Die mit dem Werner-Hahlweg-Preis ausgezeichnete Dissertationsschrift von Klaus Jochen Arnold stellt die Forschung zur Wehrmacht im Ostkrieg auf eine neue Grundlage. Dies liegt zum einen an der äußerst umfangreichen Auswertung der Quellen, vornehmlich aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Zum anderen an der mit großer Sorgfalt betriebenen Quellenkritik und an dem multifaktoriellen Zugriff auf das Thema. Damit überwindet Arnold die in der Forschung zu Recht beklagte perspektivische Verengung auf die Wehrmacht im „Unternehmen Barbarossa“. Anders ausgedrückt, Arnold gibt dem Feldzug gegen die Sowjetunion den Charakter eines sich reziprok brutalisierenden und radikalisierenden Krieges zurück. Dies geschieht in sechs Großkapiteln zur Vorbereitung des Angriffs, Radikalisierung der Besatzungspolitik, Ausbeutungspolitik, zum Massensterben der Kriegsgefangenen, zur Partisanenbekämpfung und der Beteiligung der Wehrmacht am Judenmord. Dabei werden retardierende Momente ebenso einbezogen wie die sich polykratisch vollziehende intentionale Radikalisierung.
Arnold beginnt seine Studie eher traditionell mit den strategischen Planungen für das „Unternehmen Barbarossa“. Gegen die Auffassung von Politikern (Göring, Funk, von Krosigk) und Militärs (im OKW, OKH, Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt) setzte der Blitzkriegsieger von Frankreich nach dem gescheiterten Ausgleichsversuch mit England von 1940 auf die Option des Ostkrieges. Wehrwirtschaftliche, strategische und ideologische Momente waren in dieser Entschlussfassung verschränkt. Fatalerweise wurden vor Beginn des Feldzuges schon die Weichen in Richtung eines brutalen Weltanschauungskrieges gestellt: mit dem „Wagner-Heydrich-Abkommen“ vom 28. April 1941, Hitlers „Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit“ vom 13. Mai 1941 und den „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ vom 6. Juni 1941. In ersterem wurde die Zusammenarbeit von Wehrmacht, SD und Sipo geregelt, wobei sich Generalquartiermeister Wagner die Heraushaltung des Heeres aus politischen Maßnahmen zugute hielt und sich einen mäßigenden Einfluss der Wehrmacht versprach, zumal die späteren unterschiedslosen Massaker von Sipo und SD zu diesem Zeitpunkt keineswegs feststanden und diese Verbände für das Heer eine willkommene Entlastung von Sicherungsaufgaben erwarten ließen. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass zielte auf die Entziehung des Rechtsschutzes für verdächtige Zivilpersonen und der berüchtigte Kommissarbefehl auf die Liquidierung der politischen Kommissare und des NKWD-Personals der Roten Armee. Beide Befehle brachen mit dem Völkerrecht, denn nur bei einer Kampfhandlung ergriffene Partisanen durften nach der hergebrachten Interpretation der Haager Landkriegsordnung (HLKO) umstandslos erschossen werden. Vom OKH wurden relativierende Zusätze zu den so genannten verbrecherischen Befehlen gegeben. Die Proteste der Befehlshaber der drei Heeresgruppen hielt der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, für aussichtslos. Hinsichtlich des Kommissarbefehls war die Übereinstimmung zwischen dem Offizierskorps und der politischen Führung höher, hatte die Sowjetunion doch die HLKO gar nicht unterzeichnet und galten die Kommissare als Weltanschauungskrieger auch den Offizieren als ideologische Feinde. Arnold urteilt hier hart, dass mit der Hinnahme der „verbrecherischen Befehle“ der „schmale Grad zwischen struktureller und individuell schuldhafter Verstrickung“ (S. 145) durch das OKH bereits überschritten worden sei.
