„Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn“ – mit dieser Sentenz fasste der Saarbrücker Verhaltenswissenschaftler und „Marketing-Papst“ Werner Kroeber-Riel seine Studien zur Bildsemantik und zur Bildwirkung prägnant zusammen. Denn um ein Bild mittlerer Komplexität zu erfassen, so der Sozialwissenschaftler weiter, benötige der Mensch gerade einmal zwei Sekunden, wohingegen die Aufnahme von Wörtern und Texten weit größeren zeitlichen Aufwand erfordere.
Bilder als schnelle Schüsse ins Gehirn – diese Metapher muss ganz besonders für diejenige Gattung von Bildern gelten, welche die beiden hier vorzustellenden Bücher versammeln. Gerade Titelbildern kommt in der Bilderflut moderner Mediengesellschaften im besonderen Maße die Aufgabe zu, Aufmerksamkeit zu erregen; ihre Botschaft muss überdies klar und verständlich inszeniert sein – schließlich sollen Titelbilder ihre Rezipienten im Idealfall zu einer Handlung disponieren, nämlich sie zum Kauf der so beworbenen Zeitschrift anregen. Ein Magazintitel muss sowohl von Ferne gesehen als auch aus der Nähe betrachtet ein überzeugendes Angebot darstellen. Eine ideale Titelgestaltung sollte den Spagat bewältigen, die Eigenschaften eines Plakates und einer Illustration in sich zu vereinen. Die beim Rezipienten erzeugte Kaufabsicht muss zudem möglichst spontan, zumindest aber im Laufe von höchstens einer einzigen Woche umgesetzt werden – denn vom folgenden Montag an (im Fall des SPIEGEL) wird ein neues Cover für ein neues Heft mit einem neuen Titelthema werben.
Titelblätter sind somit zuallererst diffizile Werbeträger für Druckerzeugnisse. Von dieser primären Funktion des Covers ist in den beiden Bänden freilich nur am Rande die Rede. Vielmehr werden die Titelbilder des SPIEGEL hauptsächlich hinsichtlich ihrer ästhetischen und inhaltlichen Anspruchshorizonte diskutiert. Die Cover-Gestaltung des Nachrichtenmagazins verstehe sich, so die Herausgeber, als eine visuelle Ausdeutung der jeweiligen Titelgeschichte im Inneren des Blattes, die aufgrund ihrer Professionalität wiederum selbst zu einer Erzählung eigener Art gerate: einer Narration, die mit Distanz, mit Ironie, zuweilen mit Sarkasmus, auf jeden Fall aber mit hohem handwerklichem Können und mit großer dramatischer Kraft Grundfragen des Titelthemas visuell verdichte. Der Chefredakteur des SPIEGEL, Stefan Aust, verlangt daher auf dem Titel eine „optische Erzählweise“. Das SPIEGEL-Cover stellt dieser Lesart zufolge mehr als ein bloßes Etikett dar, es will mehr sein als ein bunter Aufmacher. Das Titelbild gerät zur visualisierten Kernerzählung des jeweiligen Blattinhaltes: ein Deckblatt als pars pro toto, eine allererste Oberfläche, die den vielen folgenden Oberflächen des Magazins in ihren erzählerischen Potenzen ebenbürtig ist, die sie eben kongenial ab-bildet. So jedenfalls ließe sich in Kürze das Credo der Titel-Produzenten zusammenfassen, eine anspruchsvolle Philosophie des SPIEGEL-Covers, welche in beiden Bänden den Hintergrund für zwei ganz unterschiedliche Titelbildgalerien abgibt.
Hans-Dieter Schütt und Oliver Schwarzkopf, die in ihrem Band nicht weniger als alle SPIEGEL-Titel des vorigen Jahrhunderts, mithin die in der Zeit von 1947 bis 1999 erschienenen, vierfarbig dokumentiert haben, beschreiben das SPIEGEL-Cover in ihrem Vorwort so: „Jedes Bild ist diskursiv verfasst, es ist nie unmittelbar wahr. Und: Der Traum jedes Bildes ist letztlich die unerreichbare Einheit von Intellekt und Sinnlichkeit.“ (S. 9) Überblickt man als rezensierender Betrachter das Panorama dieser Titeldiskurse, so lassen sich mindestens zwei große Epochen unterscheiden:
1. Grundsätzlich waren diese Bildgeschichten während der gesamten Nachkriegszeit von Gesichtern geprägt. Die Präsentation einer Physiognomie der Woche gab jedoch bis in die frühen 1960er-Jahre hinein vollends den Ton an. Das „heilige Prinzip des Porträts“, so Thomas Bonnie, Chef der Titelblattredaktion bis 1999, hatte man dem amerikanischen Magazin „Time“ abgeschaut – und der Fotograf Max Ehlert setzte es ebenso feinfühlig wie kritisch um. Ob Politiker oder Schauspieler, ob Sportler oder Prominenter: Die frühen Schwarz-Weiß-Köpfe des SPIEGEL zeichneten die scharfen sozialen Kontraste der 1940er- und 1950er-Jahre nach; in den Cover-Gesichtern ihrer Protagonisten spiegeln sich geradezu die Gegensätze und Kontroversen der Zeit wider.
2. Im Laufe der 1960er-Jahre wurden die SPIEGEL-Titel vierfarbig. Die Titelbilder der Illustrierten und des SPIEGEL machten den Anfang; farbige Anzeigen, bestückt mit prächtigen Fotos, eroberten wenig später das Innere der Blätter, und 1967 war endlich auch das Fernsehen in Deutschland farbig geworden. Die Colorisierung der Print- und der Produktkommunikation musste bei den Zeitgenossen ein Gefühl von Großzügigkeit und Großräumigkeit aufrufen: Der Wohlstand wurde nun auch kommunikativ und ästhetisch manifest. Die Visualisierung der neu gewonnenen ökonomischen Prosperität ging Hand in Hand mit einer visuellen Prosperität; die nun einsetzende Farben- und Bilderflut feierte den erreichten gesellschaftlichen und kommunikativen Wohlstand.
