Der Sozialpsychologe Harald Welzer will die „Frage aller Fragen“ (Volker Ullrich) des 20. Jahrhunderts beantworten: Wie werden aus ganz normalen Menschen Massenmörder? Welzers Studie „Täter“ wird als komparative „Sozialpsychologie des Massenmords“ (S. 43) ausgegeben, ist auf den ersten Blick also zur vergleichenden Genozidforschung zu zählen – eine Erwartung, die unerfüllt bleibt.
Im Wesentlichen widmet sich Welzer dem Nationalsozialismus und einer einzelnen (wenngleich zentralen) Tätergruppe: den Schützen und ihrem systematischen Erschießen. Den Massentötungen in Vietnam, Bosnien-Herzegowina und Rwanda gewährt Welzer lediglich Miniaturkapitel. Seine kurzen Seitenblicke in die geografische Ferne gleichen vorwissenschaftlichen Exkursen (insgesamt 26 von 268 Textseiten). Ihnen mangelt es an einer angemessenen Literaturrezeption1, einer ausreichenden Methodik und vor allem an einem zusammenführenden tertium comparationis. Binnenvergleiche mit anderen Taten, Tatorten und Tätertypen im Nationalsozialismus unterbleiben. Die Konzentrationslager-Forschung wird ausgeblendet, allen voran die (gelegentlich thesenverwandte) Studie zur „Ordnung des Terrors“ von Wolfgang Sofsky. Zudem schreibt Welzer eigentlich nicht darüber, wie aus „ganz normalen Menschen“ Massenmörder werden, sondern konzentriert sich auf ganz normale Männer. Täterinnen existierten in Deutschland oder auch in Rwanda offenbar nicht – sieht man von einer halbseitigen Textpassage ab.
Trotz dieser Defizite enthält das Buch andererseits höchst inspirierende Inhalte und Thesen. Ausgangs- und Endpunkt ist die Erkenntnis, dass Massenmörder im Regelfall keine disponierten Mörder oder psychisch auffällige Menschen sind. In einer kleinen Zeitspanne können sich Entsolidarisierungsprozesse entfalten. Soziale Handlungsräume, in denen systematische Morde nicht mehr Straftaten, sondern erlaubt und erwünscht sind, öffnen sich leicht. „Wenn es zutreffend ist, dass es keine Mörder gibt, sondern nur Menschen, die Morde begehen, sind die meisten von uns unter Umständen wahrscheinlich bereit zu töten – es müssen nur die situativen, sozialen und handlungsdynamischen Bedingungen dafür vorliegen, dass sich Potentialität in Handeln übersetzt.“2
Welzer hält die (Täter-)Biografik und die Sozialgeschichte für unzureichend, um die Frage nach dem „Wie“ und „Warum“ beantworten zu können. Im Verlauf der Shoah gab es keine gesellschaftliche Gruppe, die sich als immun gegen das Morden zeigte. Stattdessen blickt Welzer auf den sozialpsychologischen Referenzrahmen des Mordens – d.h. auf die Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft – sowie auf die Mikroebene der Tat und des Tötens. Welzer ergänzt Götz Alys wegweisende „Volksstaats“-These und stellt fest, dass es auch ein sozialpsychologisches „Kollektiv der Profiteure“ gab. Sozial deklassierte, ungelernte Arbeiter konnten sich nun „jedem jüdischen Schriftsteller, Schauspieler oder Geschäftsmann überlegen fühlen [...]. Es ist diese Einheit von absoluter Deklassierung und absoluter Nobilitierung, die die Spaltung einer Gesellschaft mit einer psychosozialen Durchschlagskraft versieht, die eine auf andere Distinktionsverfahren wie Leistung, Herkunft, Bildung setzende Gesellschaftsstruktur nie erreichen konnte“ (S. 73f.).
Welzer erinnert die Holocaust- bzw. Täter-Forschung gekonnt daran, dass der gesellschaftliche Ausschluss einer Minderheit eine notwendige Voraussetzung genozidaler Prozesse ist. Erst nachdem eine Mehrheitsgesellschaft eine Minderheit als störend und bedrohlich wahrgenommen hatte, erblickte sie ihr „Heil darin [...], diese Gruppe unschädlich zu machen und zu vernichten“. Töten avancierte zum „gesellschaftlich integrierten Handeln“ (S. 63, 37). Die Täter maßen ihrem Morden einen Sinn bei. Sie konnten ihr Handeln als „gut“ interpretieren, da es der nationalsozialistischen Definition von Gerechtigkeit und Gemeinwohl entsprach. Welzer überzeugt mit seiner These, dass es ohne diese diskursiv vereinbarte nationalsozialistische Moral wohl kaum ein Massenmorden gegeben hätte.
In seinem Schlüsselkapitel verlässt sich Welzer vor allem auf Erinnerungen, namentlich auf Gerichtsaussagen der mordenden Schützen. Wie vor ihm schon Daniel Goldhagen und Christopher Browning, widmet er sich dem Polizeibataillon 101. Welzer ergänzt Brownings sozialpsychologischen Zugang zu den „ganz normalen Männern“ vor allem quantitativ, aber auch qualitativ (Konsistenztheorie, Moralentwicklungstheorie). Während er zuvor auch Beobachtungen gesellschaftskritischer Zeitgenossen wie Sebastian Haffner berücksichtigt hatte, verzichtet Welzer nun – in den Kapiteln über die Mordpraxis der Schützen und bei seinen kurzen Seitenblicken auf Srebrenica, Rwanda und My Lai – auf kontrastierende Quellen. Zum einen findet der Leser keine Bilder der Taten, über die er liest. Vor allem aber fehlen Aufzeichnungen von Überlebenden und Beobachtern, welche die Massenerschießungen aus der Nähe erlebten oder aus der Ferne sahen. In Archiven und im Buchhandel wären diese Korrektive zu finden gewesen. So zum Beispiel das Tagebuch von Kazimierz Sakowicz: Auf Papierschnipseln hatte der polnische Journalist das Morden beschrieben, welches er zwei Jahre lang im litauischen Ponary beobachtete (nahe Wilna; ca. 100.000 Tote). Seine akribischen Notizen versteckte er in Limonadeflaschen, die er vergrub. Diese schriftlichen Nahaufnahmen gehören zu den zentralen Quellen über Massenerschießungen.3 Welzer kennt sie nicht oder übergeht sie.
