D. Filippovyh u.a. (Hgg.): Vor dem Abgrund

Cover
Titel
Vor dem Abgrund. Die Streitkräfte der USA und der UdSSR sowie ihrer deutschen Bündnispartner in der Kubakrise


Herausgeber
Filippovyh, Dimitij N.; Uhl, Matthias
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Sondernummern
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 265 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stöver, Historisches Institut, Universität Potsdam

Die Kubakrise 1962 war bekanntlich eine der dramatischsten Zuspitzungen des Kalten Krieges, auf deren Höhepunkt selbst der Atomkrieg nicht mehr als ausgeschlossen erschien. Die Vorgeschichte und der Verlauf der Krise sind gut erforscht; nicht zuletzt sind auch die Tonbandmitschnitte der Diskussionen im Weißen Haus mittlerweile vollständig veröffentlicht.1 Man weiß, dass die vorangegangene, misslungene Operation in der Schweinebucht 1961 mittelbar der Ausgangspunkt für die eigentliche Kuba-Krise im Oktober 1962 war. Bereits seit Frühjahr 1962 spielte Chruschtschow mit dem Gedanken, Mittelstreckenraketen auf der Insel zu installieren. Sie erschienen ihm nicht nur als „logische Antwort“ auf die erwartete neue Invasion, sondern auch als ideales Drohpotenzial für andere Streitpunkte des Kalten Krieges, etwa in Mitteleuropa. Dass die ungelöste Berlin-Frage, die in der Mauerkrise 1961 einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, eine wichtige Rolle spielte, ist in der Forschung weitgehend unbestritten. Deutlich ist, dass speziell Kennedy sich sowohl gegenüber der Situation in Südostasien als auch gegenüber der Innenpolitik in den USA zunehmend unter Entscheidungsdruck fühlte und befürchtete, in einer zusammenlaufenden „Berlin-Kuba-Vietnam-Krise“ die außenpolitische Initiative zu verlieren.

In den Gesprächen, die Anfang Juli 1962 mit dem Bruder Fidel Castros, Raul Castro, in Moskau stattfanden und bei denen es um die Möglichkeiten der Abwehrvorbereitung für eine fast stündlich erwartete neue amerikanische Invasion auf Kuba gehen sollte, offerierte Chruschtschow den überraschten Kubanern die Atomraketen. Unter dem Druck Moskaus und in der Vorstellung, nicht mehr viel Zeit zur Vorbereitung der eigenen Verteidigung zu haben, akzeptierte Castro den Plan, in aller Stille Mittelstreckenraketen auf der Insel aufzubauen, zumal die USA Raketen gegen die UdSSR mit ähnlicher Reichweite in der Türkei stationiert hatten. Unter völliger Geheimhaltung – selbst der sowjetische Botschafter in Washington, Dobrynin, war nicht informiert – wurden die Raketen auf den Weg geschickt und die Vorbereitungen auf der Insel getroffen. Hier entdeckten amerikanische Aufklärungsflugzeuge im September 1962 die Abschussrampen. Die Situation war brisant wie kaum eine andere im Kalten Krieg, da Kuba aus amerikanischer Sicht unter das traditionelle außenpolitische Paradigma der Monroe-Doktrin fiel und Atomraketen hier keinesfalls akzeptiert werden sollten. Am 22. Oktober forderte Kennedy Chruschtschow ultimativ auf, die Stellungen abzubauen und die Raketen in die UdSSR zurückzutransportieren. Zwei Tage später verhängten die USA eine Seeblockade gegen Kuba. Wie insbesondere die Tonbandmitschnitte der Krisensitzungen in Washington belegen, war Kennedy tatsächlich entschlossen, auch Atomwaffen einzusetzen. Am Dienstag, den 23. Oktober, hatte Kennedy ausführlich mit seinen Beratern über die Vorbereitung für einen nuklearen Schlagabtausch (all out nuclear exchange) diskutiert, den man nicht wolle, aber im Zweifelsfall führen werde.2

Am folgenden Tag war neben den Einheiten der Interkontinentalraketen und den U-Boot-Stützpunkten auch das Strategischen Bomberkommando der US-Luftwaffe auf die Alarmstufe Defcon 2 gesetzt worden, eine Stufe unterhalb des Atomkriegs. Drei Tage später, am 27. und 28. Oktober, erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Nach einem geheimen Briefwechsel zwischen Chruschtschow und Kennedy wurde ein Handel geschlossen, bei dem beide Seiten das Gesicht wahren konnten: Die UdSSR sollte die Raketen von Kuba abziehen und die Rampen abbauen. Nach einigen Monaten würden die USA ihre Mittelstreckenraketen, die den europäischen Teil der Sowjetunion bedrohten, aus der Türkei zurückholen. Am Morgen des 28. Oktober wurde der Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba gemeldet.

Der von Dimitrij N. Filippovych (Militäruniversität des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Moskau) und Matthias Uhl (damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin) herausgegebene Tagungsband „Vor dem Abgrund. Die Streitkräfte der USA und der UdSSR sowie ihrer deutschen Bündnispartner in der Kubakrise“ widmet sich den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und Folgen der Krise. Die Beiträge des Bandes sind Ergebnisse einer im Oktober 2002 veranstalteten Tagung der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte. Der Sammelband entfaltet ein Panorama der Sicherheitspolitik im Umfeld der Krise und versucht gleichzeitig, den genauen Umfang der Bedrohung zu analysieren. Gerhard Wettig argumentiert in seinem Beitrag, der sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow sei es gar nicht um den Schutz der Revolution in Kuba gegangen, wie es bisher häufig in der Literatur beschrieben wurde, sondern um die Antwort auf die – wie er es nennt – amerikanische „Eskalationsdominanz“. Moskau habe eigentlich über die Kubakrise neuen Druck auf Westberlin ausüben wollen. Der Stillstand in Berlin sei deswegen als der Ausgangspunkt der Eskalation in der Karibik zu werten. Auch Hermann-Josef Rupiepers Beitrag betont diesen Zusammenhang der beiden wichtigen Schauplätze des Kalten Krieges, wobei er jedoch der Kubakrise mehr Eigenständigkeit zuerkennt.

Zwischen diesen Rahmenbeiträgen gruppieren sich die Beiträge zur eigentlichen Militärgeschichte der Kubakrise, die den Schwerpunkt des Bandes bilden: Harald Biermann informiert über die Streitkräfte der USA, Michail G. Ljoschin und Dimitij N. Filippovych/Wladimir I. Ivkin über die Streitkräfte der UdSSR, Bruno Thoß über die „bedingte Abwehrbereitschaft“ der Bundeswehr und Sigurd Hess und Matthias Uhl über die See- und Landstreitkräfte der DDR („Jederzeit gefechtsbereit“). Besonders aufschlussreich in den Detailinformationen zeigt sich der Artikel von Filippovych und Ivkin zu den strategischen Raketentruppen, die im Rahmen der „Operation Anadyr“ nach Kuba verschifft wurden. Unter anderem wurde eine aus fünf Regimentern bestehende Raketendivision mit den damals modernsten Mittelstreckenraketen der Typen R-12 und -14 auf den Weg geschickt. Beteiligt waren aber insgesamt rund 42.000 Soldaten. Insgesamt 186 Mal liefen die sowjetischen Schiffe Kuba an und lieferten rund 230.000 Tonnen Ausrüstung ab (S. 40). Die dort stationierten sowjetischen Streitkräfte verfügten im Oktober 1962 schließlich unter anderem über 36 Atomsprengköpfe à 650 kT für die R-12, 24 nukleare Sprengköpfe à 1,65 MT für die R-14, 12 Atomsprengsätze à 12 kT für die Rakete Luna (Nato-Code Frog) und weitere 80 Sprengköpfe à 12 kT für Marschflugkörper vom Typ FKR-1 Meteor (Nato-Code SSC-2A Salish bzw. AS-1 Kennel). Die mit 152 Raketensprengköpfen tatsächlich erhebliche nukleare Streitmacht auf Kuba wurde durch weitere Atombomben für die dort ebenfalls stationierten sowjetischen Standardbomber sowie durch U-Boote der im Westen so genannten „Golf-Klasse“ ergänzt, die unter anderem mit den neu eingeführten R-13 (SS-N-4) SLBM à 1,5 MT und atomaren Torpedos ausgerüstet waren.

Ergänzt wird der Sammelband durch 27 kommentierte Dokumente zur Kubakrise, die zum Teil allerdings bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Dies betrifft die Quellen zu den amerikanischen Streitkräften, die bereits auf der Homepage des National Security Archive/Washington publiziert wurden.

Insgesamt zeichnet sich der Sammelband vor allem durch zweierlei Vorzüge aus. Zum einen dadurch, dass er einige der wesentlichen Forschungsfragen noch einmal zusammenfasst. So führt er die kontroverse Debatte der Motivlagen vor Augen und macht klar, dass sich selbst die Interpretation der politischen Konstellationen in der Kubakrise noch einen erheblichen Interpretationsspielraum bewahrt hat. Hier unterscheidet sich diese Krise des Kalten Krieges in keiner Weise von den diversen anderen Zuspitzungen der globalen Konfrontation. Zum anderen sorgt er durch seine detaillierten Beschreibungen der eingesetzten militärischen Mittel für ein erweitertes Verständnis der Bedrohungslage. Wünschenswert wäre allerdings der Abdruck einiger zusammenfassender Tabellen gewesen, die einen schnelleren Überblick über den tatsächlichen Bestand der Streitkräfte auf der Insel erlauben würden.

Anmerkung:
1 May, Ernest R.; Zelikov, Philip D. (Hgg.), The Kennedy Tapes. Inside the White House during the Cuban Missile Crisis, Cambridge 1997.
2 May; Zelikov (wie Anm. 1), S. 338ff.

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