Im Zweiten Weltkrieg verloren nach groben Schätzungen etwa 55 Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben. Von ihnen fielen weit mehr als 10 Millionen Juden, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Bürger zahlreicher anderer Nationen gezielten nationalsozialistischen Mordaktionen zum Opfer. Vor dem Hintergrund der schwerwiegenden deutschen Verbrechen war die Kriegsführung der Siegermächte lange Zeit weitgehend unumstritten. Heute ist der Einsatz militärischer Gewaltmittel, aber auch die Beurteilung von damaligen Entscheidungen der Alliierten kritischeren Fragen ausgesetzt. 60 Jahre nach Kriegsende richtet sich die Aufmerksamkeit in Deutschland verstärkt auf die deutschen zivilen Opfer. Dabei wird oft vergessen, nach den Zielen und Handlungszwängen der kriegführenden Mächte zu fragen. Diesem Defizit der öffentlichen Debatte setzen zwei Bücher zur Bombardierung Dresdens präzise Analysen der historischen Zusammenhänge entgegen.
Während der alliierten Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis 15. Februar 1945 starben mindestens 25.000 Menschen. Besonders der von der britischen Royal Air Force (RAF) mit Brandbomben gezielt entfachte Flächenbrand, der das Stadtzentrum völlig zerstörte, die große Zahl getöteter Zivilisten, die relativ geringen Schäden an industriellen und direkten militärischen Zielen sowie nicht zuletzt der Umstand, dass der Angriff nur wenige Wochen vor Kriegsende erfolgte, veranlassen viele Menschen, von einem Akt militärisch sinnlosen Terrors und schweren Kriegsverbrechen zu sprechen. Rechtsradikale und Neonazis verfälschen die Opferzahlen auf Hunderttausend und mehr und bezeichnen das Bombardement als „anglo-amerikanischen Bomben-Holocaust“. Wird aber die auch von anderer Seite vorgetragene Aussage, dass „die Vernichtung Dresdens und die Tötung eines großen Teils der städtischen Zivilbevölkerung im Februar 1945 militärisch sinnlos und nicht durch die allgemeinen Regeln des Kriegsvölkerrechts gedeckt“ gewesen seien1, der historischen Konstellation gerecht? Das retrospektive Urteil steht in der Gefahr, die Komplexität historischer Abläufe ungenügend zu berücksichtigen.
Der britische Historiker Frederick Taylor ist sich dieser Schwierigkeit bewusst; er stellt bereits im Titel seiner Untersuchung „Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror?“ die entscheidende Frage. Unmittelbar nach dem Erscheinen des Werkes in englischer Sprache (ebenfalls 2004) wurde ihm vorgeworfen, er wolle die Zerstörung Dresdens rechtfertigen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe erklärt er unmissverständlich: „Der eigentliche Zweck dieses Buches ist die Beschreibung eines Ereignisses, an dem mit erschreckender Klarheit deutlich wird, was zivilisierte Europäer (und Amerikaner) bis zum Jahre 1945 einander anzutun fähig geworden waren.“ (S. 16) Taylor entschuldigt mit keinem Wort die Gewalt. Er recherchierte in den Archiven und sprach mit Zeitzeugen, um die verschiedenen Perspektiven darzustellen. Im Unterschied zu Publikationen, die sich in Vermutungen und Spekulationen ergehen, breitet er die Fakten aus, damit sich der Leser ein eigenes Urteil bilden kann.
Taylor sieht sich Götz Berganders Standardwerk „Dresden im Luftkrieg“ von 1977 verpflichtet.2 Er beschreibt den Luftkrieg nicht als sich auf Dresden zuspitzendes Ereignis, sondern bettet den Einzelfall in den historischen Kontext ein. Er beginnt mit einigen knappen Kapiteln zur Geschichte Dresdens, um dann auf die Veränderungen in der Stadt während der Zeit des Nationalsozialismus einzugehen. Bei Taylor verschwinden nicht die Menschen in der Geschichte: Er schildert die Aufregung der Kinder inmitten einer begeisterten Menschenmenge in Erwartung des „Führers“ ebenso wie das Grauen des Malers Otto Griebel beim Anblick der verwüsteten jüdischen Geschäfte. Die Vorgeschichte der Luftkriegsstrategie und die Eskalation des Luftkrieges nehmen in seiner Darstellung breiten Raum ein. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt und der Niederlage Frankreichs befand sich Großbritannien in einer äußerst schwierigen Lage; bis zum Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion widersetzte sich einzig die RAF dem nationalsozialistischen Eroberungswillen.
