Cover
Titel
Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault


Autor(en)
Baberowski, Jörg
Reihe
Beck'sche Reihe
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Wir wissen inzwischen hinlänglich, dass die traditionellen Meistererzählungen vom Verlauf der Geschichte ihre Orientierungsfunktion weitgehend eingebüßt haben. Dennoch verlangen Publikum wie FachgenossInnen der Geschichtswissenschaft weiterhin Orientierungsleistungen ab, ganz gleich ob diese in der Form von Sinnstiftungsversuchen oder von Aufklärungsansprüchen daherkommen. Im Feld der aktuellen Historiografie hat diese Situation zwei gegenläufigen Tendenzen Nahrung gegeben: Einerseits hat sich der Trend – von Monografie- und Sammelband-müden Verlagen kräftig gefördert – zu knappen Überblicksdarstellungen verstärkt, so als könne man sich jenseits der alles andere als verkaufsträchtigen Spezialforschungen und fachinternen Debatten doch auf ein scheinbar abgesichertes Gerüst historischer Fakten und Ereignisse zurückziehen. Diesem etwas populistisch auftretenden post-postmodernen Empirizismus, der im Grunde das alte Genre des Handbuchs essayistisch aufpeppt, steht andererseits eine wachsende Neigung von Historikerinnen und Historikern zu theoretischer Grundlagenreflexion gegenüber.

Grundsätzlich ist dieses gestiegene Interesse an theoretischen Fragen zu begrüßen, zumal es sich unter ansonsten vorrangig praktisch arbeitenden Sozial- und Kulturhistorikern zu verbreiten scheint und damit aus dem von spezialisierten Geschichtstheoretikern – von der gänzlich in die Wissenschaftsphilosophie abgewanderten Geschichtsphilosophie ganz zu schweigen – bewohnten Ghetto ausgebrochen ist. Das lässt erwarten, dass theoretische Reflexion auch Folgen hat und sich in den empirischen, narrativen Darstellungen zur Geschichte erkennbar niederschlägt, die bei aller Theoriebedürftigkeit weiterhin das Hauptprodukt von Geschichtswissenschaft und ihre Rechtfertigung als Fachdisziplin ausmachen.

Auch der Stil hat sich gewandelt, in dem Historiker heute ihre Überlegungen zur Theorie der Öffentlichkeit präsentieren. Die polemischen Feldschlachten rivalisierender Theorieschulen, die sich um das Banner prominenter Zitierautoritäten scharten, um, wenn nicht ihren Exklusivitätsanspruch, dann doch wenigstens den auf konzeptionelle Überlegenheit auszufechten, sind weithin abgeklungen. Die Stimmung der Theoriediskussion in der Geschichtswissenschaft wirkt heute abgeklärt; man muss zeigen, dass man das Spektrum der Angebote an verschiedenen Begriffssystemen und Ansätzen überschaut, dass man in der Lehre, um die Studierenden für die Bedeutung von Theorie für ihr Fach zu sensibilisieren, auch kontroverse Konzepte in ihrer jeweils stärksten Form vorstellt und dass man stets in der Lage ist, mit den unterschiedlichsten Prämissen und Theoremen zu spielen, ohne sich, wie früher, mit Haut und Haaren einer modischen Leittheorie zu verschreiben. Dass die Aufregungen älterer Debatten dem Gestus, „viele Blumen blühen zu lassen“, Platz gemacht haben, hat freilich auch einen Preis: Die theoretische Diskussion hat zurzeit ihren Fokus verloren. Wo vieles möglich ist, sind begründete Entscheidungen weniger gefragt. Wo es keine Festlegungen mehr zu geben braucht, verschwimmen die Kriterien.

Jörg Baberowskis Buch spiegelt die Stärken und Schwächen der derzeitigen Lage. Es ist aus einer Vorlesung über „Theorien der Geschichte“ an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen, die sich offenbar das oben erwähnte Ziel gesetzt hatte, den Studierenden einen breiten Überblick über verschiedene theoretische Zugänge zur Geschichte zu bieten. Für das Buch ist dieser enzyklopädische Zugang erhalten geblieben, und das erweist sich als ein gravierender Nachteil. Denn es fehlt ein Reflexionsschritt, den eine Einführungsvorlesung nicht unbedingt vollziehen muss, der aber einem zusammenhängenden Text erst die nötige Kohärenz vermittelt hätte: Das Buch begründet die Auswahl der behandelten Ansätze nicht (und vor allem nicht die Auslassungsentscheidungen); es verfolgt keine wirklich klare Fragestellung, und es bezieht dadurch die Diskussion der herangezogenen Theoretiker nicht eng genug aufeinander.

Ein prinzipielles Problem scheint mir bereits zu sein, dass Baberowski seine grundlegenden Kategorien der „Geschichtsphilosophie“, der „Theorie der Geschichte“ und der „Theorien in der Geschichtswissenschaft“ nicht präzisiert und zuweilen unterschiedslos verwendet. Das wirkt sich unmittelbar auf die Auswahl der Personen und Konzepte aus, die in diesem Buch eine Rolle spielen. Das lange Kapitel über Hegel könnte man als Versuch lesen, Geschichtsphilosophie als eine materielle Deutung der Historie unter modernisierten Vorzeichen zu rehabilitieren und die Verantwortung für den „Sinn der Geschichte“, wie es im Titel heißt, vom „Weltgeist“ auf den vergesellschafteten Menschen zu übertragen. Aber kommt man dann ohne eine Diskussion Nietzsches aus? Die Diskussion des Historismus wiederum schlägt einen eher methodologischen Ton an und konzentriert sich auf den altbekannten Vorwurf eines quellengläubigen, antiphilosophischen Objektivismus, während einige der zentralen Rankezitate überdeutlich auf den Zusammenhang von Humanismus und religiöser Transzendenz verweisen, der Rankes gewiss nicht weniger philosophische Antwort auf Hegel darstellte (wie auch immer man das beurteilen mag).

Wird der Historismus schon unter Wert geschlagen, kommt Karl Marx noch weniger gut weg, wobei hier nun plötzlich das Menschenbild und Lebenskonzept der „Deutschen Ideologie“ im Mittelpunkt steht, der Geschichtsentwurf des „Manifests der Kommunistischen Partei“ und die Gesellschaftsdeutung des „Kapital“ aber überhaupt keine Rolle spielen und unter der benutzten Literatur auch nicht auftauchen. So bleibt als wenig überraschendes Fazit der Verweis auf eine eingeschränkte Auffassung Marx’ vom menschlichen Leben, mit der zum Beispiel eine Geschichte der Emotionen nicht zu schreiben sei. Die Lebensphilosophie war aber meines Wissens nie die erklärte Stärke der Marx’schen Theorie. Können dafür die Kapitalismuskritik und die Geschichtsdialektik unter den Tisch fallen?

In dieser Rezension ist es nicht möglich, auf jedes einzelne Kapitel einzugehen. Es folgen von Umfang und Interpretationsdichte sehr unterschiedliche Abschnitte über die hermeneutische Lebensphilosophie Diltheys und vor allem Gadamers, über einen auf seinen Objektivitäts- und Wirklichkeitsbegriff arg reduzierten Max Weber, über eine eher historiografisch porträtierte, praktisch arbeitende historische Schule, nämlich die französischen „Annales“, über Erinnerungstheorien und kollektives Gedächtnis, Clifford Geertz’ hermeneutische Ethnologie, Michel Foucault sowie die Neonarrativisten Hayden White und Frank Ankersmit. Es bleibt der Spekulation des Lesers überlassen, warum sich hier nicht nur geschichtsphilosophische Entwürfe neben methodologischen Erörterungen oder eher sozialtheoretischen Ansätze platziert finden, sondern auch geschichtsphilosophische, methodologische, erkenntnistheoretische und sozialtheoretische Aspekte der verschiedenen Ansätze äußerst ungleichgewichtig und manchmal beliebig akzentuiert werden. Das Fehlen wichtiger Theoriegruppen wie etwa der Praxistheorie Bourdieus oder Giddens’ oder auch der poststrukturalistischen feministischen Theorie und Philosophie fällt nur durch diese Inkohärenz nicht so störend ins Gewicht.

Baberowski kreist in seinen Kapiteln um mehrere Themen: die in Strukturen (vor allem kultureller, symbolischer Art) eingebundenen Menschen als Objekte der Geschichtswissenschaft; die Bedingungen historischer Erkenntnis und Sinngebung in einer Zeit, in der die Multiperspektivität und der Konstruktivismus von Geschichtswissenschaft weitgehend Anerkennung gefunden haben; schließlich der Nutzen der verschiedenen Ansätze für eine empirische Praxis des Historikers. Aber diese Themen schlagen keine Schneisen durch eine überwiegend an Personen und Werken festgemachte Theorielandschaft. Sie wechseln einander ab; häufig ist erstaunlich, welche Themenaspekte anhand welcher Autoren (und Werke) diskutiert werden. Dabei wäre es die Anstrengung wert gewesen, die behandelten Theorien anhand gleichgewichtig durchgehaltener Themenstränge zu organisieren.

So aber kommt es in den einzelnen Abschnitten zu manchmal überraschenden Wertungen – vor allem, wenn die Darstellung in die Kritik übergeht. Ebenso subjektiv muten die mehrfach unvermittelt auftauchenden Sperrfeuersalven aus Berlin gen Bielefeld an, die die überwunden geglaubte Polemik gegen rivalisierende Theoriepopanze wieder aufleben lassen. Die „Bielefelder Schule“ war aber weder für sämtliche strukturalistischen und deterministischen Verengungen in der weltweiten Geschichtswissenschaft verantwortlich noch ist sie in der derzeitigen Situation der einzige oder gar extremste Gegner, mit dem man diskutieren müsste. Umgekehrt kann man wohl Marx für die Gestalt, die die Sozialgeschichte seit 1945 hier zu Lande angenommen hat, nur schwer persönlich dingfest machen. Und auch von der Verantwortung für den zwischenzeitlichen Strukturrealismus der „webertreuen“ Sozialgeschichte sollte man den Idealtypenbegriff des alten Heidelberger Professors besser freisprechen.

So hinterlässt die Lektüre des Bandes einen zwiespältigen Eindruck, der auch von manchen gelungenen Passagen nicht geglättet wird. Vieles in dieser Darstellung verschiedener Geschichtstheorien ist unbedingt diskussionswürdig, bleibt aber „halb verdaut“. Bringt der neue Stil der Theoriedebatte mit sich, dass die sich beteiligenden Historiker letztlich nur noch mit ihrer ganz persönlichen „Best of“-Liste aufwarten? Dann wäre „Anschlusskommunikation“ kaum mehr möglich. Oder sind die Kriterien für eine weiterführende, vergleichende Auseinandersetzung über Theorie in der Geschichtswissenschaft tatsächlich verloren gegangen? Dann könnte sich Baberowskis eigentümliches Fazit über Weber als allgemeine Prognose erweisen: „Wo sich Historiker zwischen den Begriffen und der Wirklichkeit aufhalten, können sie am Ende über ihre Erkenntnisse nicht mehr sinnvoll nachdenken.“ (S. 139)

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