Fernab von vordergründigen Pauschalisierungen, wie sie mitunter im Rahmen der Debatte um die NSDAP-Mitgliedschaft der Germanisten Walter Jens und Peter Wapnewski im Zuge des Erscheinens des Germanistenlexikons stattfanden, befasst sich Andreas Pilger in seiner jüngst erschienen Dissertation mit der Geschichte der Germanistik an der Universität Münster. Den Schwerpunkt seiner Arbeit legt Pilger, ebenso wie ein Gros der Forschung zur Fachgeschichte, auf die Zeit des Nationalsozialismus. Indem er aber diese Phase zeitlich einbettet, können die wesentlichen Entwicklungslinien des Fachs vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1960er-Jahre explizit werden. Pilger weist damit die vieldiskutierte Kontinuität - trotz beobachtbarer politisch motivierter Brüche - in der deutschen Germanistik am Beispiel Münsters nach. Seine Beschränkung auf ein Institut ist somit keinesfalls ein Mangel. Vielmehr vollzieht er durch diese Konzentration eine bemerkenswert tiefgehende Analyse, die ihm nicht nur umfassende, sondern auch äußerst differenzierte Schlüsse ermöglicht, womit die Arbeit auch über die Münsteraner Fachgeschichte hinaus von größtem Interesse für die Wissenschaftsgeschichte ist. Pilger beschränkt sich nicht auf die Beschreibung des Agierens einzelner Personen, sondern bezieht inhaltliche ebenso wie strukturelle Aspekte in die Untersuchung mit ein. Zudem stellt er die Geschichte der Münsteraner Germanistik in den Kontext des jeweiligen Wissenschaftsdiskurses, so dass eine Vielzahl der Erkenntnisse seiner Arbeit allgemeine Gültigkeit für die Entwicklung der deutschsprachigen Germanistik im 19. und 20. Jahrhundert beanspruchen können.
Pilger strebt mit seiner Arbeit die umfassende Rekonstruktion der germanistischen Fachgeschichte in Münster an. Sein Ziel ist es, die wechselseitige Verbindung von Wissenschaftlern und den vermittelten Inhalten darzustellen. Um umfassende Deutungsperspektiven einnehmen zu können, verwendet er einen organisationsanalytischen Ansatz, der die Systemtheorie Niklas Luhmanns integriert und es damit ermöglicht, die Wissenschaftsentwicklung in ihrem gesellschaftlichem Kontext darzustellen. Einem chronologischen Aufbau folgend, werden in den ersten beiden Kapiteln die Anfänge und die Phase der Institutionalisierung des Faches bis zum Ersten Weltkrieg besprochen. Danach folgen die umfangreichen Abschnitte zur Germanistik in der Weimarer Republik - als Phase von „Expansion und methodischer Sinnsuche“ (S. 111) - sowie zur „strukturellen und inhaltlichen Neukonzeption“ (S. 275) des Fachs im Nationalsozialismus. Das abschließende Kapitel umfasst die personell wie inhaltlich kontinuierliche Weiterentwicklung des Fachs nach 1945.
Innerhalb der Kapitel erfolgt eine Gliederung nach Organisationsstruktur des Seminars, inhaltlichen Konzeptionen sowie der Darstellung von Wissenschaftlern und ihrem methodisch-inhaltlichen Wissenschaftsverständnis. Nicht zuletzt die Vielfalt der Quellen, die Pilger für seine Untersuchung heranzieht, ermöglicht die beeindruckende Tiefe der Darstellung. Neben Akten v.a. der Universität, des Kultusministeriums sowie vielen Nachlässen trägt hierzu insbesondere das kenntnisreiche Auswerten der Publikationen des wissenschaftlichen Personals bei.
Zum Inhalt der Arbeit. Wichtige Schritte zur Entstehung einer eigenständigen Germanistik in Münster waren 1859 die Einrichtung eines Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur und 1895 die Konstituierung der Germanistik als eigenständiges Seminar. Die methodische Ausdifferenzierung erfolgte in Anlehnung an die Klassische Philologie, doch gewann seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Neugermanistik an Bedeutung. 1910 mündete diese Entwicklung in der Aufteilung des Seminars in zwei Abteilungen für ältere und neuere deutsche Philologie.
Die Neugermanistik war auch in Münster die „treibende Kraft“ (S. 119) bei der Erschließung neuer Themen sowie jener geistesgeschichtlichen Methoden, die eine Kontextualisierung von Dichtung forderten und den Bedeutungsaspekt in den Mittelpunkt rückten. Dabei zeigt Pilger eindrücklich, dass es v.a. junge Akademiker waren, die auf Grund von starkem Konkurrenzdruck neue Inhalte vertraten und bei der Entwicklung neuer methodischer Ansätze besonders produktiv waren. So wurde die geistesgeschichtliche Betrachtung in Münster in den 1920er-Jahren v.a. durch die beiden Privatdozenten Paul Kluckhohn und Leopold Magon vorangebracht. Von der Neugermanistik ausgehend kam es ebenfalls in den anderen Teilbereichen der Germanistik zu Veränderungen, so im Bereich der sich gerade entwickelnden Sprachwissenschaft und der Dialektologie. Ein Gewinn von Pilgers Arbeit ist es, auch diese Bereiche statt der üblichen Fixierung auf die Neugermanistik im Blick zu haben.
Die nationalsozialistische Machtübernahme führte auch in Münster zur Einführung des Führerprinzips. Bei der Durchsetzung der politischen Vorgaben gab es jedoch, so Pilger, eine Reihe von Problemen. In der Folge sei so nach der Formierungs- und Stabilisierungsphase ein Fortleben der akademischen Traditionen zu konstatieren gewesen. Dies begründet Pilger zum einen mit dem polykratischen Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Zum anderen blieben die korporativen Strukturen und das kollegiale Prinzip soweit bestehen, dass es eine Reihe von Freiräumen gab, die individuell verschieden genutzt wurden. Die Germanistik - aus Sicht der Nationalsozialisten ein ‚bedeutungsmäßig so zentrales Fach’ - erfreute sich einer Förderung in personeller wie finanzieller Hinsicht. So erfolgte 1940 die Schaffung einer Abteilung für Nordistik, und bereits 1936 wurde ein zweiter literaturwissenschaftlicher Lehrstuhl für „Dichtung der Grenz- und Auslanddeutschen vor allem im Osten“ eingerichtet, der mit Heinz Kindermann besetzt wurde. Die Berufung des nationalsozialistisch engagierten Literaturwissenschaftlers war eine Reaktion auf das traditionell stark katholische Milieu in Münster, das in dem renommierten Neugermanisten Günther Müller eine Integrationsfigur besaß. Müller hatte seine Veranstaltungen zwar äußerlich der politischen Situation angepasst, vertrat jedoch weiterhin eine Literaturwissenschaft, als deren „grundlegenden Bezugspunkt“ (S. 372) Pilger den Katholizismus identifiziert. Die Nationalsozialisten befürchteten einen „Multiplikator-Effekt“ (S. 382), und so wurde Müller 1942 endgültig zwangspensioniert. Sein Nachfolger wurde Benno von Wiese. Der Versuch jedoch, Kindermann und dessen „volkhafte Lebenswissenschaft“ (S. 384) als Gegenpol zu Müller zu installieren, scheiterte. Kindermann war nur formal die führende Figur am Seminar, ihm fehlte es an kollegialem Rückhalt ebenso wie an Schülern.
Die Verzögerungen beim Vorgehen gegen Müller basierten zu großen Teilen auf dem Engagement von Kollegen. So setzte sich der konservative und elitär denkende Altgermanist Jost Trier nicht zuletzt in seiner Funktion als Dekan für Müller ein. Trotz seines offiziellen Bekenntnisses zum NS-Staat wandte sich Trier gegen jegliche politisch motivierte Einmischung in universitäre Belange und wurde auch nach 1945 im Amt bestätigt. Dort verfolgte er sein Programm einer Autonomie der Wissenschaft weiter - nun allerdings im Einsatz für den nationalsozialistischen Literaturwissenschaftler Henning Brinkmann, den er 1957 tatsächlich nach Münster holen konnte.
Gerade an diesen Vorgängen während und unmittelbar nach dem Nationalsozialismus zeigt sich auch in Pilgers Arbeit die Schwierigkeit einer Trennung von Wissenschaft und Politik. An einer Vielzahl von Beispielen wird deutlich, wie der Versuch einer solchen Trennung tatsächliche Freiräume innerhalb eines politisch repressiven Systems schaffen konnte. Gleichzeitig wird dieses Konzept jedoch fraglich, wenn nach 1945 eine Beschäftigung nationalsozialistisch engagierter Personen durch eine strikte Berufung auf die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht wird. Hierfür ist Münster keinesfalls ein Einzelfall, denn auch Theodor Frings bot 1953 Henning Brinkmann eine Position an der Universität Leipzig an. An Pilgers Forschungsergebnissen wird deutlich, wie eine solche, vordergründig unpolitische Haltung, aber auch die Langlebigkeit persönlicher wissenschaftlicher Netzwerke zu Kontinuitäten in der Germanistik über politische Systemwechsel hinweg führte.
Pilger geht in seiner Argumentation jedoch so weit, dass er wissenschaftliche Arbeiten, die sich explizit in den Dienst der Politik stellten und damit die Trennung von Wissenschaft und Politik aufhoben, als aus dem System Wissenschaft exkludiert ansieht (S. 367). Damit erteilt er der Beschäftigung mit jenen „eindeutigen“ Fällen der Germanistik im Dritten Reich eine deutliche Absage. Dies soll zwar den Blick schärfen für die subtilen Entwicklungen in der Geschichte der Germanistik, doch geschähe dies um den Preis einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes, was aus meiner Sicht sicherlich diskussionswürdig ist. Durch den Blick auf „die Grautöne zwischen den Extremen“1, wie es Holger Dainat formulierte, steht Andreas Pilgers Arbeit im Rahmen eines möglichen Wendepunkts in der Wissenschaftshistoriografie. Die hier vorgeführte Verknüpfung von institutionen-, fach- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten auf der Basis empirisch fundierter Analysen und Interpretationen könnte Vorbildcharakter für die weitere Erforschung nicht nur der Geschichte der Germanistik haben.
Anmerkung:
1 Holger Dainat; Lutz Danneberg (Hgg.), Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen 2003, S. 8.