Beim Einmarsch in die Sowjetunion wurde die Wehrmacht nun vielerorts als Befreier begrüßt, da etwa die Balten und die Ukrainer unter der Vernichtungspolitik Stalins und der jetzt im großen Stil befohlenen Politik der verbrannten Erde in höchstem Maße gelitten hatten. Gerade diese brutal durchgeführte Zerstörungspolitik der Roten Armee und die Überfälle auf deutsche Verwundetentransporte und andere Grausamkeiten nicht nur der Kommissare gegen die deutsche Truppe führten dort zur Erbitterung und Radikalisierung der eigenen Kriegsführung. „Rücksichtslose“ Maßnahmen zur Sicherung der rückwärtigen Gebiete und eine zunehmende Befolgung des „Kommissarbefehls“ waren die Folge.
Hinzu kamen die Probleme bei den militärischen Operationen, die in der Winterkrise, des Endes der „Geschichte der Wehrmacht als professionelle[r] Armee“ (S. 238), vor Moskau 1941/42 kulminierten. Fatal wirkte sich indes die Transport- und Ernährungskrise ab Dezember 1941 aus. War von Ernährungsstaatssekretär Herbert Backe ursprünglich eine breite Ausbeutung der besetzen Gebiete für das Reich vorgesehen, so konnte sich die Wehrmacht bald kaum selbst ernähren. Die in der Versorgungskrise gesetzten „utilitaristischen“ Prioritäten eskalierten in der „Hungerpolitik“ gegenüber der Zivilbevölkerung und dem Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen. Arnold weist freilich quellengesättigt nach, dass Christian Gerlachs „Hungerplan“ eine nicht haltbare Konstruktion ist. Zunächst ist zwischen dem Wirtschaftsstab unter Göring mit der Chefgruppe Landwirtschaft unter Staatssekretär Backe und der davon getrennten Militärverwaltung zu unterscheiden. Aber selbst auf der politischen Ebene (wo man freilich brutal kalkulierte) gab es keinen gezielten „Hungerplan“, erst recht nicht bei der Wehrmacht, der schon aus pragmatisch-egoistischen Gründen an einer derartigen Politik nicht gelegen sein konnte. Und auch die Ernährung der Kriegsgefangenen geriet wegen der erheblichen Diskrepanz zwischen Planung und Realität zum Desaster und war nicht intendiert. Arnold kommt zu dem Ergebnis, dass die Propaganda nicht zu „ideologischen Vernichtungsabsichten“ bei der Wehrmacht geführt habe, sondern zur „rhetorischen Banalisierung und Verdrängung der Verantwortlichkeit“ (S. 412).
Ein wichtiges, weiterführendes Kapitel bilden Arnolds Ausführungen zum häufig marginalisierten Partisanenkampf, der von Stalin umfassend geplant und entfacht wurde 1 und der nicht nur in deutschen Augen völkerrechtswidrig war, da die Partisanen den Mindestanforderungen der HLKO (Uniformierung, offenes Tragen der Waffen, Kriegführung nach Brauch, feste Strukturen), die ja seinerseits auf hergebrachten Regeln des Kriegsrechts basierte, nicht genügten. Dem rücksichtslosen Partisanenkrieg mit Anschlägen und Sabotageakten begegnete die Wehrmacht uneinheitlich. Ein pauschales Urteil lässt sich nicht fällen, in jedem Einzelfall muss man die Vergehen der Partisanen, Grad und Ausmaß der jeweiligen Unterstützung der Zivilbevölkerung und die unterschiedlichen Reaktionen der diversen Einheiten sowie die Befehlslage berücksichtigen. Der Partisanenkrieg führte aber zweifellos zu unverhältnismäßigen Repressalien und einer Ablenkung der Rachegefühle der Truppe auf die jüdische Bevölkerung. Daneben evozierte er aber auch kriegsrechtlich sanktioniertes Vorgehen, das bei allen kriegführenden Nationen des Zweiten Weltkrieges anzutreffen ist und das den berechtigten und notwendigen Versuch einer Einhegung des Krieges auf die Auseinandersetzung von Kombattanten darstellt. Arnold kommt einstweilen zu dem Fazit: „Ein einheitliches Bild der Partisanenbekämpfung durch die Wehrmacht entsteht somit nicht. Hingegen ist innerhalb der verschiedenen Gebiete eine Abhängigkeit von der Intensität der Angriffe, Gegenmaßnahmen sowie saisonalen Schwankungen zu verzeichnen. Dies widerlegt ebenso wie das durchschnittliche Verhältnis der Verluste beider Seiten von 1:3 Thesen von unterschiedslosem ‚Vernichtungskrieg’, jedenfalls von planmäßiger Ermordung der Zivilbevölkerung.