Ausgangspunkt der Betrachtung bilden die rasanten Produktionszuwächse seit den 1880er-Jahren, die bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges anhalten sollten. Mit den Steigerungen einher ging eine wesentliche Verschiebung der ökonomischen Gewichtungen, denn neben den landwirtschaftlichen Großbetrieben erlangte nun die klein- und mittelbäuerliche Veredlungswirtschaft immer mehr an Bedeutung. Die zunehmende Abwanderung von Arbeitskräften in die industrielle Produktion traf vor allem die großflächigen Gutsbetriebe mit ihrer Abhängigkeit von der Lohnarbeit, die zudem unter dem immer schärferen Preisverfall von Getreide am Weltmarkt litten. Dieser Preisverfall wurde durch das spürbare Absinken der aufzuwendenden Kosten für Betriebsmittel zum Teil wieder aufgefangen – doch auch dieses Phänomen kam vor allem jenen Betrieben zugute, die sich der Veredlungswirtschaft verschrieben hatten. Die Folge war eine zunehmende Verschuldung der großen Betriebe; Versuche, diesem Trend durch eine entsprechende Zollpolitik zu begegnen, scheiterten. Auch das staatlich propagierte Ziel von der landwirtschaftlichen Autarkie – das unter wechselnden Vorzeichen über weite Teile des Jahrhunderts hinweg seine Gültigkeit behalten sollte – wurde verfehlt.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zeigte sich die Abhängigkeit vom Weltmarkt in aller Deutlichkeit. Deutschland, das bis zu 20 Prozent auf Zufuhr an Nahrungsgütern und Futtermitteln angewiesen war, wurde durch Blockaden und ausbleibende Importe empfindlich getroffen. Probleme innerhalb des Produktionsprozesses, die bisher durch die positive Entwicklung verdeckt worden waren, traten nun offen zutage. Der Mangel an hochwertigen Betriebsmitteln jeglicher Art führte zu immer neuen Engpässen. In den vorangegangenen Jahren hatte der Konsum hochwertiger Nahrungsmittel zunehmend an Bedeutung gewonnen, nun geriet die öffentliche Versorgung allgemein immer mehr ins Hintertreffen. Der Preis verlor als regulierendes Element seine Schlüsselstellung, und da nachhaltige Konzepte für den Umgang mit der Krisensituation fehlten, übten sich die staatlichen Behörden in der Verwaltung der Not. Den vielfältigen Problemen war damit nicht zu begegnen, eine drastische Einschränkung des Lebensmittelkonsums folgte daraus ebenso zwingend wie ein wachsender Modernisierungsrückstand.
„Die Mehrheit der deutschen Bauern beteiligte sich nicht am Sturz der Monarchie und an der Errichtung demokratischer Verhältnisse. Von der Republik erwarteten sie die umgehende Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse.“ (S. 14) Doch aufgrund der weitreichenden Folgen des Krieges blieb eine nachhaltige Stabilisierung aus. Erst zehn Jahre später sollte die Agrarwirtschaft in ihrer Gesamtheit wieder das Niveau des Vorkriegsstandes erreichen. Auch die unternehmerische Freiheit blieb eingeschränkt, staatliche Preiskontrollen sollten vor allem die hinreichende Versorgung der städtischen Bevölkerung sichern. Trotz einer Konsolidierungsphase Mitte der 1920er-Jahre konnte die ländliche Bevölkerung in ihrer Mehrheit so kaum für die Republik von Weimar eingenommen werden. Das galt umso mehr, als sich mit dem tiefen Fall der Weizenpreise auf dem Weltmarkt bereits 1927/28 neue Verwerfungen ankündigten. Der Wiederaufbau der deutschen Landwirtschaft, der auf krisenanfälligen Krediten beruhte, war noch nicht abgeschlossen, als die Weltwirtschaftskrise ihre ersten Höhepunkte erreichte. Wiederum schlugen stattliche Interventionen fehl, nicht zuletzt, weil etwa die Hälfte der ergriffenen Stützungsmaßnahmen den maroden Großbetrieben zugute kam. Das war politisch gewollt, ökonomisch jedoch höchst schädlich. Radikalisierungstendenzen unter der ländlichen Bevölkerung waren daher kaum zu vermeiden, ländliche Massenproteste die Folge.
Derartige Proteste wusste der Nationalsozialismus zu instrumentalisieren. Selbst ohne ein Agrarprogramm angetreten, das einen solchen Namen verdient hätte, erschien die massive Protegierung der bäuerlichen Landwirtschaft der Mehrheit der Produzenten doch als probates Mittel, um aus der langjährigen Misere herauszuführen. Über Hintergründe und Auswirkungen der nationalsozialistischen Agrarpolitik ist in den vergangenen Jahrzehnten überdurchschnittlich viel geforscht und geschrieben worden 2, daher sei an dieser Stelle lediglich daran erinnert, dass nur die bedingungslose Ausplünderung der besetzten Gebiete einen Zusammenbruch der deutschen Ernährungswirtschaft verhinderte. Allein 45 Prozent des Bedarfs an Brotgetreide wurde dort, mehrheitlich durch Zwangsarbeit, erwirtschaftet. Nur das Kriegsende, so das Fazit des Autors, „kam einer umfassenden Hungerkatastrophe und einem möglichen Stimmungsumschwung hungernder Bevölkerungsteile gegen das Regime zuvor“ (S. 34).
