Titel
Growing Public: Social Spending and Economic Growth Since the Eighteenth Century. Volume 1: The Story; Volume 2: Further Evidence


Autor(en)
Lindert, Peter H.
Erschienen
Anzahl Seiten
XXVII, 377 S.; X, 230 S.
Preis
$ 65.00, $ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Sozialstaat ist in Deutschland seit längerem ins Gerede gekommen: Er sei zu teuer und beeinträchtige die internationale Konkurrenzfähigkeit. Das wirft auch verschiedene Fragen historischer Natur auf. Peter Lindert – einer der weltweit profiliertesten Wirtschaftshistoriker und Distinguished Professor of Economics an der University of California, Davis – legt nun eine historisch und international vergleichende Untersuchung vor, die sich vor allem um zwei Fragenkomplexe dreht: Zum einen warum wachsen die staatlichen Sozialausgaben wann und was erklärt die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern? Zum anderen was kosten die Sozialausgaben in Form von "ausgefallenem" Wirtschaftswachstum? Um seine Ergebnisse einem größerem Publikum zugänglich zu machen, entschieden sich Autor und Verlag, die eher technischen und statistischen Grundlagen der Analyse in einen zweiten Band "auszulagern", der sich somit vor allem an Sozialwissenschaftler/innen richtet. Dagegen ist der erste Band nach Lindert "written for human beings", wobei aber auch bei diesen ein gewisse Vertrautheit mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Argumentationsmustern vorausgesetzt wird.

Der erste Band gliedert sich in vier Teile, wobei im ersten ein Überblick gegeben wird, der den eiligen Leser/innen im ersten Kapitel die Fragestellung entfaltet und im zweiten Kapitel die wichtigsten Antworten zusammenfasst. Zunächst wird der Gegenstand näher eingegrenzt, wobei wichtig ist, dass es um steuer- und nicht beitragsfinanzierte staatliche Sozialausgaben geht. Diese stiegen – als Anteil am Bruttosozialprodukt betrachtet – von einem vernachlässigbaren Niveau Ende des 18. Jahrhunderts bis 1880 verhalten an, um dann bis zum Zweiten Weltkrieg beschleunigt zu wachsen und nach dem Krieg bis etwa 1980 förmlich zu explodieren. Seither hat der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt nur noch wenig zugenommen. Bei dem international und zugleich historisch vergleichenden Blick auf die Sozialtransfers fallen drei zu erklärende Rätsel auf: das "Robin Hood Paradox", das "Free Lunch Paradox" und das Bildungsrätsel. Ersteres beruht auf der historischen Beobachtung, dass die über Steuern und Sozialausgaben vorgenommene Umverteilung von Reich zu Arm dort am wenigsten anzutreffen war, wo sie am meisten benötigt worden wäre. Gerade in den reicheren Ländern mit einer relativen Gleichverteilung der Einkommen ist diese mit dem Sozialstaat verbundene Umverteilung aber am größten. Dabei sollte man erwarten, dass die Armenunterstützung besonders hoch ist, wo das Durchschnittseinkommen am niedrigsten und die Einkommensverteilung am meisten ungleich ist. Das zweite Rätsel beruht auf dem Verdacht, dass höhere Steuern und wachsende Unterstützung für nicht erwerbstätige Menschen die Produktivität der Gesamtwirtschaft beeinträchtigen. Nun kann Lindert aber an Hand der Daten zeigen, dass selbst in den europäischen Wohlfahrtsstaaten mit Ausgaben von 25-35 Prozent des Bruttosozialprodukts für wenig produktive Menschen das Wirtschaftswachstum dadurch kaum beeinträchtigt wurde. Damit scheinen die Sozialausgaben wie eine freie Mahlzeit (free lunch) zu sein. Und drittens zeigt sich, dass die Länder, in denen der Armenunterstützung als erste der Weg gebahnt wurde (Großbritannien, Niederlanden, skandinavische Länder), nicht die gleichen waren, die als Schrittmacher für die massenhafte Grundschulbildung auftraten (Preußen und einige andere deutsche Staaten sowie die USA). Die Frage nach den Gründen für diese Unterschiede stellt aber nur einen Teil des Bildungsrätsels dar.

Im zweiten Kapitel erläutert Lindert seine Resultate in Form von neun Schlussfolgerungen, die hier aus Platzgründen nicht im Detail dargelegt werden können. Zum einen ist aber für seine Argumentation die Entwicklung der Demokratie zentral. Die Tatsache, dass nur wenige Menschen wahlberechtigt und wie diese verteilt waren, erklärt, warum die Sozialausgaben vor dem 20. Jahrhundert begrenzt blieben und welche Länder bei der Massenbildung voranschritten. Die starke Entwicklung der Sozialsausgaben nach 1880 wird neben der Ausweitung des Wahlrechts auch auf das mit der steigenden Lebenserwartung verbundene Altern der Bevölkerung und den Einkommenszuwachs zurückgeführt. Zum anderen zeigt Lindert, dass die Nettokosten der Sozialtransfers und der dazu herangezogenen Steuern praktisch gleich Null sind, was auf zwei Prinzipien basiert: Demokratien mit großem Staatsbudget sind mehr darum bemüht, die Steuern und Transfers im Detail so zu gestalten, dass sie das Wachstum möglichst wenig beeinträchtigen. Zudem befördert eine möglichst breite Basis für die Steuern und Sozialzuwendungen das Wachstum eher.

