Cover
Titel
History in Transit. Experience, Identity, Critical Theory


Autor(en)
LaCapra, Dominick
Erschienen
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
$19.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

„Man kann die Frage stellen, ob Historiker jemals gelernt haben, Texte zu lesen.“1 Mit solchen provozierenden Äußerungen mischte sich der an der Cornell University lehrende Historiker Dominick LaCapra Mitte der 1980er-Jahre in jene Debatte ein, die sich damals mit dem Stichwort des „linguistic turn“ verband. Während es in Deutschland zur gleichen Zeit vor allem die Alltagsgeschichte war, die begann, das vorherrschende Paradigma der politischen Sozialgeschichte von innen heraus zu kritisieren, standen in den USA der 1980er-Jahre bereits drei Paradigmen zur Diskussion: eine strukturalistisch orientierte Sozialgeschichte, eine ethnologisch orientierte Kulturgeschichte und – nicht zuletzt von LaCapra vertreten – eine poststrukturalistisch orientierte „intellectual history“.

Diese profilierte sich durch eine Kritik weniger der hergebrachten Sozial- als der damals neuen Kultur- und Alltagsgeschichte. LaCapra stellte deren Versuche in Frage, vergessene Erfahrungs- und Alltagswelten durch ethnologische und hermeneutische Herangehensweisen zu rekonstruieren. Es bestehe die Gefahr, aus der berechtigten Kritik am Strukturalismus ins andere Extrem eines völlig unreflektiert in die Vergangenheit sich versenkenden Positivismus überzugehen. Demgegenüber riet LaCapra den Historikern, die theoretische (Selbst-)Reflexion nicht aufzugeben, sondern sie an den neueren Einsichten der Literaturwissenschaft zu schärfen, mithin zu lernen, Texte (von den verstecktesten Quellen bis zu den aktuellsten Theorien) in einem umfassenderen „dekonstruktiven“ Sinne kritisch zu lesen.

Heute, zwei Jahrzehnte später, haben sich die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen historischer Forschung zugleich vervielfältigt und abgeschliffen. So sind etwa Kulturgeschichte und Kulturwissenschaft zu Dachbegriffen geworden, unter denen sich eine Vielzahl ehemals recht feindlich gesinnter Ansätze zusammenfindet. Die Zeit des Streitens über Großparadigmen und Königswege scheint vorbei. Das spiegelt sich auch in LaCapras neuester Essaysammlung wider, die im Jahr 2004 unter dem Titel „History in Transit. Experience, Identity, Critical Theory“ erschienen ist. Statt von polemischer Kritik sind seine Überlegungen nun vom Bemühen geprägt, dialogische Begegnungen („dialogical encounters“) zwischen Disziplinen, Methoden und Themenfeldern zu entwerfen.

Einer recht schematischen Diskussion des Verhältnisses von „Erfahrung“ und „Identität“ im ersten Kapitel folgt die interessante Erörterung neuer Dialoge zwischen Historiografie und Psychoanalyse. Dabei geht es LaCapra nicht um eine Reetablierung der Psychohistorie, sondern um den Nutzen Freudscher Kategorien (insbesondere des „Durcharbeitens“ und der „Übertragung“) für die methodische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft. Leider mündet dieses Kapitel dann schnell in eine sehr spezialistische Erörterung der Trauma-Kategorie, deren Nutzen und Nachteil LaCapra in den folgenden Abschnitten zunächst mit Blick auf die Holocaustforschung und dann in Auseinandersetzung mit den derzeit vielbesprochenen Arbeiten Giorgio Agambens diskutiert. Das letzte Kapitel sowie der Epilog thematisieren den gegenwärtigen Status der akademischen Kulturwissenschaften, den LaCapra weit weniger pessimistisch sieht als Bill Readings in seinem Buch „The University in Ruins“ (Cambridge 1997), das LaCapra ausführlich erörtert. Gegenüber solchen radikalen Diagnosen plädiert LaCapra für neue transdisziplinäre Dialoge, zu denen er insbesondere die Historiker aufruft.

Das wesentliche Ziel dieser Dialoge ist und bleibt für LaCapra die theoretische Grundlagenreflexion, deren Verschwinden in einem unvermittelten Methodenpluralismus gerade dazu führe, problematische – weil totalisierende – Gegenmodelle (Agamben, Readings) hervorzubringen. Demgegenüber will LaCapra die historische Spezifität und die Verankerung der vom akademischen Diskurs behandelten Konzepte und Probleme (Identität, Gewalt, Erinnerung, Trauma) in wirklichen Institutionen und faktischen Erfahrungen wieder stärker zur Geltung bringen. Sein Plädoyer für „dialogical encounters“ ist daher vor allem ein Aufruf zur stärkeren Verschränkung von Theorie und Empirie.

