Cover
Titel
Building Utopia. Erecting Russia's First Modern City, 1930


Autor(en)
Austin, Richard Cartwright
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Gestwa, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Am 31. Mai 1929 unterzeichnete der Oberste Volkswirtschaftsrat der Sowjetunion mit der Ford Motor Company einen Vertrag im Volumen von 30 Millionen Dollar, um in der Wolgastadt Nischni Nowgorod (1932 in Gorki umbenannt) Europas größte Automobilfabrik aufzubauen. Hier sollten jährlich 30.000 Autos und 70.000 Pickup Trucks und Lastwagen produziert werden. Das Geschäft schien für beide Seiten einträglich zu sein. Ford konnte seine alten Produktionsstraßen verkaufen und die Sowjetunion erhielt neben dem maschinellen Equipment das notwendige Know How, um selbst Autos, Trucks und Lastwagen produzieren zu können. Das schien der sowjetischen Führung nicht zuletzt aus strategischen und militärischen Gesichtspunkten dringend geboten. Ford wurde damit zum Geburtshelfer der sowjetischen Automobilindustrie. Deren Herzstück blieb der zwischen 1929 und 1932 an der mittleren Wolga entstehende sowjetische Fabrikriese. Bekannt unter der Abkürzung GAS (Gorkowski Awtomobilny Sawod), fertigte er noch in den 1960er-Jahren Fahrzeugtypen mit Hilfe der von Ford importierten Produktionsanlagen.

Interessantes Material zur Geschichte von GAS bietet zweifellos das vorliegende Buch. Sein Verfasser veröffentlicht darin lange Auszüge aus den Briefen seines Vaters, die dieser seinen Eltern schrieb. Der Briefeschreiber Allan Austin war der Sohn des Präsidenten des damals bedeutendsten amerikanischen Bauunternehmens (Austin Company), das die Aufgabe übernommen hatte, die Planungs- und Bauarbeiten des „sowjetischen Detroits“ zu überwachen. Zusammen mit einem Team von 20 amerikanischen Ingenieuren reiste er deshalb im Juni 1931 nach Nischni Nowgorod.

Die kommunistische Ideologie übte auf Austin keinerlei Anziehungskraft aus. Doch vor dem Hintergrund der scheinbar aus der Zarenzeit überlieferten Rückständigkeit stellte sich ihm das neue Sowjetregime als „most favorable“ dar (S. 43). Der forcierte Wandel diente offensichtlich einem „ultimate good. I credit Russians with supreme courage and unqualified zeal in carrying forward their ideals” (S. 150). Austins Erfahrungen waren stark geprägt vom Enthusiasmus für die stalinistische Industrialisierungs- und Umgestaltungspolitik, den die Moskauer Studentinnen zeigten, die für ihn die notwendigen Dolmetscherarbeiten übernahmen. Verbunden mit der Ignoranz und Arroganz moderner Sozialtechnokraten und selbsternannter Kulturträger, führte dies zu Fehlwahrnehmungen und einer politischen Naivität, die heute kaum mehr verständlich ist, damals aber doch weitverbreitet war.

Austins mangelhaftes Gespür für die Bedeutung russischer Traditionen und seine politische Leichtgläubigkeit zeigt sich vor allem in der Behandlung der Kirchenfrage. Er maß die russisch-orthodoxe Kirche an den Werten und Praktiken der amerikanischen Methodisten, denen er sich zugehörig fühlte. So lässt sich in den Briefen Austins ein gewisses Verständnis für die Zerstörungen orthodoxer Kirchen genauso wenig überlesen wie seine Sympathie für die jungen Sowjetmenschen, die sich, angewidert vom orthodoxen Klerus, von der christlichen Religion ab- und dem Kommunismus mit seiner irdischen Heilslehre zuwandten (S. 146ff.).

Als es wegen des schleppenden Fortgangs der Bauarbeiten im April 1931 auf der Großbaustelle zu Schauprozessen gegen diejenigen kam, die sich – so die Anklage – zu wenig um die Umsetzung von Neuerungsvorschlägen bemüht hätten, interpretierte Allan Austin dies als notwendige „Attacke auf Bürokraten“ und übersah, dass es bei diesen Kampagnen vor allem darum ging, Sündenböcke zu finden, um vom Versagen der Politik und von evidenten Systemdefiziten abzulenken (S. 181).

Austin war aber keineswegs nur ein verblendeter Industrialisierungsromantiker, dem es verwehrt blieb, sich ein wahres Bild von den sowjetischen Realitäten zu machen. Nach drei Monaten schrieb Austin seinem Vater: „What I see is enough to call this a City of Dreams, Utopia, Bolsheviks’ Nonsense.“ (S. 75) Besonders machte ihm der fundamentale Widerspruch zwischen der als fortschrittlich gepriesenen „Austin Methode“ und den sowjetischen Bau- und Montagepraktiken zu schaffen. Während es bei der „Austin Methode“ auf die hohe Qualität der Arbeit und der verwendeten Werkstoffe, auf die sorgsame Umsetzung der Pläne und Perfektion bis ins Detail ankam, ging es den sowjetischen Bauleitern vor allem darum, in Rekordzeit Ergebnisse zu erzielen. Dabei wurden hohe Risiken eingegangen. Weder auf Ausrüstung noch auf die Belegschaft nahmen die Bauleiter Rücksicht.