Die 2.800 bei Schütt und Schwarzkopf dokumentierten Titelbilder sind eine hervorragende Quellenedition, die nicht nur von Zeitungs- und Kommunikationswissenschaftlern, sondern in gleichem Maße von Zeithistorikern nutzbar ist. Die Titelblätter des SPIEGEL verweisen zum einen auf die Titelgeschichten im Blattinnern, zum anderen kristallisiert sich in ihnen die Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Coverbilder mögen „schnelle Schüsse ins Gehirn“ sein – dennoch sind sie durchaus keine Schnellschüsse ihrer Produzenten. Woche für Woche entwickelten und entwickeln die Titelbildredakteure mehrere Varianten. Diejenigen Entwürfe, die nicht zum Zuge kamen, sind in diesem Band, einer beeindruckenden verlegerischen Leistung, zwar nicht dokumentiert – als Quellen einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung wären sie jedoch nicht minder von Interesse.
Eberhard Wachsmuth, Bildredakteur von 1954 bis Mitte der 1980er-Jahre, setzt die Epochenwende in der Geschichte des SPIEGEL-Titelbildes 1956 an. In diesem Jahr war ihm zweierlei gelungen. Einerseits konnte er die Chefredaktion und Rudolf Augstein davon überzeugen, nicht ein fotografiertes, sondern ein gezeichnetes Porträt voranzustellen. Eine Zeichnung „kann zuspitzen, überhöhen, verschärfen, auch abstraktere Zusammenhänge pointiert darstellen, [...] liefert also das stärkere Bild“, so Wachsmuth in einem Interview, das in dem Band „Die Kunst des SPIEGEL“ abgedruckt ist. Und es gelang dem jungen Bildredakteur zudem, Boris Artzybascheff für dieses Vorhaben zu gewinnen, einen russischen Illustrator, der in New York lebte und für „Time“ arbeitete. So kam es zu einem farbigen Porträt des Bürgermeisters von Florenz, Giorgio la Pira, einem Mitglied des linken Flügels der italienischen Christdemokraten. Aufgrund seines sozialen Engagements wollten ihn die SPIEGEL-Redakteure mit symbolischen Anklängen an Franz von Assisi dargestellt wissen – was mit Hilfe einer Fotografie nicht möglich gewesen wäre. Es fehlte damals an Fachleuten, die derartige Cover-Stories optisch umsetzen und visuell erzählen konnten. Erst mit der Zeit gelang es, Illustratoren in Deutschland und Europa zu fördern und „heranzuziehen“, die „im Spannungsfeld enger Vorgaben, hoher Ansprüche und nur weniger Tage Zeit“ originelle und intelligente Lösungen hervorzubringen in der Lage waren.
Ihnen und ihrer Arbeit ist der Ausstellungskatalog gewidmet, den Stefan Aust und Stefan Kiefer, der derzeitige Chef der Hamburger Titelbildredaktion, herausgegeben haben. In diesem Band werden rund 60 Illustratoren anhand ihrer für den SPIEGEL geschaffenen Werke vorgestellt, darunter Bernard Buffet, Hermann Degkwitz, Vicco von Bülow, Michael M. Prechtl, Horst Haitzinger, Dieter Wiesmüller, Alfons Kiefer, Dewa Waworka, Marie Marcks, Ludvik Glazer-Naudé, Jean-Pierre Kunkel, Rafal Olbinski und Chris F. Payne. Die 260 hier veröffentlichten Titel-Illustrationen werden als eigenständige und eigensinnige Kunstwerke präsentiert – also ohne den derzeit 184 mal 226 Millimeter großen roten Rahmen des SPIEGEL-Covers. Durch diese Entgrenzung und durch Aufnahme von manch unveröffentlichtem Entwurf gewinnt auch dieser Band seinen Wert für die weitere historische sowie kunst- und kulturgeschichtliche Forschung.
Schließlich bleibt dem Rezensenten dieser Bildgeschichten noch der Verweis auf einen anregenden Widerspruch, den die Lektüre der beiden Bände aufdeckt: Während der eine Band ausdrücklich und zu Recht die künstlerischen Qualitäten der Titelblattgestaltung hervorhebt und zum Gegenstand einer Ausstellung erhebt, will Thomas Bonnie im anderen Buch die Arbeit an den SPIEGEL-Titeln ganz bescheiden gerade nicht mit dem Attribut „künstlerisch“ versehen wissen – „das klingt mir für unsere redaktionelle Arbeit zu ausgetüftelt. Ein Künstler hat Ideale, für die er sich kompromisslos einsetzt – wir sind ein Ressort der Zulieferung. Wir schaffen keine Ideen und Bilder einzig aus unserem Geist heraus. [...] Wichtig ist die Absicht, jetzt zu wirken, im und für den Augenblick, es geht nicht um die Befriedigung einer Sehnsucht, vordergründig und eitel etwas ästhetisch Bleibendes für die Plakat- oder Covergeschichte herzustellen.“ (S. 44) In den Titelbildern steckt in der Tat nicht nur der Geist der Blatt- und Bildmacher, sondern auch derjenige ihres Publikums. Die SPIEGEL-Leser sind immer auch SPIEGEL-Seher; sie kaufen zusammen mit den Geschichten im Innern des Blattes zugleich sein Design. Der anhaltende Markterfolg dieses Magazins seit nunmehr fast 60 Jahren reflektiert auch den Erfolg seiner prägnanten und präzisen Titelbild-Geschichten.