Oswald Überegger (Hg.), Zwischen Nation und Region

Cover
Titel
Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven


Herausgeber
Überegger, Oswald
Reihe
Tirol im Ersten Weltkrieg: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 4
Erschienen
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Peter Melichar, Österreichisches Staatsarchiv, Wien

Angesichts der zunehmenden Unübersichtlichkeit in vielen Forschungsbereichen sind Darstellungen, Analysen und Synthesen der jeweils zu bestimmten Themenfeldern vorliegenden Studien von großem Wert. Sie erleichtern die Orientierung, machen auf Schwerpunkte, auf Forschungslücken, auf Interessensverlagerungen und Paradigmenwechsel aufmerksam und fassen weithin verstreute Arbeiten zusammen, (re/de)konstruieren einen Forschungsgegenstand. In dem hier vorliegenden Band wird einmal aufs Neue die „Weltkriegsforschung“ – gemeint ist der Erste Weltkrieg – präsentiert, allerdings mit einem neuen, durchaus verdienstvollen Schwerpunkt. Der vorliegende Band bietet eine spezialisierte Perspektive mit regionalen Schwerpunkten, darauf verweist schon sein Titel „Zwischen Nation und Region“. Er versammelt zwölf Beiträge zur Weltkriegsforschung in Deutschland, Italien und Österreich. Sie sind gegliedert in drei große Themenblöcke: 1) Nationaler Kontext – Historiographie, 2) Regionaler Kontext – Berichte aus der Forschung, 3) Archiv- und Quellenberichte. Die ersten drei Beiträge beschäftigen sich mit der Weltkriegsforschung in Deutschland, Italien und Österreich. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der regionalen Perspektive, der sich die neun Arbeiten der weiteren Themenblöcke widmen: Schwerpunkt ist jene Forschung, die sich auf Tirol und Norditalien konzentriert hat, berücksichtigt werden allerdings auch weiterhin das Bundesland Steiermark und Slowenien. Berichte zur Archiv- und Quellenlage sondieren die Situation im Tiroler Landesarchiv, in Trentiner Archiven sowie in Archiven Vorarlbergs, dem westlichsten Bundesland Österreichs.

Die ersten drei historiographiegeschichtlichen Beiträge fassen in übersichtlicher Weise die von jeweiligen Besonderheiten geprägten Forschungssituationen und ihre wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen zusammen. In höchst unterschiedlicher Weise wurde der Erste Weltkrieg im faschistischen Italien, in der Weimarer Republik bzw. dann im NS-Regime und schließlich in der Ersten Republik bzw. im austrofaschistischen Ständestaat erforscht. Nach 1945 führte die zunehmende Internationalisierung der Forschung bei allen nationalen Differenzen aber doch auch zu ähnlichen Thematiken und Perspektiven (z. B. zur Erforschung des militärisch-industriellen Komplexes, zur Untersuchung der Lage der Arbeiter, der Arbeiterfrauen, der Arbeitsbedingungen für Frauen, alltagsgeschichtliche Studien, Untersuchungen der Militärgerichtsbarkeit). Allen nationalen Geschichtsschreibungen gemeinsam war, dass diverse Mythen, Legenden und Heroisierungen, von der viele ältere Arbeiten in Deutschland (z. B. Dolchstoßlegende), Italien (der patriotische Krieg) und Österreich („Im Felde unbesiegt!“) dominiert und geprägt waren, überwunden werden mussten. Diese wissenschaftliche Versachlichung konnte nur durch zahlreiche, oftmals auch lokal oder regional begrenzte Detailstudien geleistet werden. Die auffallendste Differenz besteht wohl bezüglich der Kriegsschuldfrage: Während in Italien dies aufgrund des Siegerstaates schlicht kein Thema war, war in Deutschland und Österreich die Kriegsschuldfrage zwar höchst wichtig, wurde jedoch bis weit nach 1945 nicht nur von der Militärgeschichte abschlägig beantwortet. In Deutschland kam es im Gegensatz zu Österreich in den sechziger Jahren zur höchst brisanten Fischer-Kontroverse, ausgelöst durch Fischers 1961 erschienenes Buch „Der Griff nach der Weltmacht“. Die provokanten Thesen Fischers über die seit 1912 betriebene deutsche Politik zur Entfesselung eines Krieges und die Kontinuität wahnhafter Großmachtphantasien und Eliten vom Wilhelminismus bis zum NS-Staat gelten zwar heute als teilweise überholt und unhaltbar. Es ist jedoch unbestritten, dass sie zahlreiche Forschungen anregten und die Fragestellung insgesamt auf ein neues Niveau hob. In Österreich dagegen wurde diese Debatte nicht nur nicht aufgegriffen, sondern schlichtweg ignoriert.

Nicht nur durch seine Länge auffallend ist der Beitrag, der vom Herausgeber des Bandes, Oswald Überegger, selbst stammt. Sein Titel „Vom militärischen Paradigma zur ‚Kulturgeschichte des Krieges’? Entwicklungslinien der österreichischen Weltkriegsgeschichtsschreibung im Spannungsfeld militärisch-politischer Instrumentalisierung und universitärer Verwissenschaftlichung“ ist Programm: Auf knapp 60 Seiten bietet er eine ebenso ambitionierte wie gründliche Darstellung, die über eine bloße Analyse der eigentlichen Weltkriegsforschung weit hinausgeht. Denn die Tatsache, dass die wissenschaftliche Analyse des Ersten Weltkriegs durch Jahrzehnte hindurch beinahe ausschließlich von Militärs dominiert werden konnte, sagt nicht nur etwas über die Besetzung jener Institutionen aus, von der aus Ex-Offiziere die Erinnerungspolitik lenkten (Kriegsarchiv, Heeresgeschichtliches Museum), sondern auch über die Verfasstheit der restlichen Geschichtswissenschaft. Obwohl der Analyse dieses Umstandes und seiner Bedingungen teilweise zuzustimmen ist, fehlt hier jedoch ein Hinweis darauf, dass es durchaus schon in der Ersten Republik abseits der (beamteten) Historiographie wichtige und wirkungsmächtige Gegeninterpretationen gab. Zu erwähnen sind nicht nur Robert Musils Reflexionen zum Kriegsausbruch von 1914, sondern vor allem jene des Schriftstellers Karl Kraus. Dieser hatte nicht nur in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ (1899-1936) eine höchst bemerkenswerte Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs geliefert (hier wurde großteils sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ publiziert, hier wurden regelmäßig die kriegsverherrlichenden Texte von Schriftstellern und Journalisten kritisiert – auch noch lange nach Kriegsende), sondern auch in zahlreichen Vorlesungen vor großem Publikum an der Verantwortung der österreichischen Diplomaten, Politiker, Militärs und nicht zuletzt der Presse keinen Zweifel gelassen. Auffallend ist überhaupt, dass Übereggers Begriff der Weltkriegsforschung allzu sehr auf die Geschichtswissenschaft im allgemeinen und die Militärgeschichte im besonderen fokussiert ist. Andere Disziplinen (etwa die Forschungen der Germanistik, Publizistik, Ökonomie und Soziologie) kommen zu kurz oder werden gar nicht erst erwähnt.

Übereggers Behauptung, auch die gegenwärtige österreichische Forschung zum Ersten Weltkrieg sei rückständig, da man „seit den 80er und 90er Jahren“ die entsprechenden „Theorie- und Methodendebatten kaum rezipiert“ habe, wirft die prinzipielle Frage auf, ob das – wenn der Behauptung zuzustimmen ist (der Autor scheint sich durch die Masse der von ihm zitierten neueren Literatur hier selbst teilweise zu widersprechen) – nicht für die gesamte österreichische Geschichtswissenschaft der letzten zwanzig oder dreißig Jahre gelten muß. Das ist allerdings zu bezweifeln. Eher ist zu beobachten, dass die avancierte, methodisch ambitionierte Sozialgeschichte sich lange Zeit nicht nur der Weltkriegsforschung, sondern – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Erforschung des Militärs insgesamt entzogen hat. Dafür wiederum kann jedoch kaum die traditionelle Militärgeschichtsschreibung samt ihren gespenstischen Idiosynkrasien verantwortlich gemacht werden. Erst dem von der Alltagsgeschichte einerseits und der Frauen- und Geschlechtergeschichte andererseits eingebrachten Perspektivenwechsel verdankt das Militär als soziale Institution wieder verstärkte Beachtung. Ob und warum diese inzwischen aufgebrochene Tabuisierung des Militärischen in der Sozialgeschichte eine österreichische Besonderheit war, kann hier jedoch nicht beantwortet werden.

Eine letzte Bemerkung zum – im Titel des Aufsatzes von Überegger angedeuteten – Paradigmenwechsel. Demzufolge habe sich die Kultur sich als neues Paradigma etabliert und die Alltags- und Mentalitätsgeschichte der 80er und 90er Jahre abgelöst. Zusammen mit der Geschlechtergeschichte biete die Kulturwissenschaft das größte innovative Potential. Hier macht sich nun allerdings ein prinzipieller Mangel an epistemologischer Reflexion bemerkbar: Denn der Austausch von Kategorien, die historiographische Moden bezeichnen, begründen allein noch keinen Paradigmenwechsel. Hier wäre die genaue und kritische Untersuchung der Methoden, Techniken, Argumentationen notwendig, dies allerdings hätte den Rahmen nicht nur des Aufsatzes, sondern des ganzen Bandes gesprengt. So sind denn auch die restlichen Aufsätze mehr oder weniger ausführlich kommentierende Literatur- und Forschungsberichte, im Grunde also themenorientierte Bibliographien, die manches stärker hervorheben, manches nur anführen. Besonders interessant sind hier die Berichte über die italienische und slowenische Forschungslandschaft bzw. die jeweiligen Archive und Quellenbestände. Über methodische, technische oder gar theoretisch-forschungspraktische Fragen erfährt man allerdings kaum etwas: Das Was ist wichtiger als das Wie. Für eine epistemologisch orientierte Geschichte der Geschichtswissenschaft enthält der Band somit zahlreiche Hinweise und Anregungen, er selbst kann sie nicht leisten.

In Abwandlung eines berühmten Wortes ist festzuhalten: das Militär ist als Forschungsgegenstand zu wichtig, um es den Militärhistorikern, auch der sog. „neuen Militärgeschichte“ zu überlassen. Wünschenswert wäre jedenfalls in Bezug auf die österreichische Forschungssituation, dass neben der unzweifelhaft wichtigen Weltkriegsforschung auch das Militär in vermeintlich unspektakulären Friedensperioden als soziale Institution und damit als kulturelles und ökonomisches Aggregat stärker zum Gegenstand kritischer – und nicht nur kulturwissenschaftlicher – Forschung würde.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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