L. Häfner: Gesellschaft als lokale Veranstaltung

Titel
Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan' und Saratov (1870-1914)


Autor(en)
Häfner, Lutz
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Feest, Sonderforschungsbereich 640 (Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel), Humboldt-Universität zu Berlin

Jeder Versuch, die Gesellschaft des russischen Imperiums im 19. Jahrhundert mit Begriffen zu beschreiben, die im westeuropäischen Kontext entwickelt wurden, läuft Gefahr, in einer reinen Mangelgeschichte zu resultieren. Diese Bemerkungen sind mittlerweile fast schon ein Allgemeinplatz. Viel weniger Einigkeit besteht darüber, mit welchen Begriffen die Gesellschaft denn beschrieben werden könne und welche methodischen Zugänge dabei am adäquatesten seien. Sind die russischen Phänomene so einzigartig, dass sie ein ganz eigenes methodisches Instrumentarium fordern und damit einen Vergleich mit westeuropäischen Phänomenen völlig entzogen werden?

Lutz Häfner hat sich in seiner Habilitationsschrift die Aufgabe gestellt, Funktionsweisen der lokalen Gesellschaft in der Provinz des russischen Imperiums zu beschreiben, ohne in die besagte Falle zu treten. Als Fallbeispiele dienen ihm die Provinzhauptstädte Kazan und Saratov, deren gesellschaftliches Leben er auf einer breiten Quellenbasis von 1870 bis 1914 nachzeichnet. Dabei will der Autor auf sozialwissenschaftliche Modelle nicht verzichten. Auch sucht er durchaus, an die in der westeuropäischen Geschichtsschreibung geführten Diskussionen über Vergesellschaftungsprozesse anzuschließen. Doch beginnt er die Untersuchung damit, ausführlich die Kernbegriffe dieser Forschung auf ihre Anwendbarkeit im russischen Kontext abzuklopfen.

Entsprechend breit werden Konzepte wie Bürgerlichkeit, bürgerliche Gesellschaft und Bürgertum und „middle classes“ auf einer theoretischen Ebene diskutiert. Mit guten Gründen kritisiert Häfner, die Anwendung der letzteren beiden sei in der Russland-Forschung bislang kaum über (meist unbefriedigende) sozialstratigrafische Zuschreibungskriterien hinausgekommen. Die kulturellen Integrationsmechanismen, das habituelle Moment in Prozessen der Vergesellschaftung sei nur unzureichend thematisiert worden. Hier setzt seine eigene Forschung an. Da in Russland die übergreifenden integrativen Formationen von Liberalismus, Nationalismus und neuhumanistischem Bildungsideal kaum wirksam gewesen seien, müsse den „Integrationsmechanismen mittlerer Reichweite“ nachgespürt werden, die nur auf lokaler Ebene vergesellschaftend wirkten. Damit rückt er auch von der Großkategorie „Zivilgesellschaft“ ab und wendet sich konkreten Formen der Vergesellschaftung zu.

Bei aller Kritik an rein sozialstratifikatorischen Verfahren nehmen diese auch in Häfners Buch einen nicht unbeträchtlichen Raum ein. Minutiös zeichnet der Autor die Bevölkerungsentwicklung der behandelten Städte nach Ethnie, Beruf, Einkommen, Mietpreisen, Lebenshaltungskosten und -stil nach und lässt auch die topografischen und klimatischen Grundbedingungen nicht unerwähnt. Daran ist an sich auch nichts auszusezten, doch wird nicht immer deutlich, welche Rolle diese Daten in der Argumentation des Buches einnehmen. An einigen Stellen entsteht der Eindruck, Häfner wisse auf ihrer Grundlage bereits, was die „lokale Gesellschaft“ ist, bevor er sie in Beziehung zu Erscheinungen wie Presseöffentlichkeit oder Assoziationswesen setzt. An anderen Stellen aber scheinen erst Letztere eigentlich konstitutiv für sie zu sein. Die innere Seite dieser Vergesellschaftungsprozesse wird jedoch eher konstatiert als beschrieben. So zeigt Häfner aufgrund einer Fülle von Material die quantitative Entwicklung der Presse, die soziale Stellung der Herausgeber, die „rechtlichen Determinanten und Zensurpraxis“ und belegt dabei auch die personellen Interpendenzen zu anderen Betätigungsfeldern wie Selbstverwaltungen, Parteien oder Vereinen. Das kollektive identitätsbildende Moment bleibt jedoch unklar, schon weil die Quellen eben nicht hergeben, wer „was, wie, wo und warum las“ (S. 124).