Mit dem Jahr 1945 begann eine neue, nun geteilte Entwicklung der deutschen Agrarwirtschaft. Während in der Bundesrepublik das Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebes bei allem Wandel prinzipiell seine Gültigkeit behalten sollte, rückten in der DDR zunehmend andere Faktoren in den Vordergrund. Am Beispiel der Sowjetunion orientiert, erfolgte hier eine mehrstufige Transformation, deren Ziel großflächige Strukturen waren. Damit sollte abermals die weitgehende Autarkie der landwirtschaftlichen Produktion erreicht werden, abermals scheiterten derartige Ansprüche. Bei aller Unterschiedlichkeit der Entwicklungspfade hatte die Landwirtschaft in West- wie Ostdeutschland mit ähnlichen Problemen zu kämpfen: hoher Kapitaleinsatz, überdurchschnittliche Abwanderung der Arbeitskräfte, Entagrarisierung der Dörfer, Bürokratisierung der Produktion, Verfall der Weltmarktpreise, Einkommensdisparitäten zwischen Landwirtschaft und Industrie, zunehmende Wertschöpfung aus staatlichen Subventionen und vieles andere mehr. Die Folge war eine rasante Intensivierung der Produktion: „Die westdeutsche und die sozialistische Agrarpolitik unterschieden sich in den Wegen zur Intensivlandwirtschaft, jedoch nicht in der Wachstumsideologie.“ (S. 45) Doch bei aller Kritik am (west-)europäischen Agrarmarkt, die der Verfasser in extenso ausbreitet, bleibt festzuhalten, dass vor allem die ostdeutsche Agrarwirtschaft sich nicht zuletzt wegen der politisch gesetzten Rahmenbedingungen unfähig zeigte, auf die anschwellenden Herausforderungen zu reagieren. Die Folgen waren weitreichend. Als Ergebnis der Vereinigung beider deutscher Staaten sollten mehr als 80 Prozent der etwa 850.000 Beschäftigten der DDR-Landwirtschaft ihre Anstellung verlieren; die Ursache dafür ist vor allem im wachsenden Modernisierungsrückstand zu suchen, dem die dortige Agrarwirtschaft zunehmend anheim gefallen war.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts sehen sich (agrarische) Wirtschaft und Gesellschaft mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören nicht zuletzt „die gefährdete Nahrungssicherheit durch Tierseuchen und genmanipulierte Pflanzen, die stecken gebliebene EU-Agrarreform, die Blockbildung auf dem Weltagrarmarkt sowie der spannungsreiche Strukturwandel der deutschen Landwirtschaft“ (S. 49). Der Verfasser erörtert die damit verbundenen Gefahren in aller Ausführlichkeit und zeichnet ein wenig hoffnungsfrohes Bild von der Zukunft der agrarischen Produktion. Besondere Bedeutung für die zukünftige Entwicklung misst er unter anderem der Agrargeschichtsschreibung zu, die wieder mehr Einfluss auf die Politik gewinnen müsse. Erst dann „erhielte der komplexe Wandel seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Sinn“ (S. 114). Es bleibt abzuwarten, ob die historische Zunft diesem Anspruch gerecht werden kann und will.
Insgesamt hat Ulrich Kluge mit seinem Überblick über mehr als einhundert Jahre landwirtschaftlicher Entwicklung in Deutschland eine gut lesbare Einführung vorgelegt, die durchaus geeignet ist, sich mit den Grundlagen des Themas vertraut zu machen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf agrarökonomischen Aspekten, sozial- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen fallen demgegenüber deutlich zurück. Anzutreffende Vereinfachungen sind nicht zuletzt dem begrenzt zur Verfügung stehenden Raum geschuldet, doch wäre an manchen Stellen etwas mehr Differenzierung zu wünschen gewesen. So vermag die einseitige Orientierung auf bäuerliche Betriebsmodelle als nahezu alleiniger Ausweg aus den wechselnden Krisen nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen. Weitere Kritik ist in einzelnen Punkten angebracht, doch kann dies den positiven Gesamtbefund kaum schmälern. Wer immer sich für die agrarhistorische Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert interessiert, findet hier einen verlässlichen Leitfaden. Die kritische Evaluierung des Forschungsstandes und die umfangreichen Literaturhinweise, die den Band in bewährter Manier ergänzen, erweisen sich dabei als überaus hilfreich.
Anmerkungen:
1 Bruckmüller, Ernst; Langthaler, Ernst; Redl, Josef (Hgg.), Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich, Innsbruck 2004.
2 Vgl. als umfassendste, wenn auch in vielfacher Hinsicht nicht unproblematische Darstellung Corni, Gustavo; Gies, Horst, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.