Das Fehlen kontrastierender Bild- und Textquellen wirft aus sozialpsychologischer und historiografischer Sicht die Frage nach der „Ethik der Genauigkeit“ (Trutz von Trotha) auf. Statt der versprochenen multiperspektivischen Analyse des Tatzusammenhangs und der Handlungsdynamik findet der Leser bei Welzer Wiedergaben der Erzähl- und Leugnungsstrategien der Täter (vgl. S. 120-132, 222ff., 245): Otto Ohlendorf darf noch einmal seine Verteidigung(sstrategie) zum Besten geben. Einen Srebrenica-Schützen lässt Welzer erzählen, dass dieser erschossen worden wäre, wenn er nicht selbst geschossen hätte. „Die Erinnerung ist ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“4, zitierte Welzer kürzlich Cees Noteboom in einem Aufsatz. Diese Erkenntnis, die in besonderem Maße für Gerichtsaussagen, Gerichtsausreden und Gerichtslügen gilt, hat der Erinnerungstheoretiker gelegentlich vergessen. Wenn Welzer mit den Begriffen der Täter den Tatzusammenhang beschreibt, fehlt eine sprachliche und analytische Distanz zum Untersuchungsgegenstand.
Dies hat einen Kategorienfehler zur Folge: Das Morden sei „Arbeit“ gewesen, so Welzer. Obgleich der Begriff der „Arbeit“ im Analysezentrum steht, ist eine befriedigende Definition im gesamten Buch nicht zu finden. Gleiches gilt für den Begriff des Massenmörders bzw. des Täters: Der Leser erfährt zwar, wie Täter waren – nämlich im Regelfall „psychisch unauffällig“ –, aber nicht wen Welzer zu den Tätern zählt (und vor allem: wen nicht). Ihr Töten sei „Arbeit“ gewesen, weil es professionalisiert und routiniert ablief, und weil es Mittagspausen und Feierabend gab (S. 202f.). Nun haben alle Beschäftigungen eines Menschen Anfang und Ende und verlaufen immer wieder professionalisiert und routiniert. Das ist nichts Spezifisches von „Arbeit“. Was übersieht also dieser dem Zivilleben entlehnte soziologische Begriff? Die Ideologisierung zahlreicher Täter, die ihr Morden als Überzeugungstat verstanden, die Einbettung der Erschießungen in Krieg und Eroberungspolitik sowie den Exzesscharakter, die Phänomenologie des Tötens. Zwar verlief das Töten professionalisiert, routiniert und hatte deshalb arbeitsähnliche Strukturen. Aber das Schießen war eine Aufgabe in einem Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg, für deren Erfüllung sich die Uniformträger deutsche, rumänische und anderweitige Orden anheften durften. Dieses Morden war keine Arbeit, sondern eine Kriegsaufgabe für ganz normale Männer, die sie nicht aufgrund von Arbeitsverträgen, Bezahlungsverhältnissen oder einer seit Kindheitstagen erträumten Berufswahl exekutierten.
Schade ist, dass der Sozialpsychologe und Erinnerungstheoretiker die Quellen der Täter kaum nutzt, um das zu erzählen, wovon sie in erster Linie erzählen: von Tätern im Gerichtssaal. Die Aussagen vor Gericht spiegeln Identitäten, Selbst- und Fremdbilder wider. Inmitten des „Sagbarkeitsregimes“ Gerichtssaal (Michel Foucault) trifft man auf die jahrelang konservierte nationalsozialistische Moral und die habitualisierte Empathielosigkeit. Und auch deshalb sei nochmals darauf verwiesen, was Welzer überzeugend und beeindruckend vorträgt: den Nexus zwischen Mord und Moral sowie die sozialpsychologische Konfiguration der „Tätergesellschaft“, also jener Gesellschaft, aus der die Täter kamen.
Anmerkungen:
1 Das Literaturdefizit fällt insbesondere beim Beispiel Bosnien-Herzegowina auf. Forschungen der International Crisis Group werden ebensowenig berücksichtigt wie die Publikationen von Holm Sundhaussen oder Slavenka Drakulić. Die diversen, im Internet veröffentlichten Prozessquellen des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien verwendet Welzer unbegründet selektiv, die Quellen des Rwanda-Tribunals ignoriert er vollständig. Zu Rwanda überrascht die fehlende Beachtung der entscheidenden Forschungen von Human Rights Watch, aber auch von Karen Krüger.
2 Welzer, Harald, Wer waren die Täter? Anmerkungen zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht, in: Paul, Gerhard (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, S. 237-253, hier S. 238.
3 Die geheimen Notizen des K. Sakowicz. Dokumente zur Judenvernichtung in Ponary 1941–1943, hg. von Margolis, Rachel; Tobias, Jim G., Nürnberg 2003.
4 Welzer, Harald, Wozu erinnern wir uns? Einige Fragen an die Geschichtswissenschaften, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16, 1 (2005) S. 12-35.