Titel
Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels


Autor(en)
Segev, Tom
Erschienen
München 2005: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
672 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Holzer, Lehrstuhl für politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Universität Mannheim

Tom Segev ist kein Unbekannter. Der 1945 in Jerusalem als Sohn deutscher Einwanderer geborene Segev legt mit "Es war einmal ein Palästina" sein sechstes Buch über Israel vor. Segev arbeitet als Journalist für die führende israelische Tageszeitung „Haaretz“, und gilt als einer der kontroversesten Historiker Israels, gemeinsam mit Autoren wie Benny Morris wird er den 'revisionistischen' "Neuen Historikern" zugerechnet. In seinem neuesten Buch "Es war einmal ein Palästina" zeichnet er die Geschichte Palästinas unter britischer Herrschaft nach. Segev beginnt mit dem britischen Sieg über das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg und endet mit der Einholung des "Union Jack" in Jerusalem am 13. Mai 1948 um 7.15 Uhr. Die israelische Staatsgründung verkommt dabei zur Randnotiz, im Zentrum steht die britische Mandatsherrschaft.

Die hebräische Ausgabe seines Buches erschien 1999, die englische 2000, die deutsche Übersetzung benötigte weitere fünf Jahre und wurde leicht gekürzt, zudem fehlen im Literaturverzeichnis die hebräischen und arabischen Titel. Segev wertet alle relevanten israelischen (Staatsarchiv, Weizmann-, Ben-Gurion-, Haganah-Archiv, Archiv der Arbeiterpartei etc.) und britischen Archive aus, jedoch liegt die empirische Stärke seines Buches in einer anderen Quellengattung. Segev gelang es, von zahlreichen britischen, arabischen und israelischen Zeitzeugen Briefe, Tagebücher und weiteres autobiografisches Material aufzustöbern. Vieles von diesem Material wird in "Es war einmal ein Palästina" erstmalig veröffentlicht. Zu diesen Materialien zählen beispielsweise die Tagebücher von Graf Ballobar, spanischer Konsul in Jerusalem, die Tagebücher des Schulinspektors, christlich-arabischen Nationalisten und Bewunderers Adolf Hitlers, Khalil as-Sakakini, sowie die Autobiografie und zahlreiche Briefe von Raymond Cafferata, der 1929 Polizeichef von Hebron war (S. 573f.). Mittels dieser Quellen sowie der gut erschlossenen israelischen Biografien, allen voran der Chaim Weizmanns, dem ersten Staatspräsidenten Israels, gelingt Segev in seinem Buch eine überaus lebendige Darstellung der britischen Mandatszeit. Dieser Effekt beruht auf der kunstvollen Verflechtung dreier Narrative, dem britischen, israelischen und arabischen, die gespeist sind aus dem jeweiligen autobiografischen Material.

Segev beginnt seine Darstellung am 28. November 1917, als der jüdische Versicherungsagent Alter Levine, auf der Flucht vor der türkischen Polizei, Khalil as-Sakakini um Unterschlupf bittet. Der Araber versteckt den Juden tatsächlich. Beide werden entdeckt und in ein Gefängnis nach Damaskus verschleppt (S. 21f.). Am 20. April 1948 floh as-Sakakini nach Ägypten, Alter Levine hatte sich bereits 1933, aufgrund mehrerer familiärer Schicksalsschläge, erhängt (S. 556f., 379).

Durchwirkt mit derartigem biografischem Material entfaltet Segev die Geschichte Palästinas während des britischen Mandats. Das Neue an seiner Darstellung sind weniger die Ereignisse, als vielmehr die teilweise andere Interpretation oder Betonung bestimmter Ereignisse und Entwicklungen. Hierin liegt die zweite Bedeutung von "Es war einmal ein Palästina". Segev kann an zahlreichen Stellen nachweisen, dass die Haltung der britischen Regierung gegenüber den zionistischen Politikern von einem an sich antisemitischen, in der Wirkung aber pro-zionistischen Gedanken geleitet wurde. "'Die jüdische Rasse', so führte Lloyd George in seinen Memoiren aus, besitze weltweiten Einfluss, und die Juden seien entschlossen gewesen, diesen zu nutzen, um den Ausgang des Weltkrieges zu beeinflussen - wobei sie sich, wie er behauptete, von ihren finanziellen Instinkten hätten leiten lassen. Sie hätten nicht nur die Vereinigten Staaten zur Intensivierung ihrer Kriegsanstrengungen bewegen können, sondern, als die eigentlich treibende Kraft hinter der russischen Revolution, auch Russlands Haltung zu Deutschland kontrolliert. [...] In dieser Sichtweise hatten die Briten also gar keine andere Wahl gehabt, als einen 'Pakt mit dem Judentum' zu schließen." (S. 48f.) Ähnlich wie Lloyd George dachte ein Großteil der britischen Elite, bis hin zu Winston Churchill (S. 174). Chaim Weizmann verstand es, dieses Vorurteil, das meist mit einem romantisch-christlichen Gefühl für das Heilige Land gepaart war, geschickt zu nutzen. Weizmann, der seit 1904 in Großbritannien lebte, entwickelte sich schnell zur führenden Person im Zionismus und wurde von britischer Seite beinahe wie der "Außenminister" eines (noch nicht existierenden) Staates behandelt, so erhielt er u.a. eine Audienz bei König George V. (S. 77f.). Weizmann hatte maßgeblichen Einfluss auf das Zustandekommen der Balfour-Erklärung, in der sich Großbritannien zur Schaffung einer "jüdischen nationalen Heimstätte" verpflichtete. Weizmann wurde vor der Friedenskonferenz in Versailles gehört, diskutierte mit britischen Beamten die Gestalt des Völkerbundmandats und arbeitete gegen eine Übernahme des Mandats durch die USA, wie von einer amerikanischen Kommission 1919 empfohlen, deren Bericht Wilson aber aufgrund eines Schlaganfalls im selben Jahr nie zu Gesicht bekam (S. 131ff.).