Taylor beschreibt die Optimierung der Luftkriegstechnologien und ihre Unvollkommenheiten. Wegen hoher Verluste an ausgebildeten Piloten und Flugzeugen entschied die britische Luftwaffe, ihre Ziele vorwiegend im Schutz der Dunkelheit anzugreifen. Dementsprechend verzichtete sie auf Präzisionsangriffe und bevorzugte Flächenbombardierungen. Unter günstigen Bedingungen wirkte besonders eine Kombination von Spreng- und Brandbomben äußerst vernichtend. Der Zweck des verheerenden Brandangriffs auf Lübeck Ende März 1942 bestand darin, „in Erfahrung zu bringen, wie weit eine erste Welle von Flugzeugen durch Brandlegung eine zweite Welle zum Zielpunkt lenken“ könne. Er habe, so der britische Luftmarschall Arthur Harris, „damit die Feuer gehörig um sich greifen konnten, bevor die zweite Welle eintraf“, den Abstand von einer halben Stunde angeordnet (S. 156). Der Effekt dieser immer häufiger angewendeten Doppelschlag-Technik war von Zufällen abhängig, etwa von Wind und Wetter. Im Juli 1943 führte diese Taktik in Hamburg zum Feuersturm.
Noch lange nachdem die Allianz der deutschen Kriegsgegner durch die USA verstärkt und der Vormarsch der Wehrmacht gestoppt worden war, verliefen die Kämpfe für die Alliierten äußerst verlustreich. Den sicheren Untergang vor Augen, riskierte die nationalsozialistische Führung ihre Soldaten und sinnlose Todesopfer unter der eigenen Bevölkerung. Ihre Entscheidung, den Krieg nicht zu beenden, bezahlten Millionen auf beiden Seiten der Front mit dem Leben. Um die deutsche Verteidigungskraft zu schwächen, forcierten die alliierten Planungsstäbe den strategischen Luftkrieg. Im Herbst und Winter 1944/45 entstand bei ihnen der Eindruck, dass das gegnerische Kriegspotenzial keineswegs wie erhofft dezimiert worden war. Das lag zum einen an der unter größter Anstrengung zurückgeschlagenen deutschen Ardennen-Offensive und an den besonders im Osten hartnäckigen Abwehrkämpfen der Wehrmacht. Die Analysen zur Stimmungslage ergaben trotz aller Anzeichen von Kriegsmüdigkeit nur wenige Hinweise auf eine grundsätzliche Distanzierung zwischen der deutschen Zivilbevölkerung und dem nationalsozialistischen Regime.
Wie Taylor verdeutlicht, betrachteten Amerikaner und Briten deswegen noch in der Schlussphase die Bombardierung deutscher Städte als wichtiges Element der Kriegsführung. Der Angriff auf Dresden wurde für die Einwohner der Stadt besonders schicksalhaft, weil mehrere Faktoren kumulativ zusammen traten: massive Konzentration der alliierten Luftstreitmacht, Ausfall der deutschen Luftabwehr, günstige meteorologische Bedingungen, optimale Abstimmung der Angriffswellen sowie des Einsatzes von Brand- und Sprengbomben, mangelhafte Luftkriegserfahrung der Bevölkerung und eine leicht entflammbare Architektur, insbesondere aber die völlige Unzulänglichkeit der Schutz-, Brandbekämpfungs- und Rettungsmaßnahmen. Taylor gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden, sondern erklärt, wie es zu dem Inferno kam, und stützt seine Untersuchung auf sorgfältige Archivarbeit, auf bisher zum Teil nicht zugängliche Quellen, auf die Forschungsliteratur und auf zahlreiche Interviews. Seine sachliche Beschreibung zeigt eindrucksvoll, wie Menschen Entscheidungen treffen, die von anderen Menschen ausgeführt und von wieder anderen Menschen erlitten werden.
Taylor bemüht sich auch darum, Legenden wie diejenige von den massenweise ausgeführten Tieffliegerangriffen auf Überlebende zu widerlegen.3 Die Zählebigkeit von ideologisch motivierter Propaganda erweist sich nicht zuletzt, wenn – wie im Fall des Angriffs auf Dresden – unbewiesene und übertrieben hohe Zahlen der Todesopfer kolportiert werden: Obwohl Taylor sie unter Verweis auf die Aktenlage mit „mindestens“ 25.000 beziffert, vernachlässigen dies sogar einige seiner Rezensenten, die weiterhin von 35.000 Toten schreiben.4
Die Ursachen der mit der Zerstörung Dresdens verbundenen Mythologisierung aufzudecken ist das Anliegen der Autoren des Bandes „Das rote Leuchten“. In sechs chronologisch aufgebauten Kapiteln schlagen Oliver Reinhard, Sven Felix Kellerhoff, Götz Bergander und Matthias Neutzner den Bogen von den Anfängen des mit konventionellen Waffen geführten Bombenkrieges am Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis zu seiner Rezeption in der Öffentlichkeit. Sie arbeiten dabei die Eskalationsstufen des Krieges und der Propaganda heraus. Anfänglich wurden Bomben noch per Hand aus der Luft auf Bodenziele abgeworfen. Nach den mörderischen Materialschlachten des Ersten Weltkriegs träumten Militärstrategen davon, mit konzentrierten Luftschlägen nicht nur die Wirtschaftszentren des Gegners zu treffen, um künftige Kriege abkürzen zu können. Sie hofften, mit einer gezielten Ausschaltung gegnerischer Militärführungs- und Planungszentren auch die generelle Kriegsfähigkeit zur Disposition stellen und durch Errichtung eines militärischen Drohpotenzials zur Kriegsvermeidung beitragen zu können.
Reinhard erläutert, dass indessen kein international verbindliches Luftkriegsrecht den Schutz von Zivilisten garantierte. In den USA und in Großbritannien wurde mit dem Aufbau strategischer Bomberflotten begonnen, während die deutsche Luftwaffe andere Prioritäten setzte. Obwohl sich die deutsche Militärführung die Option taktischer Bombardements offenhielt, räumte sie den Panzerkorps Priorität ein. Sturzkampfbomber sollten den Vormarsch der Bodentruppen flankieren, Jagdflugzeuge die feindlichen Linien attackieren und den Luftraum abschirmen. Wie Kellerhoff schildert, schränkte die britische Bomberoffensive im Zweiten Weltkrieg die Operationsfähigkeit der deutschen Luftwaffe bald ein. Der Verlust personeller und wirtschaftlicher Ressourcen schwächte die deutsche Kampfkraft erheblich und trug zur Verkürzung des Krieges bei. Die Alliierten wollten mit den Bomben auf deutsche Städte außerdem den Durchhaltewillen der Einwohner brechen und die für die Versorgung der Front notwendige Infrastruktur zerstören. Beim Angriff auf Dresden am 13. Februar 1945 spielte auch die Überlegung eine Rolle, zur Unterstützung der Roten Armee den Verkehrsknotenpunkt Dresden auszuschalten und die eigene militärische Stärke zu demonstrieren.
Während Bergander die Erkenntnisse der Alliierten hinsichtlich der Dresdner Kriegswirtschaft referiert (Dresden wurde zunächst als ein nicht lohnendes Angriffsziel eingeschätzt), wendet sich Neutzner mit Blick auf die Medien und die Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit primär der ideologischen Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens zu. Er legt die Wurzel der zahlreichen Legenden in der Agitation von Nationalsozialisten und Kommunisten frei: Wenn davon gesprochen wird, Dresden sei ohne jede militärische Bedeutung gewesen, entspringt dies der nationalsozialistischen Propaganda – ebenso wie der Vorwurf an die Adresse der Alliierten, sie hätten Dresden ohne Notwendigkeit in Schutt und Asche gelegt und im Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Kriegsendes ein Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet. Der Terminus „anglo-amerikanischer Terrorangriff“ diente einer gezielten Wahrnehmungslenkung und Meinungsbeeinflussung mit antiwestlicher Stoßrichtung. Die Nationalsozialisten versprachen sich eine durchhaltestimulierende Wirkung auf die eigene Bevölkerung und eine günstige Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Ausland, die Kommunisten später integrierende Effekte für das sozialistische Weltbild. In der Systemkonkurrenz während des Kalten Krieges gebrauchten kommunistische Funktionäre das von der NS-Propaganda etablierte Adjektiv „anglo-amerikanisch“ ungeachtet seiner Herkunft.
Wie Taylor erweisen sich die Autoren von „Das rote Leuchten“ als einfühlsame und objektive Chronisten. Abgerundet wird der Band durch zahlreiche, teilweise bislang unveröffentlichte Fotografien, Zeitzeugnisse und private Aufzeichnungen aus dem Archiv der „Interessengemeinschaft 13. Februar“. Die Briefe, Tagebucheinträge und Notizen der Dresdner, die ihr Unglück und das der Stadt beschreiben, sind Dokumente der Klage und nicht Ausdruck einer Anklage. Den Herausgebern ist es gelungen, ein facettenreiches Bild zu zeichnen, das die gelegentlich sehr emotional geführte Opfer-Diskussion versachlicht, zugleich aber auch Stimmen der Trauer und Scham hörbar macht.
Anmerkungen:
1 So Ueberschär, Gerd R., Dresden 1945 – Symbol für Luftkriegsverbrechen, in: Wette, Wolfram; Ueberschär, Gerd R. (Hgg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 382-396, hier S. 392.
2 Bergander, Götz, Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte, Zerstörung, Folgen, 2., überarb. u. erw. Aufl. Weimar 1994.
3 Siehe dazu auch Schnatz, Helmut, Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit, Köln 2000 (rezensiert von Marcus Hanke: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3684>).
4 Die trotz der chaotischen Zustände um Genauigkeit bemühten Behörden in Dresden zählten etwa 25.000 Tote. Angesichts der Unmöglichkeit, sämtliche Opfer zu bergen und zu erfassen, ist auf der Basis der verfügbaren Quellen von einer maximalen Dunkelziffer bis zu weiteren 10.000 ungeborgener Todesopfer auszugehen. Vgl. Reichert, Friedrich, Fakten, Dokumente und Bilder über den Luftkrieg gegen Dresden 1944/45, in: Dresdner Geschichtsbuch 10, hrsg. von der Landeshauptstadt Dresden, Stadtmuseum Dresden, Altenburg 2004, S. 248-277. Im Klappentext von Taylors Buch heißt es in Anlehnung daran, „mindestens 25.000 Menschen wurden Opfer der Bomben und des Flammenmeers“, und im Text geht Taylor ausführlich auf die unterschiedlichen Zahlen ein. Rezensenten seines Buches geben allerdings statt der gesicherten Mindestzahl häufiger die vermutliche Obergrenze der Opferzahlen an.