Das wird besonders in der Einleitung deutlich, wo LaCapra nach Alternativen zum oft unverbundenen Nebeneinander von ahistorischer Theorie und theorieloser Empirie fragt. Dabei steht der Versuch im Zentrum, einen theoretisch reflektierten Begriff von Erfahrung zu entwerfen. Erfahrung, so LaCapras Hauptargument, sollte weder zum unhinterfragten Schlagwort einer allgemeinen Theorieskepsis verkümmern noch von radikalisierten Theoremen der Konstruktion oder Textualität als im Grunde irrelevant verworfen werden. Entsprechend geht es auch in den folgenden Kapiteln immer wieder um die Frage, in welchem Maße die diskutierten Positionen eine gelungene Vermittlung von Theorie und Empirie, Text und Kontext, Repräsentation und Ereignis leisten.

Ingesamt leiden LaCapras Ausführungen dabei an zwei recht grundlegenden Problemen: Zum einen vermag er den eingeforderten Dialog nicht selber herzustellen. Sein Feld ist und bleibt die Theorie. Um von dieser Seite her eine Brücke zur „historischen Spezifität“ zu schlagen – wie LaCapra es fordert –, müsste man sich zumindest ansatzweise auch direkt mit der Empirie auseinandersetzen. Doch LaCapras Erörterungen bleiben selber ahistorisch, und seine eigene Position entwickelt er ausschließlich in Auseinandersetzung mit anderen Theoriepositionen. Dies sogar dann – und hier liegt das zweite Grundproblem –, wenn die ausgewählten anderen Positionen eigentlich kaum als reine Theorie betrachtet werden können.

So wirft LaCapra ausgerechnet Agamben vor, Geschichte (und insbesondere den Holocaust) in seinen Arbeiten auf ein bloßes Medium zur Illustration einer „post-apokalyptischen“ These von der Notwendigkeit einer „gänzlich neuen Ethik“ zu reduzieren. Nun lassen sich Agambens Studien sicher nicht als Historiografie im eigentlichen Sinne ansehen. Doch zeichnen sie sich – nicht zuletzt im Vergleich zu LaCapra selbst – gerade dadurch aus, ihre Thesen jenseits etablierter Theorietraditionen in oft direkter (wenn auch recht willkürlicher) Auseinandersetzung mit konkreten historischen Phänomenen zu entwickeln. Sie repräsentieren selber eine besondere Art der Verschränkung von Theorie und Empirie, die LaCapra rückgängig machen bzw. unterschlagen muss, um sie dann einfordern zu können. So verwandelt sich Agambens Deutung der Konzentrationslager als historischer Ausdruck einer bis heute relevanten Tradition der biopolitischen Selbstkonstituierung von Gemeinschaften durch „einschließenden Ausschluss“ in der Sicht LaCapras zu einer vermeintlich ganz unhistorischen Erhebung des Holocaust zum apokalyptischen Endpunkt der Geschichte. Nach einer solchen, im Grunde entschärfenden, „Zuspitzung“ Agambens fällt der Vorwurf der Entkonkretisierung leicht.

LaCapras Leser aber wünschte sich, sein Buch würde häufiger so konkret werden wie es nicht wenige Passagen bei Agamben sind, würde aus dem Netz des reinen Theoriediskurses, der Querverweise und des „namedropping“ ausbrechen, um die eingeforderten Verschränkungen an Beispielen zu erläutern. So sehr der generelle Aufruf überzeugt, gerade mit Blick auf Großkonzepte wie „Identität“ oder „Erfahrung“ einen echten Dialog zwischen Empirie und Theorie anzustrengen, so sehr hätte man ihn gerne einmal vorgeführt gesehen. Dialoge aber lassen sich nicht alleine und nur theoretisch führen.

Daher bleibt nach der Lektüre vor allem der Eindruck, dass es wünschenswert wäre, wenn es auch auf Seiten der empirisch orientierten Forschung mehr Versuche gäbe, diese näher an die Theoriedebatten anzuschließen; wenn theoretische Konzepte eben nicht nur einleitend als Ausgangspunkt präsentiert, sondern die eigenen Befunde und Analysen dann auch umgekehrt als Beiträge zur kritischen Weiterentwicklung der verwendeten Theorie-Konzepte diskutiert würden. Noch herrscht unter den meisten Historiken eine Sichtweise vor, die einseitig nach Rolle und Nutzen von Theorien „in der Praxis des Historikers“ fragt. Demgegenüber verweisen LaCapras Ausführungen, gerade weil sie den zu Recht eingeforderten Dialog selber nicht leisten, auf die Notwendigkeit, nach dem umgekehrten Nutzen der historischen Praxis für die Theorie zu fragen. „Das Höchste wäre“, so notierte Goethe einmal, „zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist“. Auf die Geschichtswissenschaft übertragen heißt das: Jede empirische Beobachtung eines Identitätsbildungsprozesses verändert unseren Identitätsbegriff, jede Rekonstruktion einer historischen Erfahrung verändert unsere Vorstellung von dem, was Erfahrung heißt. Eben diese Wechselwirkung ist im Titel von LaCapras Essaysammlung gemeint: „History in Transit“. Diesen Transit aber in einem eigenen, direkten Dialog mit den Empirikern zu verdeutlichen ist LaCapras Sache nicht. Seine Gesprächspartner sind weiterhin und ausschließlich andere Theoretiker – für sein Anliegen die im Grunde falschen Adressaten.

Anmerkung:
1 LaCapra, Dominick, Geschichte und Kritik, Frankfurt am Main 1987.

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