“ (S. 479f.) Andererseits heißt es etwas weiter: „Sowohl ‚Kommunisten’ als auch die jüdische Bevölkerung wurden hingegen einvernehmlich mißbraucht, um einer wilden Brutalisierung der Truppe entgegenzutreten und Rachegefühle auf ‚unerwünschte Bevölkerungsteile’ zu lenken. Deshalb ist die Wehrmacht für die Radikalisierung des Klimas, das den Mord an den Juden und Unterstützung durch Dienststellen der Wehrmacht ermöglichte, unmittelbar und in hohem Maße verantwortlich.“ (S. 480) Arnold beschönigt also nichts, das merkt man auch bei seinem letzten Kapitel zur Wehrmacht und dem Mord an den Juden. Die Wehrmacht übernahm zunächst die Diskriminierungspolitik aus dem Reich, dass heißt Ghettobildung und Kennzeichnung der Juden. Generell versuchte die Wehrmacht sich von den Maßnahmen der Mordkommandos von SD und Sipo fernzuhalten, die trotzdem stattfindende Beteiligung von Soldaten an Massenerschießungen wurde zum Teil verboten. „Die Wehrmacht führte zwar keinen ‚Vernichtungskrieg’ gegen Zivilisten und Kriegsgefangene, viele Einheiten befolgten jedoch den Kommissarbefehl. Zudem wurde der Massenmord der Einsatzgruppen an den jüdischen Bevölkerungsteilen und jüdischen Rotarmisten hingenommen, von nicht wenigen Stellen auch aus eigener Initiative unterstützt.“ (S. 529)
Arnolds Studie „entlastet“ „die“ Wehrmacht nicht, das Denken in den primitiven Kategorien von Anklage und Apologie lässt er gerade hinter sich. Er steigert aber die Komplexität der Forschung, indem er ideologische Faktoren wie die reziproke und intentionale Radikalisierung und Brutalisierung gewichtet sowie retardierende Momente wie Wechselwirkungen gegenseitiger Brutalisierung, die zentrale Instanz des „Führers“, den polykratischen Dschungel von Hitler, Göring, Backe, Wirtschaftsstäben, Wirtschaftsführungs- und Rüstungsamt, Generalquartiermeister, OKW, OKH und unteren Verbänden berücksichtigt. Generell ist die Studie unter Einbeziehung zweier Fallbeispiele (Charkow in der Ukraine für die Ernährungspolitik und Minsk in Weißrussland für die Gefangenenpolitik) stark auf die Makroebene konzentriert. Für die Forschung gibt es also hinsichtlich von Regionalstudien, aber auch von komparativen Unternehmungen weiterhin viel zu tun, auch auf solidem Fundament stehende Quantifizierungen 2 sind erforderlich. Zu hoffen ist, dass all dies auf dem hohen wissenschaftlichen Niveau geschieht, das Arnold mit seiner Studie nun vorgegeben hat.
Anmerkungen:
1 Zurückhaltend-höflich schreibt Arnold, „in einigen Untersuchungen wird die Sowjetunion als handelndes Subjekt des deutsch-sowjetischen Krieges nicht wahrgenommen“ (S. 465). Tatsächlich sind manche Studien zum Ostkrieg hinter die 25 Jahre alten Ausführungen Raymond Arons zu diesem Thema zurückgefallen, vgl. Aron, Clausewitz, Den Krieg denken, Frankfurt am Main 1980, S. 443f.
2 Arnold wagt für den Partisanenkrieg im mittleren Bereich der Ostfront den Versuch einer Quantifizierung (zwischen Juni 1941 und Mai 1942 3.248 Verluste auf deutscher Seite und 17-23.000 getötete Partisanen oder Rotarmisten, zwischen Juni 1942 und Juni 1944 25.130 deutsche Verluste und 77.191 auf sowjetischer Seite). Weitere Quantifizierungen werden Aufgabe für die Zukunft sein.