Diese hier knapp referierten Ergebnisse werden in den folgenden Teilen des Buches im Detail und in der Breite entwickelt. Der zweite Teil zum Wachstum der Sozialausgaben enthält einzelne Kapitel zur Entwicklung der Armenfürsorge vor 1880, zu deren Interpretation, zur Herausbildung des öffentlichen Massenschulwesens vor 1914, zu dessen weiterer Entwicklung im 20. Jahrhundert sowie zur Erklärung des Anstiegs der Sozialtransfers nach 1880. Der sich mit den Aussichten des Sozialstaats befassende dritte Teil des Bandes widmet sich in zwei Kapiteln der Krise in den gesetzlichen Rentensystemen sowie den Sozialtransfers in den Transformationsländern des ehemaligen Ostblocks und in den Ländern der "Dritten Welt". Schließlich wird im vierten Teil im Einzelnen erläutert, wie die Sozialausgaben auf das Wirtschaftswachstum wirkten. Dazu werden in einem Kapitel die Erklärungsfaktoren herausgearbeitet, in einem weiteren das Ganze an Hand des schwedischen Sozialstaats exemplifiziert1 und schließlich in einem dritten Kapitel aufgezeigt, wie sich die oben erwähnten zwei Wirkprinzipien herausgebildet haben, die dafür sorgten, dass die Sozialtransfers das Wachstum kaum behinderten. Abschließend betont Lindert, dass über den Durchschnitt der 21 führenden OECD-Länder von einer Krise oder einer Abschaffung des Sozialstaats nach 1980 keine Rede sein könne und da die beiden Wirkprinzipien nach wie vor wirksam seien, sei dergleichen auch in Zukunft nicht zu erwarten. Jedoch muss hier ergänzt werden, dass die konkrete Gestaltung der Sozialtransfers und der sie tragenden Steuern aber immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden müssen, damit sich seine Prognose tatsächlich bewahrheitet.

Das belegt auch eine quasi als "Zugabe" im zweiten Band noch hinzugefügte Analyse zum Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Arbeitslosigkeit nach 1960 in den OECD-Ländern, deren Arbeitsmarktpolitik und dem resultierenden Wirtschaftswachstum. Vorher werden im zweiten Teil des zweiten Bandes in einzelnen Kapiteln die technischen Details zu einzelnen im ersten Band bereits dargestellten Analysen nachgeliefert. Im ersten Teil des zweiten Bandes wird zunächst das allgemeine theoretische Modell – ausgehend von den den politischen Prozess beeinflussenden Interessengruppen – vorgestellt, das der gesamten Untersuchung zugrunde liegt. In einem weiteren Kapitel wird die Datenbasis kurz vorgestellt und die wichtigsten Zusammenhänge der analysierten Größen aufgezeigt. Zu den der Untersuchung zugrunde liegenden Daten hätte man sich allerdings etwas mehr Angaben gewünscht. Gerade für jemanden, der mit dem deutschen Sozialstaatssystem vertraut und davon betroffen ist, stellt sich beispielsweise die auch andere Länder betreffende Frage, wie steuerfinanzierte von beitragsfinanzierten Leistungen im Detail abgegrenzt wurden. Implizit wird klar, dass Lindert die Beiträge in einem umlagefinanzierten Rentensystem, wie dem deutschen, quasi als Steuern betrachtet. Für die Arbeitslosenversicherung bleibt das eher unklar. Die zugrunde liegenden Daten selbst können – soweit sie nicht im Anhang wiedergegeben werden – auf der Website von Lindert im Wesentlichen abgerufen werden und stehen damit auch weiteren Analysen zur Verfügung, was allein bereits ein Verdienst ist.

Mehr noch liegt hier ein sowohl für die aktuelle Diskussion als auch für die historische Forschung wichtiges Buch vor, dessen Erkenntnisse, wenn auch im Einzelnen nicht alle neu, mitunter überraschen. Insgesamt ist es gut lesbar, wenn auch mitunter Sprünge in der Argumentation darauf verweisen, dass einzelne Teile bereits separat als Aufsätze erschienen waren. Das schmälert den Wert des Buches aber keineswegs und es sei jedem am modernen Wohlfahrtsstaat Interessierten dringend ans Herz gelegt.

Anmerkung:
1 Zu diesem Kapitel gab es inzwischen Widerspruch aus Schweden, auf den Peter H. Lindert wiederum antwortete. Vgl. Bergh, Andreas, Is the Swedish Welfare State a Free Lunch?, in: Econ Journal Watch 3, May 2006, S. 210 235; Lindert, Peter H., The Welfare State Is the Wrong Target: A Reply to Bergh, in: ebenda, S. 236 250.

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