Die britische Regierung versuchte ihre Probleme in und mit Palästina in den 31 Jahren ihrer Herrschaft durch insgesamt 19 Kommissionen zu analysieren. Einige der Berichte waren aus zionistischer Sicht "gefährlich", insbesondere das Passfield-Weissbuch aus dem Jahr 1930, das die jüdische Einwanderung stark einschränken wollte. Doch auch in diesem Fall gelang es Weizman durch gezielte Lobby-Tätigkeit, Premierminister MacDonald zu einer "neuen Interpretation", die das Weissbuch faktisch ungültig machte, zu bewegen (S. 367f.).

Segev arbeitet darüber hinaus in "Es war ein Palästina" heraus, dass die britische Mandatsmacht den ab 1928 zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden, relativ hilflos gegenüberstand. Zwar versuchten die insgesamt sieben britischen Hochkommissare durch Aufstockung von Polizei und Militär terroristische Anschläge und Aufstände zu verhindern, scheiterten aber allesamt kolossal. Hochkommissar Sir John Chancellor schrieb nach dem Massaker in Hebron 1929, bei dem 133 Juden und 116 Araber getötet und 339 Juden und 232 Araber verletzt wurden: "Dieses Land und alles was mit ihm zusammenhängt, erfüllt mich mit solchem Abscheu und solchem Überdruss, dass ich es nur noch so schnell wie möglich verlassen möchte." (S. 358) Doch wurden die meisten der Hebroner Juden durch ihre arabischen Nachbarn gerettet: "In den zionistischen Archiven lagern Listen von Hebroner Juden, die von Arabern gerettet wurden; eine Liste enthält 435 Namen" (S. 356). Die Unfähigkeit der Briten, das Gewaltmonopol durchzusetzen, förderte die Paramilitarisierung auf beiden Seiten. Auf der zionistischen Seite beförderten die Ereignisse in Hebron die Reorganisation der zionistischen Miliz Haganah zu einer Truppe mit 10.000 aktiven Soldaten und 40.000 Reservisten. Diese Prozesse sollten 1948 den Ausgang des Unabhängigkeitskrieges wesentlich mitbestimmen. In der Mandatszeit förderte die eher moderate Haltung der Haganah die Gründung kleiner Terrorgruppen, wie Ezel und Lechi, die auch nicht vor Anschlägen auf britische Ziele zurückschreckten. Unter der Führung von Menachem Begin, dem späteren Premierminister, zündete Ezel 1946 im britischen Hauptquartier eine Bombe und tötete dabei 91 Menschen. Die zionistische Linke war von Begins Aktivitäten wenig begeistert: "Ben Gurion sprach von Ezel fortwährend als 'Nazi-Bande' und 'jüdischen Nazis'." (S. 516)

Auf der arabischen Seite steigerten sich die Gewalttaten analog, allerdings kann Segev hier über die inneren Strukturen und Konflikte weniger mitteilen als über die zionistische Seite. Teilweise wurde Segev dieser Umstand für sein ganzes Werk vorgehalten, dabei wird eine mindestens quantitative Begünstigung der zionistischen Seite konstatiert.1 Der Vorwurf erklärt sich aus der der Unkenntnis der archivarischen Situation. Auf der arabisch-palästinensischen Seite existiert schlichtweg kein Archiv, das mit den israelischen vergleichbar wäre. Die unter Umständen infrage kommenden Staatsarchive der angrenzenden arabischen Staaten wiederum zeichnen sich nicht durch offenen Zugang aus.

Insgesamt ist Segev mit "Es war ein Palästina" eine empfehlenswerte, unabhängige und sehr lebendige Darstellung der Mandatszeit gelungen, die sich durch ihren auch narrativen Zugang einen festen Platz in der Geschichtsschreibung Palästinas erobern wird.

Anmerkung:
1 Smith, Charles D., British-Zionist Alliance, in: Journal of Palestine Studies 31 (2001) S. 89-91, hier S. 90.

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