Ein ähnliches Grundproblem stellt sich bei der Untersuchung des Assoziationswesens, obwohl sich der Autor zunächst von allzu technischen Begriffen abgrenzt. Er bevorzugt das französische, anthropologisch geprägte Konzept der „Soziabilität“, das jede Art von Geselligkeit umfasst und auch die organisatorische Seite mit einschließt. Doch hier scheinen die weit reichenden Thesen mitunter in erster Linie aus der breit rezipierten theoretischen Literatur zu stammen, während die Beweisführung oft deklarativ wirkt. Wenn etwa behauptet wird, der Verein sei „die Institution schlechthin“ gewesen, „die zu Konnubium und Kommensalität, zur Herausbildung und Einübung einer nicht mehr allein auf den Adelsstand beschränkten Kultur beitrug, gleichsam als Multiplikator von Regeln zivilisierten Betragens und von Konventionen agierte, somit also normativ auf Leben und Umfangsformen wirkte“ (S. 273), so wüsste man gerne mehr darüber, worin die neuen Umfangsformen, Konventionen und Verhaltensweisen eigentlich bestanden. Doch bleibt die Behauptung, dass diese Gemeinschaft schaffen, rein funktional.

Auch hier mag die Beschränkung ein Problem der verwendeten Quellen sein. Mit dem Übergang von vorpolitischen zu politischen Organisationsformen verringert sich auch bei Häfner die Kluft zwischen Behauptungen und Belegen, da nun die programmatische und organisatorische Seite in den Vordergrund tritt. Zwar kam es zu keiner politischen Ausdifferenzierung der Vereine, doch wurden einige Vereine zu wichtigen Foren konstitutioneller, besonders nach 1906 aber auch durchaus reaktionärer Ideen. Auch waren viele Mitglieder der „lokalen Gesellschaft“ in der Kommunalpolitik tätig, wie in einem eigenen Kapitel ausführlich dargestellt wird. In den Stadtdumawahlen von 1870 und 1890 in Kazan und Saratov änderte sich nicht nur die Sozialstruktur der Stadtverordneten, sondern erhielt mit den so genannten „nowodumzi“ auch ein neuer Politikstil Einzug, bei dem nicht mehr das klassische Klientelwesen im Mittelpunkt stand, sondern pragmatische Forderungen mit starker sozialpolitischer Ausrichtung gestellt wurden. Bei allen Unterschieden teilte man jedoch den „Wertekanon der lokalen Gesellschaft“.

Zu dieser Integration habe auch Kultur in einem engeren Sinne beigetragen, der Häfner ein eigenes Kapitel widmet und der er eine wichtige Rolle bei der Neuformierung der lokalen Gesellschaft beimisst. Sozial offene kulturelle Institutionen wie Theater oder Clubs hätten tradierte Instiutionen ersetzt. Auch sei die Übernahme von Statussymbolen durch die aufstrebende Kaufmannschaft Teil einer allmählichen Amalgamierung mit den alten Eliten gewesen. Ob am Ende dieser Entwicklung ein „von der Masse geteilter kultureller Konsens“ (S. 454) hätte stehen können, ergibt sich freilich nicht zwingend aus den vorgebrachten Beispielen, ist aber Ausweis einer bemerkenswert optimistischen Einschätzung der eigenständigen Integrationskräfte in der Provinz.

So ist es dann auch ein wichtiges Verdienst des Werkes, der von Dietrich Geyer konstatierten „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“ eine „Gesellschaft als lokale Veranstaltung“ gegenübergestellt zu haben. Es wird deutlich, dass es in der Provinz gesellschaftliche Kräfte gab, die eigene Ordnungsvorstellungen entwickelten und praktizierten. Gleichzeitig sind die Einschränkungen auch dem Autoren bewusst: Die lokale Gesellschaft war mit etwa zwei Prozent der Stadtbevölkerung sehr klein. Und außerhalb der urbanen Zentren sahen die Dinge ganz anders aus.

Obwohl die Argumentation in großen Zügen überzeugen kann, ist ihre Struktur im Einzelnen nicht immer einleuchtend. Allgemeine Aussagen stehen häufig isoliert da und werden trotz der eindrucksvollen Menge an Material nicht aus den Beispielen erarbeitet. Dies wird besonders bei den Abschnitten über das Vereinswesen deutlich: Theoretische Thesen darüber, was Vereine idealiter leisten, sind nicht klar getrennt von Aussagen über die Bedeutung von Vereinen in Russland oder von jenen in den Fallbeispielen. Hinzu kommt die irritierende Praxis des Autoren, abstrakte Behauptungen mit Archivsigeln zu belegen, die keinerlei Rückschlüsse auf den Inhalt des Belegs zulassen. Und zuletzt mindert seine Vorliebe für Substantivierungen und komplexe (mitunter obskure) Bandwurmsätze stellenweise die Freude an der Lektüre. Dennoch ist das Werk ein wichtiger Beitrag, um einige gängige Vorurteile über die unterverwaltete Provinz des russischen Imperiums geradezurücken.

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