Im fanatischen Wettkampf gegen widrige Verhältnisse und die davoneilende Zeit schienen die Planziele, die zugleich Befehl und Fiktion waren, alle Mittel zu rechtfertigen. Beim überhitzten Tempo nahmen die Verantwortlichen in Kauf, die wachsenden Quantitäten mit sinkender Qualität teuer zu bezahlen. Auf der Großbaustelle in Nischni Nowgorod waren darum bald Wirtschaftsgesetze außer Kraft gesetzt. Handwerkliche Grundregeln blieben unbeachtet. Knappe Ressourcen wurden durch ökonomische Maßlosigkeiten und wirtschaftsdirigistische Absurditäten sinnlos vergeudet. Aber nicht nur das ökonomische, sondern auch das soziale Leben litt unter Unerfahrenheit und Inkompetenz. So stand der glamouröse Arbeiterklub, das kulturelle Zentrum der Großbaustelle, häufig leer, weil die Bediensteten nicht wussten, wie der Filmprojektor zu bedienen und ein attraktives Programm zu organisieren war.

Während die Automobilfabrik mit erheblichen Mängeln 1932 planmäßig in Betrieb ging, wurde das Konzept der „sozialistischen Stadt“ schon bald von den ökonomischen Realitäten eingeholt. Nachdem am Bau der modernen Arbeitersiedlung fortschreitend Abstriche gemacht worden waren, legten es die Verantwortlichen schließlich ganz zu den Akten. Zahlreiche Häuserblöcke wurden lediglich als „vorübergehende Wohnheime“ fertiggestellt, die nicht an zentrale Ver- und Entsorgungssysteme angeschlossen waren und damit den Fabrikarbeitern äußerst widrige Lebensverhältnisse zumuteten (S. 167ff.). Frustriert von den Misslichkeiten sowjetischer Planwirtschaft und vom bolschewistischen Größenwahn, verließ Austin im Sommer 1931 Nischni Nowgorod.

Die Geschichte Allan Austins und anderer wirft für den sachkundigen Experten kaum neues Licht auf die „Soviet modernity under construction“. Auch die Starthilfe, die von den USA bei der Entstehung des stalinistischen Systems geleistet wurde, ist längst kein sensationeller Befund mehr, der Aufmerksamkeit erregt. Der Grund, warum das vorliegende Buch dennoch Beachtung finden wird, liegt zum einen in seiner aufwendigen Gestaltung. Das Fotomaterial ist beeindruckend. Zum anderen sind Austins Briefe an seinen Vater einzigartige Dokumente. Sie lesen sich wie ein spannendes Tagebuch, das nicht nur die persönliche Seite einer interessanten Geschichte erzählt, sondern mit seinem "day-by-day narrative" (S. 1) darüber hinaus Einblicke vermittelt, wie die "Erbauer des Sozialismus" zwischen Begeisterung und Verblendung, Enthusiasmus und Frustration die Genese des Stalinismus erlebten.

Austins Buch, das als gut kommentierte Dokumentensammlung konzipiert ist, liefert nicht zuletzt jenen HistorikerInnen gewichtige Argumente, die den nationalen Tunnelblick als zu beschränkt ablehnen und fordern, die Verwobenheit der modernen Welt stärker in den Blick zu nehmen.1 Einerseits waren die Industrienationen im 20. Jahrhundert durch gemeinsame Erfahrungen, Interaktionen und Interdependenzen gekennzeichnet, anderseits aber auch durch ein starkes Bedürfnis nach Abgrenzung. An den verstörenden Erfahrungen amerikanischer Ingenieure und Arbeiter, die sie bei ihren Begegnungen mit der Moderne stalinistischen Zuschnitts machten, lässt sich solch eine Dynamik ablesen. Das anfängliche Gefühl der Ähnlichkeit wich bald dem der Differenz. Die Sympathie für die sowjetische Brachialindustrialisierung schlug in einen rigiden Antikommunismus um, der umso stärker wurde, als die Kremlchefs nach 1945 von ihrem vormaligen „Amerikanizm“ nichts mehr wissen wollten und mit ihrer aggressiven Überholrhetorik die Einzigartigkeit und Überlegenheit ihres Zivilisationsmodells betonten.

Anmerkungen:
1 Randeria, Shalini, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen u.a. (Hgg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt 1999, S. 87-96; Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini, Geteilte Geschichte – Europa in der postkolonialen Welt, in: Dies. (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 9-49.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension