Titel
Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte


Herausgeber
Diner, Dan
Reihe
Toldot
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Schlör, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Universität Potsdam

Der zweite Band der von Dan Diner für das Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur herausgegebenen Reihe „Toldot“ („eine Essay-Reihe, sich des hebräischen Wortes für Geschichte emblematisch bedient“) ist bereits Gegenstand wissenschaftlicher Kontroverse: Im FAZ-Feuilleton vom 5. Oktober 2005 bezeichnet Friedrich Niewöhner den Band „Paradoxe Moderne. Jüdische Alternativen zum Fin-de-Siècle“ von Yuri Slezkine – die deutsche Übersetzung eines Kapitels aus Slezkines Buch „The Jewish Century“ – als „Pamphlet“, das den Eindruck erwecke, sein Autor wolle „den rassischen Antisemitismus um 1900 rechtfertigen“.1 Die undifferenzierte Aufteilung der Welt „in zwei sozial- und kulturanthropologisch grundverschiedene Gruppen“, urbane und flexible „Merkurier“ versus bodenständige „Apollinier“, die Zuschreibung aller „moderner“ Eigenheiten an die Juden (oder aller „jüdischer“ Eigenschaften an die Moderne?) bei Slezkine wird auch von anderen Wissenschaftlern kritisch gesehen, wie Alexandra Kemmerer am gleichen Tag in der geisteswissenschaftlichen Beilage der FAZ berichtet.2 Ohne weiter auf diese Kontroverse einzugehen, kann man immerhin festhalten, dass in Leipzig höchst lebendige und engagierte Debatten zu aktuellen und grundlegenden Fragen der europäisch-jüdischen Geschichte geführt werden.

Die Arbeit des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig wird im ersten Band der Reihe „Toldot“ vorgestellt, und auch diese zugleich bilanzierende und zukunftsgerichtete Zusammenstellung liest sich beeindruckend. Es ist Diner offenbar gelungen, eine Entwicklung zu vermeiden, die im Wissenschaftsbetrieb häufig vorkommt, dass nämlich solche (gerade neu eingerichteten) Institute ohne inhaltlichen Zusammenhang von einem Forschungsgebiet zum nächsten taumeln, nur immer den aktuellen Interessen von Geldgebern oder politischen Institutionen hinterher. Ehemalige und derzeitige Mitarbeiter des Instituts stellen ihre Forschungsprojekte dar – aber eben nicht nur. Sie stellen diese konkreten Forschungen – unter den vier Oberthemen „Autonomie und Emanzipation“, „Intervention und Interpellation“, „Mobilität und Gewalt“ sowie „Literatur und Philosophie“ – auch in einen übergeordneten Zusammenhang. Mit dem zunächst etwas konstruiert wirkenden Begriff der „Zeitenräume“ wird die Möglichkeit eröffnet, sowohl „zeitliche“ Vorstellungen – Fragen nach Herkunft und Zukunft, Formen der religiösen Praxis, messianische Erwartungen – wie „räumliche“ Erfahrungen – von Niederlassungen und von Migrationen – zusammen zu denken. Noch herrscht im wissenschaftlichen Gelände ja die traditionelle Trennung zwischen einer religionswissenschaftlich ausgerichteten Judaistik einerseits und den Arbeiten zur jüdischen Geschichte und Literatur andererseits; in seinem einführenden Beitrag „Ubiquitär in Zeit und Raum – Annotationen zum jüdischen Geschichtsbewußtsein“ hebt Diner diese Trennung mit einem einfachen (aber hoffentlich folgenreichen) Satz auf: „Schließlich sind die Juden nicht allein der Sphäre des Sakralen unterstellt, sondern geradeso den nicht-jüdischen Kontexten verbunden, also auch von dieser Welt.“ (S. 16)

Diner zeichnet „das Eindringen profaner Zeitlichkeit in die sakralen Textwelten der Juden“ überzeugend nach und rekonstruiert den Prozess der „Verbreitung historischen Denkens unter Juden“ (S. 21). Aus dem Bewusstsein von Geschichte entsteht schließlich ein „sich auch politisch verstehende[s] jüdische[s] Kollektiv“. Wie politisches Handeln sich herausbildet, zeigt Diner abschließend am Beispiel der Reaktionen auf die Damaskus-Affäre von 1840: Die uralte Fiktion des „Ritualmordes“, eine „beständige Zuschreibung“ wird mit modernen Methoden (vor allem mit dem Medium der Presse) zurückgewiesen, dabei bilden sich „sich säkularisierende und Raum übergreifende Netzwerke politisch wirksamer Solidarität“ heraus. In den Aktionen der Verteidiger der Juden von Damaskus, Adolphe Crémieux und Sir Moses Montefiore, wird der ebenso reale wie virtuelle „jüdische Raum“ in seinem transterritorialen Charakter sichtbar – ein Themenfeld, dessen sich die Forschung im Bereich der Jüdischen Studien derzeit verstärkt zuwendet.

Vorwürfe des Ritualmordes, der Blasphemie und Gotteslästerung spielen auch eine wichtige Rolle in dem Prozess gegen einen jüdischen Schankwirt, Szmul Dubinski, 1726 vor dem Stadtgericht Rzeszów in Ostpolen. Yvonne Kleinmann rekonstruiert mit ihrer mikrohistorischen Analyse aus den Gerichtsakten die „jüdische Erfahrungswelt im frühneuzeitlichen Polen-Litauen“ (S. 38). Ausgehend von einem christlich-jüdischen Zank in der Schenke, einer vom Alkohol angeheizten Streiterei über das rechte Gottesbild und die falschen Beschuldigungen gegen die Juden, entwickelt Kleinmann ein Panorama dieses spezifischen „Zeitenraums“. Der Schauplatz Rzeszów wird ebenso dargestellt wie die rechtliche Situation der jüdischen Minderheit – zwischen einer überlieferten Gemeindeautonomie und den Vormachtsansprüchen der Kirche und der katholischen Stadtherren. Zugleich offenbaren sich in der Lebenswelt der Schenke und des Schankwirts, „zentrale Elemente im Beziehungsgeflecht zwischen Christen und Juden vom 16. bis weit ins 19. Jahrhundert“ (S. 44). Am Beispiel dieses Beitrags zeigt sich, ebenso wie in den Arbeiten von Francois Guesnet, dass sich die Setzung eines Schwerpunkts in der osteuropäisch-jüdischen Geschichte und Kultur für Leipzig sehr bewährt hat (auch wenn Guesnet, zur Freude des Rezensenten, derzeit an der Universität Potsdam arbeitet). Hier greift Guesnet aber mit seinem Beitrag „Die Politik der Fürsprache – Vormoderne jüdischer Interessenvertretung“ weiter auf eine europäisch-jüdische Perspektive aus. Fürsprache, hebräisch shtadlanut, bezeichnet die Intervention des Gesandten einer jüdischen Gemeinde vor einer übergeordneten Machtinstanz – das Paradigma dafür ist die Legende von Esther und der Errettung der persischen Juden vor drohender Verfolgung. Beispiele dafür gibt es einige: Josel von Rosheim (1478-1554) intervenierte gegen Ausweisungsverfügungen und erreichte u.a. ein Druckverbot von Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“; Salomon Aschkenasi (1520-1602) setzte sich bei der Hohen Pforte für die bedrohten Juden Venedigs ein; Menasseh ben Israel (1602-1657) bemühte sich um die Zulassung einer Wiederansiedlung der Juden in England. Mit den Teilungen Polens und der Französischen Revolution beginnt eine Epoche der Modernisierung, die jüdische Gemeinden vor die Frage stellte, ob sie auf ihre überkommenen Privilegien verzichten und auf den Schutz der versprochenen Rechtsnormen hoffen sollten – in dieser „Zwischenzeit“ stellte sich Moses Mendelssohn (1729-1786) „in die Tradition der jüdischen Fürsprache“ (S. 86), aber nicht mehr als Bittsteller, sondern als Bürger, der ein Ende der Ungleichbehandlung „aus dem Postulat der Gleichheit aller vor dem Gesetz“ ableitet.

Von den weiteren Aufsätzen seien noch zwei hervorgehoben, ohne damit in irgendeiner Weise die Bedeutung der Beiträge von Stephan Wendehorst (über „das Zusammentreffen von Juden und Universität“), Markus Kirchhoff (über „Jüdische Diplomatiegeschichte von 1815 bis 1878“) und Frank Nesemann (über die „Minderheitendiplomatie“ des zionistischen Politikers Leo Motzkin im Rahmen des Europäischen Nationalitätenkongresses) schmälern zu wollen. Aber Tobias Brinkmann und Nicolas Berg gelingt es in besonderer Weise, das Programm der „Synchronen Welten“ umzusetzen. Brinkmann beschreibt Berlin, mit Joseph Roth und Sammy Gronemann, als „Transitraum zwischen Ost und West“ (S. 176), als tatsächlichen Zeitenraum, dessen Topografie von jüdischer Durchwanderung nach 1918 geprägt wird. Berlin als Ort russischer, jiddischer und hebräischer Kultur ist derzeit Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, deren Autoren (Karl Schlögel, Delphine Bechtel, Gennady Estraikh, Marion Neiß, Verena Dohrn) unterschiedliche Schwerpunkte setzen.3 Mit dem Motiv der „Durchwanderung“ und mit seiner Beschreibung des „Jüdischen Bahnhofsdienst“ am Ankunftsort Schlesischer Bahnhof gelingt es Brinkmann, diese unterschiedlichen Themen (die Lage der Juden in Russland, die Gründe für ihre Auswanderung, die Politik der zionistischen Organisationen, die Entstehung einer jiddischen und hebräischen Publizistik, die Gründung des YIVO 1925 etc.) zu bündeln. Gronemann bringt es auf den Punkt, wenn er in seinen Erinnerungen schreibt: „Ostjude und Westjude waren in Berlin nicht sowohl geografische wie zeitliche Begriffe.“ Nicolas Berg arbeitet über „Bilder von ‚Luftmenschen’“ und sucht nach den vielfältigen Formen und Metaphern dieser „Kollektivkonstruktion“, aus deren Analyse sich „eine Epistemologie der Wahrnehmung von Juden und Judentum“ (S. 202) aufzeigen lassen kann. Die Spezifik jüdischer Existenz zwischen den vielen verschiedenen Orts-Angeboten, vom osteuropäischen Schtetl über die Immigrantenviertel der großen Städte bis zu den landwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina – zwischen „Schweben und Verwurzelung“ – wird in den Wandlungen der Metapher, des Bildes vom „Luftmenschen“ sichtbar; darüber hinaus wird deutlich, welches kreative Potential in einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Themenfeld von „Ort“ und „Raum“ in der jüdischen Kultur und Geschichte liegt.4

Kai Struve schreibt über die Pogrome des Jahres 1941 nicht nur in Jedwabne, sondern auch in anderen Regionen: um Bialystok, in Litauen und in Ostgalizien, wo in einer „Welle von Gewalttaten gegen Juden von Seiten der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung“ vermutlich mehrere 10.000 Juden getötet wurden – im Schatten des deutschen Einmarsches. Struve arbeitet dabei mit einem von Reinhart Koselleck skizzierten Konzept der „Zeitschichten“ (eine deutsche Zeitschicht, eine ostmitteleuropäisch-nationale Zeitschicht, eine volkskulturelle Zeitschicht) und vertieft damit das von Diner und anderen angestoßene Projekt einer „Gedächtnisgeschichte“ jenseits der linearen Chronologie. Beiträge von Susanne Zepp über „Jüdische Hispanizität“ und von Ashraf Noor über „Jüdisches Geschichtsdenken“ runden den Band ab, und auch hier darf man gespannt sein, wie in der nächsten Zeit aus Projekten - hier zur „literarischen Textualität jüdischen Geschichtsverständnisses“, da zur philosophischen Reflexion von „Geschichtlichkeit“ im Judentum - „größere Monographien“ entstehen, wie von Dan Diner angekündigt. Der Verzicht auf Fußnoten im Text macht den Band sehr lesefreundlich, dafür stehen am Ende jedes Aufsatzes ausführliche Kommentare zu den Quellen und zur jeweils benutzten Literatur. Beeindruckend vor allem, wie intensiv Forschungsliteratur aus den USA, Israel, Polen und Spanien rezipiert wird. Nicht zuletzt dadurch befindet sich der Band auf der Höhe der aktuellen internationalen Forschung im Bereich der Jüdischen Studien. Ausleihen bei Überfliegern wie Yuri Slezkine braucht es da gar nicht...

Anmerkungen:
1 Niewöhner, Friedrich, Mal wieder an allem Schuld. Yuri Slezkines irritierendes Pamphlet zur jüdischen Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.2005; Slezkines Buch „The Jewish Century“ wurde bei H-Soz-u-Kult von Tobias Brinkmann besprochen: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-002
2 Kemmerer, Alexandra, Besonders allgemein. Neue Blicke auf die jüdische Geschichte: Eine Leipziger Tagung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.2005.
3 Schlögel, Karl, Berlin - Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998; Bechtel, Delphine, Jiddische Literatur und Kultur in Berlin im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Brenner, Michael (Hg.), Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002; Neiss, Marion, Presse im Transit. Jiddische Zeitungen und Zeitschriften in Berlin, Berlin 2002. Die Projekte von Verena Dohrn und Gennady Estraikh sind noch nicht abgeschlossen.
4 Vgl. die Arbeit des Graduiertenkollegs „Makom: Ort und Orte im Judentum“ an der Universität Potsdam (www.makom-potsdam.de) und besonders dessen Konferenz „Real and Imagined Places“ vom 26. bis 29.6.2005.

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